Читать книгу Dreizehn. Die Anstalt. Band 2 - Carl Wilckens - Страница 10

End

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Das Schaukeln des Schiffes ließ mich träumen, in meiner Schlupfkajüte der Swimming Island zu liegen. Ich erwachte in einem Bett. Fernes Meeresrauschen füllte meinen Kopf. Der Schiffsrumpf knarrte und ich hörte das Knacken brennender Holzscheite und das Kratzen eines Füllfederhalters auf Papier.

Ich öffnete die Augen. Das Zimmer lag im Zwielicht. Vorhänge aus dickem Stoff verdeckten das einzige Fenster. Durch einen Spalt fiel ein schmaler Streifen Sonnenlicht, zerschnitt den Raum, das Bett und mich. Staub tanzte durch die Luft.

Mir war entsetzlich warm, ohne dass ich schwitzte. Jemand hatte mir ein Stück Stoff in den Mund gelegt. Ich wollte es aus­spucken und stellte fest, dass es meine Zunge war. Ich versuchte, mich aufzusetzen, war jedoch an den Hand- und Fußgelenken mit dünnen Hanfseilen ans Bett gefesselt.

„Wasser“, flüsterte ich.

Ein Stuhl scharrte. Sekunden später erschien das Gesicht eines Mädchens über mir. Sie wäre hübsch gewesen … nein, in Anbetracht ihres Alters hätte niedlich es eher getroffen. Doch war da zum einen ein Netz schwarzer Linien, das ihre linke Gesichtshälfte überzog. Im ersten Moment glaubte ich, es seien ihre Adern, die durch ihre Haut schimmerten. Doch bei näherem Hinsehen handelte es sich um etwas auf ihrer Haut. Vielleicht eine Tätowierung?

Dann waren da noch ihre Augen, die zu sehr den meinen ähnelten. Sie waren dunkel wie die Nacht. Zudem lag ein Schmerz in ihnen, der nach Jahren der Einsamkeit Wurzeln in ihrem Herzen geschlagen zu haben schien.

„Du bist wach.“ Sie ging zu einem Tisch, wo sie Wasser aus einer Kanne in einen Becher goss. Allein bei dem Klang schlug mein Herz schneller. Sie kehrte zurück und setzte mir das Glas an die Lippen. Gierig trank ich.

„Mehr?“

Ich nickte.

„Entschuldige die Fesseln.“ Das Mädchen goss ein zweites Glas ein. „Ist eine Vorsichtsmaßnahme. Papa meint, du siehst gefährlich aus.“ Sie sprach mit der Stimme eines Kindes und dem Klang einer erwachsenen Frau. Ich leerte das Glas erneut. Anschließend sagte das Mädchen, es werde seinen Vater informieren, und verließ das Zimmer. Während ich wartete, rief ich mir in Erinnerung, was geschehen war. Ich hatte den Zug verlassen und war im Fieberwahn durch Treedsgow gestreift. Zwei Männer hatten mich ausgeraubt. Hatten mir die Waffen genommen, das Geld, das schwarze Perl und das Tagebuch. Anschließend war eine rothaarige Frau gekommen und hatte mir auch noch den Pelzmantel gestohlen. Ich hatte nichts mehr bis auf die Hose, die ich am Leib trug.

Und eine der fehlenden Seiten des Tagebuchs.

Die Erinnerung kam so plötzlich, dass ich vergaß, dass ich gefesselt war. Ich versuchte, in meine Hosentaschen zu greifen. Die Hanfseile spannten sich und schnitten schmerzhaft in meine Handgelenke. Ich knurrte. Unter anderen Umständen hätte ich die Holzstangen, an die ich gefesselt war, einfach herausgerissen. Ich legte mich zurück und starrte an die Decke. Nach einer Weile überkamen mich erneut Hitze und Durst. Durch windende Bewegungen gelang es mir, die Decke von meinem Leib zu schieben.

Das Mädchen kehrte zurück. „Vater kommt gleich“, sagte sie und sammelte kommentarlos die Decke ein. „Solange müssen die Fesseln bleiben.“ Sie fing an, die Decke zu falten.

„Wie heißt du?“

„Amrei. Und du?“

„Godric.“ Ich biss mir auf die Unterlippe. Angesichts der Tatsache, dass man sich bereits Geschichten über mich erzählte, hätte ich ihr wohl besser einen falschen Namen genannt.

„Ich suche ein Stück Papier, das sehr wichtig für mich ist, Amrei. Kannst du in meinen Hosentaschen nachsehen, ob es dort ist?“

„Du meinst das hier?“ Amrei verschwand aus meinem Sichtfeld und tauchte Sekunden später wieder auf. In der Hand hielt sie die Seite von Walkers Tagebuch.

