Читать книгу Dreizehn. Die Anstalt. Band 2 - Carl Wilckens - Страница 14

Die Ratte und der Bär

Оглавление

„Was ist das?“ Die Ratte rollte die schwarze Perle, die sie dem verwahrlosten Mann abgenommen hatten, zwischen Daumen und Zeigefinger und musterte sie mit kindlicher Neugier.

„Eine Perle“, meinte der Bär. „Die Dinger findet man in Muscheln. Steck sie zurück in den Beutel, sonst lässt du sie noch fallen und sie verschwindet im Kanal.“

„Ja, Dave.“ Die Ratte schulterte den Beutel, der ihre jüngste Beute enthielt, und beschleunigte ihre Schritte, um zu dem Bären aufzuschließen.

Sie befanden sich auf dem Gehsteig am Rande eines breiten Kanals unterhalb der Straßen von Treedsgow. Das Wasser floss träge dahin. Es roch nach Fäkalien. Dann und wann würgte ein Rohr glucksend Brühe ins Wasser, das dem Sithwell abgezweigt wurde. Weiter hinten, wo der Kanal ins Meer mündete, verengte er sich. Die Strömung wurde schneller und das ferne Rauschen tönte durch die unterirdischen Gänge.

„Zum Markt geht’s hier lang, Dave.“ Die Ratte deutete in einen abzweigenden Kanal, den der Bär soeben passiert hatte.

„Bist du verrückt? Da lauern die Barnard-Brüder. Lieber würde ich in den Rattensumpf gehen, als diesen Arschlöchern noch einmal in die Falle zu laufen.“

„Ja, Dave“, antwortete die Ratte. Der Rattensumpf war ein Komplex aus Gängen, der unterhalb der Kanalisation verlief. Dort war es finster. Außerdem lebte ein Wesen dort, von dem niemand so recht wusste, was es war. Obwohl man sich erzählte, es könne weder Formen noch Farben sehen, sah es wohl die Auren von Menschen. Und Blut, solange es warm war.

Die Ratte und der Bär kannten bloß Geschichten über das Wesen und nannten es nur das Etwas. Damon, ebenfalls ein Entflohener aus Fort New Port, der sich selbst zum Anführer der Banditen ernannt hatte, bestrafte gerne solche, die nicht nach seinen Regeln spielten, indem er sie durch einen Schacht in den Rattensumpf herunterließ. Bislang war keiner zurückgekehrt.

Die Ratte und der Bär passierten den Kanal und bogen stattdessen in den nächsten abzweigenden Tunnel ein. Nach einem Dutzend Schritten mündete er in einen der Hauptkanäle. Wie schon vier andere hatten die Verbrecher diesen hier trockengelegt. Sie hatten sowohl die Hauptschleusen, die Wasser aus dem Sithwell hierher leiteten, geschlossen, als auch die Rohre für die Fäkalien verstopft. Dass nun die Scheiße aus den Toiletten so manch eines Bürgers von Treedsgow lief, interessierte sie herzlich wenig.

Entlang der Kanalwände standen Buden, Holz- und Blechhütten. Neben den blassen Sonnenstrahlen, die durch die Kanalschächte hereinfielen, spendeten Ölfunzeln und Fackeln an den Hütteneingängen schummriges Licht. Der Gestank nach Fäkalien wurde hier von dem Geruch nach Armut abgelöst: nach verbranntem Essen und Abfall, nach Schweiß, Pisse und Rauch. Statt Wasser füllte Stimmengewirr den Kanal. Und Musik.

Als sie ans Ende des Marktes gelangten, wurde es dunkler. Nur das stete Tropfen und Fiepen der Ratten war zu hören. Nach kurzer Zeit versperrte ein Gitter den Weg. Nachdem der Bürgermeister von Treedsgow eine Mauer um das Universitätsviertel hatte errichten lassen, hatten sich Dutzende Einwohner durch die Kanalisation ins Zentrum der Stadt geschlichen. Bald darauf war auch ein Durchkommen durch die Kanäle unmöglich geworden.

„Gib mir mal die Machete.“

Die Ratte griff in den Beutel und reichte dem Bär die Waffe. Der Hüne schlug mehrmals mit dem Knauf gegen das Gitter. Die Schläge verhallten in der Finsternis.

