Читать книгу Dreizehn. Die Anstalt. Band 2 - Carl Wilckens - Страница 6

Blackworth

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Stille. Der Abend war angebrochen und die Hunte fuhren nicht mehr. Die Arbeiter hatten ihre Werkzeuge niedergelegt und die Förderbrücken abgeschaltet. Die Rauchwolken über den Schornsteinen verblassten allmählich. Sonnnacht war seit Beginn des Bürgerkriegs der einzige Tag des Viertels, an dem nicht gearbeitet wurde. Als wolle auch er dieser Tradition gerecht werden, stellte der Himmel den Regen ein.

Zellenblock 13 schwieg. Es war ein mehrstimmiges Schweigen, das sich nach dem Mord, der auf dem Zellengang geschehen war, zu den Insassen gesellt hatte. Da waren Männer, die genugtuend schwiegen. Ends Stärke und Grausamkeit, sie waren der Grund dafür, dass er zur Symbolfigur des Bürgerkriegs geworden war. Ihretwegen verspürten sie Hoffnung. Denn die an Grausamkeit grenzende Ungerechtigkeit des Bergmannsadels konnte nur mit ebensolcher bekämpft werden. End mochte behaupten, er habe stets seine eigenen Interessen verfolgt. Aber solange er gegen den Schwarzen Baron kämpfte, so dachten sie, kämpfte er auch für die Interessen des Arbeiters.

Dann waren da Männer, die erwartungsvoll schwiegen. End war zu weit gegangen. Sie fragten sich, welche Konsequenzen sein Verhalten haben würde. Würde der Leiter von Blackworth die Ankunft des Schwarzen Barons überhaupt noch abwarten? Oder würde er End an Ort und Stelle exekutieren? Das würde den Schwarzen Baron zornig stimmen, zweifellos, aber war die Angst vor ihm größer als vor End? Was würde End tun? Ihr Held, der gefangen genommen worden war. Der vergessen zu haben schien, warum er die Arbeiter einst wirklich angeführt hatte. Würde er zu sich selbst zurückfinden, wenn man ihn dazu zwang? Wenn ihm der Tod drohte? Oder würde er einfach sterben und damit den Krieg für den Schwarzen Baron entscheiden?

Die restlichen Männer schwiegen ängstlich. Dieser Mann, der behauptete, End zu sein, war nicht der Held, den sie sich ausgemalt hatten. Sie hatten von ihm gehört. Dass er die Barone in Angst und Schrecken versetzte. Dass er selbst angesichts einer Hundertschaft Soldaten einen kühlen Kopf bewahrte. Und ja, dass er bisweilen grausam war. Er kämpfte wie eine Bestie. Er verlieh den Männern an seiner Seite Mut. Männern, die nie eine Waffe geschwungen, nie mit einem Eisen gefeuert hatten, gab er den Willen, die Soldaten der Königin zu töten. Sie hatten gewusst, dass er vor der Revolution ein Schurke gewesen war. Viele hatten an seinen Absichten gezweifelt, aber für die meisten war er stets ein Mann mit Idealen gewesen. Jemand, der zum Verbrecher geworden war, weil er das Spiel der Barone nicht länger hatte mitspielen wollen. Und war nicht jeder aufständische Arbeiter in den Augen der Barone ein Verbrecher? Aber nach allem, was sie hier gehört hatten, fürchteten sie sich. Nicht vor End, sondern davor, dass alles, woran sie geglaubt hatten, eine Lüge war.

Während der Wind immer stärker wehte, wurde den Insassen von Zellenblock 13 klar, dass heute niemand mehr kommen würde. Ein Aschesturm zog auf. Wer nicht an einer Lungenvergiftung sterben wollte, saß dieses Wetterphänomen bei geschlossenen Fenstern und Türen zu Hause aus. Auch die Insassen trafen entsprechende Maßnahmen. Sie banden sich Stoffstreifen vor Münder und Nasen. Jene, die ein Fenster hatten, verhängten es mit ihren Hemden. So auch End. Immer noch schwiegen die Insassen. Erst als der Sturm an Fahrt aufnahm, gaben sie Laute von sich: Sie husteten.

Die Insassen legten sich auf ihre Pritschen, schlossen die Augen und versuchten zu schlafen. Versuchten, den Geruch nach Feuer in der Luft und das Husten zu ignorieren. Versuchten zu ignorieren, dass am anderen Ende des Zellengangs eine Leiche lag. Nur End blieb wach und wartete auf das Ende des Sturms. Nachdem der Wind verstummt war, erhob er sich und zog sein Hemd wieder an. Silbernes Mondlicht fiel in seine Zelle. Der Himmel war so klar, wie schon lange nicht mehr. Aus den Augenwinkeln bemerkte er eine Bewegung. Rutter war erwacht und sah zu ihm.

„Ist dir nie aufgefallen, dass es nur noch wenige Sterne gibt?“, fragte End, ohne zurückzublicken. Der Sänger schwieg.

„Nein?“, fuhr End fort. „Aber den Riss hast du bemerkt …“ In dieser ungewöhnlich klaren Nacht war er besonders gut sichtbar. Eine mondsilberne Linie, die über den Himmel verlief wie ein Riss in Glas. Angeblich war ein Splitter des Himmels auf die Erde gefallen, als er entstanden war, und hatte ein ganzes Dorf unter sich zermalmt. „Es ist eigentlich so offensichtlich“, seufzte End. „Aber das Ende der Welt kommt wohl zu plötzlich. Wir glauben nicht, dass es passieren wird, weil wir es nicht glauben wollen. Hinzu kommt die Angst, dass man uns auslachen könnte. Uns für verrückt erklären könnte. Und nicht zuletzt beschäftigen uns andere Dinge. Geld. Kriege. Hass.“ Er seufzte noch einmal. „Ich bin müde.“ Er stand auf und ging zu seiner Pritsche. Legte sich darauf, kehrte Rutter den Rücken zu und verfiel in Schweigen.

