Читать книгу Dreizehn. Die Anstalt. Band 2 - Carl Wilckens - Страница 9

End

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Nach nur wenigen Schritten gelangte ich vor eine Tür. Sie hatte kein Schloss, diente allein dazu, den Wind auszusperren. Wärme sickerte durch die Ritzen zusammen mit einem würzigen Geruch, einer Mischung aus Rauch, Schweiß und Suppe. Ich vernahm leises Stimmengewirr und – deutlicher als den Rest – die Stimme eines Mannes.

„Raven hatte seine fünf besten Männer geschickt, um ihn zur Strecke zu bringen. Sie kamen in der Nacht. Fünf Schatten mit langen Messern, die im Mondlicht blitzten, umringten Ends Nachtlager.“ Ich verharrte. „Sie hoben die Waffen und stachen auf die Decken ein.“ Jemand keuchte. „Aber End war vorbereitet. Während seine Mörder auf einen Sack Kartoffeln einstachen …“ Der Erzähler machte eine dramatische Pause.

„… schlich er sich davon“, beendete jemand den Satz.

„Das hätte er tun können. Doch End mied keinen Kampf, denn er gewann sie alle.“

„Natürlich! Er hat einen Bären mit bloßen Händen getötet.“

„Keinen Bären, Dummkopf. Niemand tötet einen Bären mit bloßen Händen. Nicht einmal End. Nein, er hat einen Mann getötet, den man den Bären nannte. Einen Piraten aus Ravens Mannschaft. Er war über zwei Meter groß gewesen, hatte Arme und Beine wie Baumstämme und spitz gefeilte Zähne. Er aß mit Vorliebe rohes Menschenfleisch und selbst Raven fürchtete sich vor ihm.“

Unter anderen Umständen hätte ich wohl noch länger den falschen Tatsachen gelauscht. Rückblickend erscheinen sie mir höchst unterhaltsam. Doch es fehlte nicht mehr viel, bis ich endgültig erfror. Ich schob die Tür auf. Feuchtwarme Luft schwappte mir entgegen, und ich betrat den Saal. Die Gespräche verstummten. Die Gesichter aller wandten sich mir zu. Nur das Knacken eines Feuers und ein brodelnder Kessel waren zu hören. Ich schlurfte am Tresen vorbei zu einem freien Tisch in der Ecke des Saals. Ich ließ mich auf einer Holzbank nieder, schloss für einen Moment die Augen und genoss das Gefühl meiner tauenden Glieder. Murmeln setzte ein. Zweifellos sprach man über mich. Fragte sich, ob ich gefährlich war, groß und schlank und muskulös wie ich war, vernarbt und bärtig und halbnackt. Und gewiss fragte man sich, wie lange ich noch leben mochte. Ich blutete aus der Wunde an meiner Stirn und dem Schnitt, den Dave mir zugefügt hatte. Meine Haut war blau, meine Augen gerötet, meine Bewegungen kraftlos. Eiskristalle funkelten in meinem Bart.

„Guten Abend, Fremder. Ich bin Derek.“

Die Stimme gehörte zu dem Geschichtenerzähler. Ich musste wohl kurz eingenickt sein. Ich hatte nicht bemerkt, dass er gekommen war.

„Woher kommst du?“

Ich öffnete die Augen. Mir gegenüber saß ein Mann mittleren Alters. Er hatte schütteres Haar und einen braunen Stoppelbart, den das Alter stellenweise grau färbte. In der Hand hielt er einen Humpen. Er war Seemann oder war zumindest mal einer gewesen. Woran ich das ausmachte, kann ich nicht sagen. Es ist der Blick eines Menschen, der sich verändert, wenn man einmal mehrere Monate lang auf See gewesen ist.

Als ich nicht antwortete, hob der Mann die Brauen. „Geht es dir gut, Mann?“ Statt einer Antwort fing ich an zu husten. „Alen! Bring ihm eine Suppe“, rief Derek. An mich gewandt fuhr er fort: „Ganz ruhig, Mann. Wir kümmern uns um dich.“

Der Wirt namens Alen stellte eine dampfende Schüssel vor mir ab und legte einen Löffel daneben. Mit tauben Fingern fing ich an zu essen. Ich spürte jeden einzelnen Schluck der fettigen Suppe meine Kehle hinunterrinnen bis in den Magen, wo sie mich von innen heraus wärmte. Derek wartete stumm.

„Einen wie dich habe ich hier noch nie gesehen“, sagte er, als ich die Schüssel geleert hatte. „Ich habe gerade eine Geschichte zum Besten gegeben. Habe versucht, meinem Publikum Angst einzujagen. Und dann kommst du herein und siehst gefährlicher aus, als man es mit Worten beschreiben könnte. Es treibt sich schlimmes Pack in Treedsgow herum, aber du übertriffst sie alle.“

„Woher kommen sie?“ Meine Stimme war ein heiseres Flüstern.

„Flüchtlinge vom Festland. Die Versprochene des Prinzen der Landen ist ermordet worden. Keiner weiß, wie es passiert ist. Aber der Prinz glaubt, es sei auf Geheiß des tarmonischen Monarchen geschehen und hat dem tarmonischen Reich den Krieg erklärt. Nun fordert er bei Gothin seine Schuld von 1644 ein.“ Derek trank einen Schluck Bier. „Aber richtig übel wurde es erst seit dem Beben. Kennst die ehemalige Festung Fort New Port? Dort sperrte man die ganz schlimmen Finger ein. Vor einiger Zeit gab es ein Erdbeben und die Mauern des Forts sind eingestürzt. Und rate mal, wohin es die ganzen Verbrecher, die jetzt auf freiem Fuß sind, verschlägt.“

„Treedsgow“, sagte ich.

Derek nickte nach einem weiteren Schluck Bier. „Genau! Das Geld zieht die Flüchtlinge an. Und die Flüchtlinge die Verbrecher. Hier können sie untertauchen. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Treedsgow ist berühmt für sein Kanalisationsnetzwerk. Einst hat es uns den Titel der saubersten Stadt Dustriens verliehen. Nun dient es den Verbrechern als Zuhause.“ Derek musterte mich einen Moment lang. Dann rief er, ohne den Blick abzuwenden: „Alen! Bring meinem Freund ein Bier auf meinen Deckel.“

„Kein Bier.“ Auf der Swimming Island hatte ich mir angewöhnt, keinen Alkohol zu trinken. Es war überlebenswichtig gewesen, ständig auf der Hut zu sein. Ein Bier konnte der Grund sein, warum der Instinkt dich nicht weckte, wenn die Meuchler kamen. Ich erhob mich. Augenblicklich wurde mir schwindelig. Ich wankte, lehnte mich an die Wand und glitt an ihr herab. Wieder packte mich ein Hustenanfall, dass mir die Augen tränten. Mein Magen krampfte sich zusammen und ich erbrach die Suppe. Ich bekam gerade noch mit, wie ich über der Pfütze meines eigenen Mageninhalts zusammenklappte, ehe ich das Bewusstsein verlor.

Dreizehn. Die Anstalt. Band 2

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