„Wo bleibt er denn?“, knurrte der Bär. Wie zur Antwort auf seine Frage löste sich ein Mann aus der Finsternis. Er war groß und hager und wirkte in seinem Sakko mit doppelter Knopfreihe, dem Gehstock und der Kreissäge auf seinem Kopf mehr als fehl am Platz. Auf der Nase trug er eine Brille, den Schnurrbart schien er mit Hilfe einer Schablone zu stutzen. Seine blauen Augen blickten kalt, berechnend.

Die Augen des Bären hingegen wirkten umso dumpfer. „Wir haben was für dich, Schlaumeier.“Auf seinen Wink hin reichte die Ratte ihm den Beutel und der Bär warf ihn vor die Füße des Mannes. Der Hagere hob ihn auf und brachte nacheinander das Diebesgut zum Vorschein. Die Pistole und das Messer würdigte er keines Blickes und legte sie gleich beiseite. Im Tagebuch blätterte er eine Weile. Zur offensichtlichen Enttäuschung des Bären legte er es ebenfalls weg. Als der Hagere den Ring herausfischte, stutzte er. „Ein Siegelring? Habt ihr einen Mann aus dem Bergmannsadel überfallen?“ Er musterte die Ratte und den Bär ungläubig. Die beiden tauschten beunruhigte Blicke. „Das könnte Ärger geben.“ Die Stimme des Hageren hätte nicht weniger besorgt klingen können. Er legte auch den Siegelring weg und griff ein letztes Mal in den Beutel.

„Was ist das?“ Er hielt die Perle hoch und betrachtete sie im fahlen Licht, das durch einen Kanalschacht fiel. „Ich gebe euch zwanzig Liberty für die Perle“, sagte er.

„Zwanzig?“, brauste der Bär auf. „Sei froh, dass du hinter diesem Gitter stehst, Arschloch, sonst würde ich …“

„Ich möchte sie im Labor untersuchen“, fuhr der Hagere ihm dazwischen. „Wenn sie mehr als nur eine Perle ist, zahle ich euch beim nächsten Treffen was drauf.“ Der Bär zögerte. „Es ist doch nur irgendeine schwarze Perle, die nicht einmal ein Loch hat, an dem man sie auffädeln könnte. Mehr als zwanzig Liberty zahlt euch niemand.“

„Woher willst du das wissen?“

Der Hagere lächelte milde. „Ich bin der Schlaumeier. Schon vergessen?“

Der Bär knirschte mit den Zähnen. „Her mit den zwanzig Liberty. Und ich warne dich, Schlaumeier. Falls du versuchst, mich zu verarschen, wirst du es bereuen.“

Der Hagere nahm die leere Drohung wortlos hin, steckte Ends Habseligkeiten und das Geld in den Beutel und warf ihn zurück durch das Gitter. „Bis dann“, sagte er, fasste sich an den Hut und verschwand.

„Gehen wir“, brummte der Bär. „Ich kauf mir von dem Geld eine Hure. Den Rest darfst du behalten.“

„Ja, Dave.“ Sie folgten dem Gang zurück zum Markt. Während der Bär nach einem Imbiss Ausschau hielt, drehte die Ratte den Siegelring zwischen den Fingern.

„Glaubst du, wir könnten wirklich in Schwierigkeiten stecken, weil …“ Weiter kam er nicht, weil er in just dem Moment stolperte und der Länge nach in den Dreck stürzte. Der Ring flog ihm aus der Hand.

Der Bär lachte auf. „Hast du das Laufen verlernt, du Volltrottel? Steh auf!“

„Was ist das?“ Der Bär wandte sich um. Ein Mann hatte den Ring aufgehoben und betrachtete die Initialen. „Ein Siegelring?“ Der Bär schluckte. Der Mann trug ein rotes Halstuch: Er gehörte zu Damons Gardisten. Das bedeutete Ärger. „Habt ihr einen Adeligen überfallen?“

„Nein“, sagte der Bär hastig. „Irgendein Herumtreiber hatte ihn bei sich. Er muss ihn einem Adeligen gestohlen haben.“ Der Gardist schien den Bären nicht zu hören. Ungläubig musterte er den Siegelring.

„Tom. Jasper. Seht euch das mal man.“ Zwei weitere Gardisten traten hinzu.

„Ein Siegelring“, meinte Tom und reichte das Schmuckstück an Jasper weiter. „Habt ihr einen scheiß Adeligen überfallen?“ Jasper, der sich das Halstuch wohl wegen des Gestanks wie einen Mundschutz vor das Gesicht gebunden hatte, musterte den Ring schweigend.