Am nächsten Morgen betrat Jacob Raysome, der Leiter von Blackworth, in Begleitung dreier schwer bewaffneter Soldaten Zellenblock 13. Raysome trug einen billigen Frack, was er wohl durch eine Taschenuhr aus falschem Gold zu kaschieren versuchte. Er hatte sich der Mode entsprechend Koteletten und einen Schnurrbart stehen lassen. Wäre er einer Gruppe aufständischer Arbeiter begegnet, er wäre wohl allein für sein Aussehen massakriert worden. Er warf dem Leichnam des Essensausgebers einen angewiderten Blick zu, während er mit eingezogenem, dickem Bauch an ihm vorbeiging. Vor Ends Zelle außerhalb der Reichweite seiner Hände blieb er stehen. Er musterte seinen Gefangenen nachdenklich, als wüsste er noch nicht, wie er mit ihm verfahren solle; geradeso, als hätte er für die Entscheidung nicht die ganze Nacht lang Zeit gehabt. End würdigte ihn keines Blickes.

„Gefangener End“, sagte der Leiter schließlich gedehnt. „Du wirst in Einzelhaft verlegt. Bis der Schwarze Baron hier eintrifft, kommst du in einer Zelle im Keller unter. Deine Mahlzeiten werden von dreimal täglich auf zweimal reduziert. Und …“ Der Leiter lächelte. „… ich werde den Schwarzen Baron persönlich bitten, dir ein besonders grausames Ende zu bereiten.“ Wütendes Summen ging durch die Zellen von Block 13. Der Sänger hielt die Luft an. Begriffen seine Genossen nicht, was das bedeutete? End trug keine Handschellen mehr. War Raysome wirklich so dumm und würde seine Zelle öffnen? Auch End konnte es offenbar nicht glauben. Erst als der Leiter mit einem Schlüsselbund klimperte, blickte er auf und erhob sich.

„Zurück, Gefangener“, befahl Raysome. „Mit dem Gesicht zum Fenster und die Arme hinter dem Kopf verschränken.“

End gehorchte, ohne zu widersprechen. In dem Moment, da er sich umdrehte, glaubte Rutter ein Licht in seinen Augen zu sehen. Ein violettes Leuchten wie Amethyste im Sonnenlicht. Auch Raysome schien es bemerkt zu haben. Er ließ den Schlüssel sinken. Die Soldaten warfen einander fragende Blicke zu.

„Ich sollte vielleicht kein Risiko eingehen“, murmelte der Gefängnisleiter verunsichert. „Solange End hinter Schloss und Riegel ist, kann er nicht entkommen. Das hat oberste Priorität.“ End wandte sich um. In seinem Blick lag keine Enttäuschung, sondern Spott. „Wir werden dich stattdessen aushungern lassen“, knurrte Raysome, dem der Ausdruck auf Ends Gesicht nicht entgangen war. „Beiße nie die Hand, die dich füttert.“ Ends spöttischer Blick folgte ihm, während er zurück durch den Zellengang ging.

„Gebt in der Küche Bescheid“, sagte Raysome, „und kümmert euch um den hier“, fügte er hinzu und wies kopfnickend auf den Toten, als er sich dieses Mal an ihm vorbeizwängte. Die Soldaten folgten ihm, wobei sie den Leichnam und den Kessel mitnahmen. Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss.

„Ich hasse sie, weil sie mich einsperren. Sie sind nicht der wahre Feind, aber ich hasse sie. Niemand sperrt mich wieder an einen Ort ohne Tageslicht. Wenn sie meine Zellentür öffnen, werde ich sie töten.“

In diesem Moment fing einer der Insassen an, unkontrolliert zu husten.

„Geht es dir gut, Junge?“

„Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst mich Ronald nennen?“, fragte der Junge heiser. „Ich bin kein Kind mehr. Ich bin dein Genosse und als solcher will ich sterben.“

„Es ist nur ein bisschen Husten“, entgegnete der Mann in der Zelle gegenüber von Ronald.

„Ich huste Blut, Arwin.“

„Das bedeutet nichts.“

„Es ist schwarz.“

Arwin schwieg schockiert.

„Ich habe Teerhusten und ich werde in dieser Zelle ver­strecken. Erweise mir die Ehre und nenne mich Genosse.“

„Du wirst nicht sterben“, sagte Arwin. Verzweifelte Wut lag in seinen Worten. „Ich lasse nicht zu, dass mein Genosse so stirbt.“

„Danke“, flüsterte Ronald. Betretenes Schweigen kehrte ein.

Nach einer Weile räusperte sich der Sänger. „Uns bleibt eine Stunde, bis sie das Frühstück bringen“, sagte er und warf eine Zigarette in Ends Zelle. „Wenn du jetzt anfängst, teile ich meine Portion mit dir.“

„Lass nur“, sagte End. „Wenn sie dich erwischen, werden sie dich vermutlich erschießen. Außerdem ist Hunger ein alter Freund von mir.“ Er hob die Zigarette auf, zündete sie an und nahm einen Zug. „Wo war ich stehen geblieben?“

Dreizehn. Die Anstalt. Band 2

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