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Im Verwunschenen Tal

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Der Abend senkte sich herab. Die Grillen zirpten, und ein Rotkehlchen verkündete zwitschernd das Ende eines weiteren Tages des immerwährenden Frühlings. Der Geruch nach feuchter Erde hatte sich verändert. Er roch wie Morgentau. Wie Geborgenheit und Frieden. Hasen grasten auf einer Blumenwiese, ein Fuchs trank aus einem gluckernden Bach und überall im Unterholz des Waldes raschelte und quiekte es. Die Bewohner des Tals waren schon eine Weile nicht von jener dürren Gestalt gestört worden, die die Angst wie einen unsichtbaren Mantel um ihre Schultern trug.

Der Marionettenmann hatte fast alle Essensvorräte aufgebraucht. Er hatte seine Hütte seit mehreren Tagen nicht verlassen – er wusste selbst nicht, seit wie vielen. Er stand vor dem Tisch und stützte sich mit den Händen an der Kante ab. Seine Augen juckten vor Müdigkeit; insbesondere das rechte ließ ihm keine Ruhe. Vor ihm lagen die Splitter des Zauberspiegels wie ein abstraktes Puzzle. Lia, einer seiner Schrumpfköpfe, sang indessen ein langsames Lied. Obwohl sie keine Kehle mehr hatte, war ihre Stimme immer noch so schön wie zu der Zeit, bevor er sie vergiftet hatte. Sie hätte ihm diese Abfuhr besser schonend beigebracht. Ihr Gesang füllte die Gedanken des Marionettenmannes, der mit dumpfem Blick auf die Stelle des Mosaiks starrte, an der ein winziger Splitter fehlte. Er blies resigniert die Wangen auf und rieb sich die Augen. Ohne diesen Splitter konnte er den Spiegel nicht in seinen ursprünglichen Zustand versetzen. Er suchte schon seit Tagen danach. Hatte die strohgefüllte Matratze seines Bettes umgekrempelt, den Hüttenboden systematisch mit bloßen Händen abgewischt und sogar seine eigene Kleidung unter die Lupe genommen. Der Splitter schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Konnte er durch die Wucht des Projektils zu Staub zermalmt worden sein? Der Marionettenmann hob den Kopf und sah aus dem Fenster. Der Himmel färbte sich allmählich tiefblau. Die Luft im Tal war klar und hoch oben blinkten so viele Sterne, dass es schien, als könne man bis ans Ende des Universums sehen. Vielleicht war es an der Zeit, ernten zu gehen. Die Nachtluft würde seine Gedanken klären. Der Zauberspiegel war einzigartig. Er war mächtig und vermutlich mehr wert als ein Stein der Weisen. Der Marionettenmann wäre wahrscheinlich den Rest seines Lebens damit beschäftigt, wollte er einen neuen erschaffen. Das Schlimmste aber war, dass er dem Wurmgott gehörte. Wenn er zurückkehrte – das nächste Mal, wenn die Straße, über der keine Sterne leuchteten, durch sein Tal führte – würde er ihn grausam bestrafen. Der Gott der Würmer war immer grausam zu ihm.

„Warum ist er mein Gott?“, fragte der Marionettenmann sich selbst. „Ich bin kein Wurm.“

„Im Vergleich zu ihm ist jeder ein Wurm“, sagte Carl von seinem Platz hoch oben im Regal. Der Marionettenmann zuckte zusammen. Hatte er laut gedacht? Es wurde Zeit, dass er ging. Eilig suchte er alles, was er für die Ernte brauchte: eine Sichel, ein Messer, einen Kescher, eine Zange, eine magische Flöte, verschiedene Zaubertränke, mehrere Gläser in unterschied­lichen Größen und seinen Beutel. Wenig später fiel die Tür seiner Hütte hinter ihm ins Schloss. Der Marionettenmann blähte die Nasenflügel und sog die kühle Abendluft ein. Er roch den Frieden und seine Laune sank.

Auf der Blumenwiese hoben die Hasen alarmiert die Köpfe und flüchteten in ihren Bau. Auch der Fuchs hob den Blick und huschte durch das Unterholz davon. Die Grillen verstummten. Das Rotkehlchen schwieg.

Der Marionettenmann atmete erneut ein. Schnupperte die Angst. Seine Mundwinkel hingen nun nicht mehr ganz so weit herunter, was man bei ihm wohl als Lächeln werten konnte. Er war kaum drei Schritte weit gegangen, als er sich erneut das juckende Auge rieb und jäh begriff, wo der fehlende Splitter war.

Dreizehn. Die Anstalt. Band 2

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