„Nein“, wiederholte der Bär. „Der Kerl war definitiv kein Adliger. Ihr hättet ihn sehen sollen. Sag doch auch was, Eagon!“

„Das könnte Ärger geben, Paul“, sagte Tom. „Wenn der Schwarze Baron davon erfährt, schickt er womöglich seine Leute nach Treedsgow, um hier aufzuräumen.“

Paul biss sich auf die Unterlippe. „Wir müssen Damon davon berichten.“ An die Ratte und den Bären gewandt sagte er: „Mitkommen!“

„Nein“, schrie der Bär. „Er wird uns in den Rattensumpf werfen!“ Er stürzte sich auf Paul. Schon war Jasper zur Stelle. Geschmeidig wie ein Panther ging er zum Angriff über. Der Bär fiel in den Dreck, und Jasper verpasste ihm einen Tritt in die Seite. Der Hüne stöhnte. Jasper packte ihn am Kragen und zerrte ihn vor Paul.

„Jetzt steckt ihr in Schwierigkeiten“, knurrte Paul. „Noch eine falsche Bewegung und wir legen dich in Ketten. Gehen wir.“ Tom nahm der Ratte den Beutel ab, und die Gardisten trieben die beiden vor sich her über den Markt. Über eine Treppe gelangten sie auf den Gehsteig des Kanals und von dort aus weiter in einen Gang. Auf halber Höhe erreichten sie eine Tür und traten hindurch. Sie befanden sich nun in einer von mehreren Zisternen, die zwischen den Hauptkanälen lagen. Wie eine unterirdische Halle, die von einem steinernen Becken beherrscht wurde. Eine Treppe führte auf der einen Seite in das Becken, das ehemals bis zum Rand mit kristallklarem Flusswasser gefüllt war, und auf der anderen Seite wieder hinaus. Hier hatte Damon sich einen Sitz eingerichtet, von dem aus er alle, die sich im Becken aufhielten, überragte. Ursprünglich hatten die Zisternen dazu gedient, die Haushalte von Treedsgow mit Frisch­wasser zu versorgen. Treedsgow war eine der ersten Städte, die ein Wasserleitungssystem mit Pumpstation besaß. Doch wie die Kanäle hatten die Verbrecher auch einige Zisternen trockengelegt. Diese hier hatte Damon zu seinem Thronsaal gemacht. Vermutlich wegen des direkten Zugangs zum Rattensumpf: eine Falltür am Grund des Beckens.

Damon lag mehr auf seinem Thron, als dass er saß, und rauchte. Ein paar Stufen unter ihm räkelte sich katzengleich Rocío. Sie war eine junge Frau, kaum der Jugend entwachsen. Mit olivfarbener Haut und schwarzem Haar. Eine Tätowierung, ein Mosaik aus Recht- und Dreiecken, zierte ihr Gesicht. Sie hatte ihr Haar teilweise mit einer Nadel hochgesteckt. Trotzdem fiel es ihr noch in Strähnen über die Schultern und bedeckte die sonst nackten Brüste. Manche nannten sie die Hexentochter. Es hieß, sie könne in die Zukunft blicken. Außerdem munkelten die Banditen, dass sie Damon den Kopf verdreht hatte. Angeblich hatte der Anführer einst einen Mann aus seiner eigenen Garde in den Rattensumpf geworfen, bloß weil er einen Blick auf ihre Brüste geworfen hatte.

Am Grund des Beckens saßen auf Teppichen Damons engste Vertraute. Sie rauchten Tabak aus Wasserpfeifen, begrapschten halbnackte Frauen – Huren aus dem Hafen, die sich an der Seite eines Banditen besser aufgehoben fühlten als in einem Bordell –, spielten Karten und unterhielten sich gedämpft. Ihre Worte schwebten wie feiner Nebel in der Luft. Es roch nach Tabak und Schweiß und Braten. Ein Mann mit Ukulele saß mit dem Rücken zur Beckenwand und spielte.

Die Gardisten führten die Ratte und den Bären in die Mitte des Beckens.

„Wer sind die?“, fragte Damon gelangweilt.

„Nennt ihm eure Namen“, befahl Paul und stieß dem Bären in den Rücken. Der ballte die Hände zu Fäusten, doch ein Blick in Jaspers blaue Augen genügte und er schluckte seine Wut herunter.

„Dave“, knurrte er.

„Ea… Eagon“, stammelte sein Freund.