„Ich habe es gelesen“, gestand sie. „Steht ziemlich verrücktes Zeug drin.“ Ich atmete erleichtert aus. „Willst du es lesen?“

„Später. Nachdem ich mit deinem Vater gesprochen habe.“ Kurz herrschte Schweigen. „Kommen deine Eltern aus den Landen?“, fragte ich.

„Wie kommst du darauf?“

„Dein Name klingt nicht dustrisch.“

„Meine Mutter war aus den Landen.“

„War?“

„Sie starb bei meiner Geburt.“

„Genau wie meine.“

„Oh.“

Wieder schwiegen wir.

„Was ist mit deinem Gesicht passiert?“

Amrei berührte flüchtig die schwarzen Linien. „Ich weiß es nicht“, murmelte sie. „Sie waren schon immer da.“

Ich spürte, dass ich einen empfindlichen Nerv getroffen hatte, und wechselte das Thema. „Wie alt bist du?“

„Zwölf. Am vierunddreißigsten Frühlingsmond werde ich dreizehn. Und du?“

„Ich weiß es nicht.“

Amrei sah überrascht drein. „Du weißt es nicht?“

„Vielleicht achtzehn oder neunzehn.“

„Und dein Geburtsdatum?“

„Ich erinnere mich nicht.“

„Kann man sowas vergessen?“

„Ich habe lange Zeit an einem dunklen Ort gelebt.“

Amreis Blick veränderte sich, und ich wusste, dass ich zu viel gesagt hatte. „Wie ist dein Nachname?“

„Ich habe keinen.“

Wieder schwiegen wir. Ich tat so, als ob ich Amreis scharfen Blick nicht bemerkte.

„Wer hat dir Lesen beigebracht?“, fragte ich.

„Mein Opa. Er hat mir auch das Geigenspiel beigebracht. Aber er ist jetzt tot.“

„Wie ist er gestorben?“

„Wir sind überfallen worden. Als er seine Geige nicht hergeben wollte, haben sie ihn abgestochen und ins Meer geworfen.“

„Wie lange ist das her?“

Das Mädchen zuckte mit den Schultern. „Etwa zwei Monate.“

Schritte näherten sich. Einen Augenblick später betrat Alen, der Wirt, das Zimmer. Er trug eine Schürze und wischte sich die Hände mit einem Lappen sauber.

„Wie fühlst du dich?“, fragte er.

„Durstig.“ Alen warf seiner Tochter einen vorwurfsvollen Blick zu.

„Ich hab ihm zwei Gläser Wasser gegeben“, rechtfertigte sie sich.

„Wie dem auch sei.“ Der Wirt griff unter seine Schürze und zog ein Messer hervor. Für einen Augenblick erinnerte er mich an den Metzger Mario. Ich zuckte zusammen, so stark, dass das Gerüst des Bettes hölzern knarrte.

Der Wirt starrte mich an, unsicher, ob er den Hass in meinen dunklen Augen tatsächlich gesehen hatte. „Ich schneid’ die Fesseln jetzt los“, sagte er gequält, als wünschte er sich, es nicht tun zu müssen. Sekunden später setzte ich mich auf und streckte mich, dass meine Knochen knackten. Der Wirt und Amrei starrten mich an.

„Wie lange habe ich hier gelegen?“

„Zwei Viertel“, sagte der Wirt.

„Welches Jahr haben wir?“

Amrei und ihr Vater wechselten einen Blick. „1714“, sagte Alen schließlich. Mein Herz schlug schneller. William hatte das Tagebuch im vergangenen Jahr geschrieben! Kurz herrschte Schweigen, während ich rechnete. Taumondnacht war am 26. Taumond. Also war heute der neunte Frühlingsmond. Der letzte Eintrag in Williams Tagebuch war irgendwann im Ährengold gewesen, also vor etwa fünf Monaten. Zuletzt hatte William Emily in der Nervenheilanstalt Sankt Laplace besucht. Gut möglich, dass sie immer noch dort war.

„Wohlgemerkt hast du hier gelegen, ohne zu zahlen“, bemerkte der Wirt.

„Ich habe kein Geld. Man hat mich ausgeraubt.“

Alen seufzte. „Ich hatte nichts anderes erwartet.“

„Ich werde es dir zurückzahlen.“

„Klar.“ Alen hatte sich offensichtlich damit abgefunden, kein Korn zu bekommen. Amrei reichte mir ein weiteres Glas Wasser.