„Was interessieren mich ihre Namen.“ Damons Stimme klang träge. Er rieb sich die Augen, als wäre er entsetzlich müde. „Warum habt ihr sie hergebracht?“

„Sie hatten einen Siegelring.“ Paul hielt den Ring ins Licht.

Damon hörte auf, sich die Augen zu reiben, und hob den Blick.

„Jasper“, sagte er nach kurzem Schweigen. Paul reichte den Ring an den Gardisten, der sich das Tuch vor den Mund gebunden hatte, und der brachte ihn zu seinem Anführer. Damon nahm den Ring und betrachtete ihn im Licht der Öllampen. Das Gold funkelte.

„Das ist der Ring eines Adligen“, murmelte er und strich mit dem Daumen über die Initialen. „GE.“

Rocío erhob sich. Ihre Bewegungen glichen denen eines Panthers. Geschmeidig wie Quecksilber. Mit lauernder Miene umrundete sie Damons Thron und warf einen Blick auf den Ring, wobei sie die Hände auf seine Schultern legte. Die Ratte und der Bär konnten die Augen nicht von ihr wenden. Ihre oliv­farbene Haut war so makellos wie die Oberfläche einer Perle. Die Öllampen malten verlockende Schatten auf ihren Körper. Es hätte nur offensichtlicher sein können, dass die beiden Ganoven die Schatten unter ihrem Haar nach ihren Nippeln absuchten, hätten sie angefangen zu sabbern. Rocío hob den Blick. Ihre dunklen Augen blitzten wissend. Hastig sahen die Ratte und der Bär in andere Richtungen.

„Woher habt ihr den Ring?“, fragte Damon und reichte ihn an Rocío weiter. Hatte er zuvor müde gewirkt, war sein Blick nun berechnend.

„Wir haben ihn irgendeinem Tunichtgut abgenommen“, wiederholte der Bär. „Einem Niemand, der sterbend im Schnee lag. Gewiss kein Adliger. Ihr hättet ihn sehen sollen. Trug die Haare wie eine Bürste.“ Er warf einen nervösen Blick zu Rocío, die nun ihrerseits über die Initialen strich und den Ring im Licht drehte. Sie beugte sich herab und flüsterte Damon etwas ins Ohr.

„Jasper“, rief der Banditenanführer. „Den Beutel.“ Tom gab dem Gardisten den Beutel, und Jasper reichte ihn hinauf zu Damon. Der Anführer gab ihn an Rocío weiter, ohne auch nur einen Blick hineinzuwerfen. Rocío griff hinein und brachte den Revolver zum Vorschein. Wie zuvor den Ring drehte sie nun das Eisen im Licht der Öllampen. „Eine gut gefertigte Waffe“, sagte sie zu niemand Bestimmten. „Wenn auch keine herausragende Handwerkskunst.“ Sie betätigte den Daumenschieber und die Trommel schwenkte heraus. Prüfte, wie viele Patronen geladen waren, und schnupperte an dem Metall. „Es ist jedoch nicht das Material, aus dem sie gemacht ist, oder die Qualität ihrer Verarbeitung, die sie zu etwas Besonderem macht“, fuhr sie fort. Ein südländischer Akzent zierte ihre Stimme. „Sondern ihre Geschichte. Sie hätte der Liebsten ihres Besitzers beinahe das Leben gekostet und selbiges beinahe gerettet.“ Sie legte die Waffe beiseite und griff erneut in den Beutel. Dieses Mal nahm sie die Machete heraus. „Die Waffe eines Feindes“, murmelte sie. „Sie wurde im Kampf erobert und tötete ihren einstigen Besitzer.“ Sie legte die Machete neben die Pistole und griff wieder in den Beutel.

„Dieser Dolch ist bemerkenswert.“ Die Waffe war schlicht, zudem alt und verrostet. Doch Rocío wendete sie im Licht der Öllampen, als wäre sie aus feinstem Gold. „Diese Klinge nahm Dutzenden das Leben. Ihr berühmtestes Opfer war niemand anderes als Charles Rabotnik, der Anführer des Arbeiteraufstandes. Auf der Höhe seiner Macht tötete sein letzter Besitzer mit dem Dolch einen Dämon in Gestalt eines Bären. Und als er sein bislang letztes Opfer tötete – ebenfalls ein berüchtigter Mann, ein genauso kaltblütiger wie unvergleichlicher Kämpfer – erfüllte sie eine vor Jahren ausgesprochene Weissagung. Im Besitz eines jeden anderen ist diese Waffe bloß ein rostiger Dolch. Doch in der Hand ihres wahren Besitzers wird sie zu einer mächtigen Waffe.“ Rocío legte das Messer behutsam neben die anderen Dinge auf die Stufen und wich mit geradezu ehrfürchtiger Miene zurück. Ein letztes Mal griff sie in den Beutel. „Was ist das?“ Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen, als sie das Tagebuch hervorholte. Sie sah abwechselnd von der Ratte zum Bären. „Dieses Buch ist nicht für euch bestimmt. Was ist mit seinem Besitzer geschehen?“ Der Bär wechselte einen nervösen Blick mit der Ratte.