„Es tut mir leid, Mann, aber wenn du kein Geld hast, musst du hier raus. Ich kann kaum das Schutzgeld zahlen.“

„Schutzgeld? An wen?“

„An Damon und seine Männer. Das Gesinde, das sich in der Kanalisation eingenistet hat.“

„Wer ist dieser Damon?“

Alen zuckte die Achseln. „Er lässt sich nicht blicken. Alle haben Angst vor ihm. Der Anführer der Halsabschneider eben.“

„Verstehe.“ Ich erhob mich und winkte Amrei, damit sie mir die Seite des Tagebuchs gab. Anschließend folgte ich Alen zur Tür. „Weißt du etwas über die Nervenheilanstalt von Treedsgow?“, fragte ich ihn, während wir einen dunklen Flur entlanggingen.

„Sankt Laplace? Nicht viel. Man erzählt sich viele Schauer­geschichten, weiß aber natürlich nicht, was davon wahr ist. Es gibt einen neuen Anstaltsleiter dort. Ein ehemaliger Professor der Universität.“

„Frag Derek“, schlug Amrei vor. „Er weiß immer etwas.“

„Derek kann sicher viel erzählen“, murrte Alen. „Das heißt aber nicht, dass er viel weiß. Ich kann ihn nicht leiden“, fügte er nach kurzem Zögern hinzu. „Die Leute mögen seine Geschichten, aber ich muss sie mir jeden Tag anhören. Er labert viel und weiß wenig. Wiederholt, was er so hört, erfindet so manches dazu und sagt ständig Das weiß keiner.“

„Kommt er jeden Tag?“

„Er lebt hier.“ Alen seufzte. „Die Fleute hat mal ihm gehört. Ich hab sie ihm abgekauft und eingewilligt, dass er auf Dauer hier wohnen darf und drei Mahlzeiten am Tag bekommt. Ich habe die Schulden immer noch nicht abbezahlt. Das schlechteste Geschäft meines Lebens.“ Alen öffnete eine Tür, und ich folgte ihm in den menschenleeren Saal. Amrei blieb im dunklen Flur zurück und schloss die Tür hinter uns. „Da ist er ja schon.“

„Was tut er?“ Derek spähte durch eine Tür hinterm Tresen.

„Rumlungern. Er will wissen, ob das Mittagessen fertig ist.“ Mit erhobener Stimme fuhr der Wirt fort: „Geduld, Derek. Gegessen wird wie immer um zwei.“ Derek zuckte zusammen, als hätte man ihn bei etwas Verbotenem ertappt. Er sah mich und seine Miene hellte sich auf.

„Hallo, mein Freund“, rief er. „Hast du dich gut erholt?“ Er schlenderte um den Tresen herum. „Derek, bring unserem Gast doch auch eine Suppe. Ich zahle.“

„Glückwunsch“, murmelte der Wirt mir zu. „Du hast gerade eine Gratismahlzeit gewonnen. Dafür wirst du dir sein Gelaber anhören müssen.“ Alen verschwand durch die Tür hinterm Tresen. Derek und ich ließen uns an einem der Tische nieder. Der Seemann lehnte sich zurück und faltete die Hände über dem Bauch.

„Wie heißt du, Fremder?“

„Albert.“ Die Erinnerung an den Namen meines Vaters war in just dem Moment zu mir zurückgekehrt. Albert End. Falls Amrei etwas anderes behauptete, würde ich es einfach abstreiten.

„Wo kommst du her, Albert? Du siehst aus wie ein schlimmer Finger. Bist du auch aus Fort New Port geflohen?“

„Ich komme aus dem Landesinneren“, log ich. „Ich bin Söldner. Vor einiger Zeit erhielt ich einen Brief von meiner Schwester.“ Ich winkte mit der Seite des Tagebuchs. „Sie hatte einen Unfall und wäre fast gestorben. Fälschlicherweise hat man sie des Selbstmordversuches bezichtigt und nach Sankt Laplace gebracht.“ Alles an mir, von meinem Haarschnitt bis zu meinen abgewetzten Stiefeln, sprach dafür, dass etwas an der Geschichte nicht stimmte. Doch Derek hatte sein Stichwort vernommen.

Er sog zischend die Luft ein. „Sankt Laplace? Eieiei.“ Er wartete wohl darauf, dass ich fragte, was er meinte. Als ich schwieg, fuhr er fort: „Die Nervenheilanstalt ist ein schlimmer Ort. Es gibt einen neuen Anstaltsleiter, einen Hirnforscher aus der Universität, der schlimme Dinge mit den Patienten anstellt.“

„Was denn für Dinge?“

„Das weiß keiner.“ Ich begriff schnell, was Alen gemeint hatte. Derek klang, als wüsste er genauestens Bescheid. Hätte ich nicht gehört, wie er völlig falsche Tatsachen über mich verbreitete, hätte ich ihm vielleicht geglaubt. „Deine Schwester ist nicht die Erste, die unrechtmäßig dorthin gebracht wurde. Sie brauchen stets neues … Übungsmaterial.“ Derek zeigte ein dümmliches Lächeln, das er wohl geheimnisvoll glaubte.

„Woher weißt du das?“ Die Tür hinterm Tresen ging auf und eine Küchenhilfe mit zwei dampfenden Schalen in den Händen betrat rückwärts den Saal.

„Jeder weiß es“, entgegnete Derek.

„Aber keiner unternimmt etwas dagegen?“, fragte ich, während die Küchenhilfe zunächst die Schalen vor uns abstellte und dann zwei Löffel aus ihrer Schürze fischte.

„Was sollte man schon unternehmen?“, fragte Derek, schöpfte einen Löffel Fischsuppe und blies darauf. „Die Anstalt ist eine Festung. Schwer bewacht und umgeben von einer Mauer. Zum Schutz der Insassen, behaupten sie natürlich.“

„Und der Bürgermeister?“

„Hat keinen blassen Schimmer“, schmatzte Derek. „Sitzt ja hinter seiner eigenen sicheren Mauer.“

„Mauer?“

„Weißt du es nicht? Er hat eine Mauer um das Universitätsviertel bauen lassen, als immer mehr Flüchtlinge und Verbrecher kamen.“ Die Küchenhilfe betrat abermals den Saal und legte je einen Brotkanten neben unsere Teller. Auch ich nahm den Löffel zur Hand und begann zu essen. Die Suppe war gut; heiß und schmeckte stark nach Pfeffer.

„Hast du die Anstalt mal gesehen?“, fragte ich in der Hoffnung, Fakten aus Derek herauszubekommen.

„Nur aus der Ferne“, meinte Derek und tunkte sein Brot in die Suppe. „Sie liegt nördlich der Stadt auf einer Anhöhe.“ Er biss von dem Brot ab und rief mit vollem Mund zum Tresen: „Helen! Bring mir und meinem Freund doch ein Bier.“

„Kein Bier“, entgegnete ich.

Derek hob die Brauen. „Kein Bier?“

„Ich habe schlechte Erfahrungen mit Alkohol“, log ich. Derek musste ja nicht wissen, um welche Droge es sich wirklich handelte.

„Ein Söldner, der keinen Alkohol trinkt“, brummte er. „Hat man sowas schon gesehen?“

„Kein Bier für Albert“, sagte er zu der Küchenhilfe Helen, als sie wenig später zwei Krüge auf den Tisch stellte. „Schütte das hier zurück ins Fass und bring ihm Wasser.“

„Kann man die Patienten besuchen?“, fragte ich, sobald Helen gegangen war.

„Das weiß keiner“, meinte Derek und trank einen Schluck Bier. „Aber du willst da auch gar nicht rein.“ Und er fing an zu erzählen. Von Experimenten am menschlichen Hirn. Von Geschrei, das nachts zur Stadt herüberwehte und einem selt­samen blauen Licht in einem der Türme der Anstalt. Von Männern und Frauen, die dorthin verschleppt worden sind („Genau wie deine Schwester!“) und von Ausbrüchen der Patienten. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu und aß meine Suppe. Ich wollte mir sobald wie möglich selbst ein Bild von der Anstalt machen. Doch im Moment konnte ich es kaum erwarten, allein zu sein, um endlich die Tagebuchseite zu lesen. Vielleicht enthielt sie einen Hinweis über Emilys Aufenthalt.

„Ich muss gehen“, sagte ich, als ich den Teller geleert hatte, und erhob mich. „Danke für die Mahlzeit, Derek.“

„Es ist kalt draußen“, meinte Derek und musterte meinen nackten Oberkörper.

„Danke“, wiederholte ich bloß. Der Seemann nickte, und ich verließ die Taverne.

Verglichen mit der Kälte im Zugwagon war es ein milder Tag. Der Schnee war geschmolzen. Ein sanfter Wind wehte und trug den Geruch des Frühlings heran. Der Himmel war klar, von wenigen Wolkenfetzen abgesehen. Die Sonne wärmte meine Haut und tränkte die Meeresoberfläche in grünes Licht. Das Rauschen von Wind und Wellen und das Knattern der Segel übertönten jeglichen Laut aus Richtung der Promenade. Nur dann und wann waren Kinder zu hören, die Glocke eines fahrenden Händlers oder die Rufe von Männern, die Kisten durch den Hafen trugen.

Ich ließ mich auf einem Fass neben dem Eingang der Taverne nieder und holte die Tagebuchseite hervor, die ich zusammengefaltet in die Hosentasche gesteckt hatte. Ich faltete sie ausei­nander und fing an zu lesen.

Dreizehn. Die Anstalt. Band 2

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