„Keine Ahnung“, murmelte er. „Wir haben ihn im Schnee zurückgelassen. Vermutlich ist er erfroren.“

„Habt ihr ihn verletzt?“, fragte Rocío scharf.

„Nur ein bisschen verprügelt“, sagte der Bär achselzuckend.

„Nein.“ Rocío legte das Buch zu den anderen Gegenständen auf die Stufen und reckte witternd die Nase in die Luft. Wie ein Raubtier schlich sie näher, bis sie direkt vor dem Bären stand. Der Hüne schien nicht zu wissen, ob er sie zurückstoßen oder ihr aus nächster Nähe auf die Brüste starren sollte. Er widerstand beidem. Rocío zog das Messer aus dem Gürtel des Bären und hielt es ins Licht. Aufmerksam betrachtete sie die rostbraune Farbe an der Schneide. Schnupperte erst, dann leckte sie daran. „Es ist sein Blut“, murmelte sie. „Sein Blut!“ Sie zog die Nadel aus dem Haar und holte eine Glasphiole aus der Hosentasche, entkorkte die Phiole und reichte sie dem verdutzten Bären. Dann setzte sie die Messerspitze an die Öffnung der Phiole und begann, mit der Nadel das Blut abzukratzen. Zuletzt verkorkte sie die Phiole wieder, die nun Ends Blut enthielt. Sie gab dem Bären das Messer zurück und ging zu ihrem angestammten Platz hinter Damons Thron. Erneut flüsterte sie dem Banditenanführer etwas zu. Danach herrschte Stille. Der Bär kaute auf seiner Unterlippe und Ratte schluchzte leise. Damon massierte sich mit geschlossenen Augen die Schläfen. Dann schlug er die bleischweren Lider auf. „Du bist ein Idiot, Paul“, sagte er mit schwerer Stimme. Der Gardist hob verdutzt den Blick. „Glaubst du wirklich, dass diese beiden Schwachköpfe dazu imstande wären, einen Adligen und seine Leibwächter zu überwältigen?“ Paul kratzte sich beschämt im Nacken. „Die beiden haben nichts falsch gemacht …“ Der Bär atmete auf. „… und hätten sie Rocío nicht auf die Titten geglotzt, würde ich sie einfach laufen lassen.“

„Was?“ Der Bär sah abwechselnd von Damon zu Rocío. „Ich habe nicht …“ Damon winkte einem der Gardisten am Grund des Beckens.

„Augus. Die Falltür.“ Die Gardisten, die das Geschehen stillschweigend verfolgt hatten, johlten. Der Mann namens Augus trat vor und öffnete die Klappe.

„Nein!“ Als hätte Jasper seine Fluchtgedanken gerochen, war er zur Stelle, noch ehe der Bär einen Schritt gemacht hatte. Instinktiv holte der Bär zum Schlag aus. Der Gardist duckte sich weg. Glitt an ihm vorbei und packte ihn am Arm. Er drängte den Bären gegen die Beckenwand und drehte ihm den Arm auf den Rücken, dass dem Hünen die Augen tränten.

„Jasper lässt dich gleich los“, sagte Damon kühl. Langsam, als bereite ihm jede Bewegung große Anstrengung, erhob er sich von seinem Thron. „Wenn du dich nicht wehrst, geb ich dir das hier.“ Er hob die Machete auf. „Wenn du aber Dummheiten machst, bricht Jasper dir beide Arme, bevor er dich in den Schacht wirft. Verstanden?“ Der Bär nickte und blickte Damon hasserfüllt an. Jasper ließ ihn los.

„Das ist der Blick eines Mannes, der weiß, das Gewinsel nichts nutzt“, kommentierte Damon. „Ich hasse es, wenn sie vor mir kriechen. Mich anflehen. Abartig! Du bist anders. Unter anderen Umständen hätte ich dich in meiner Garde aufgenommen. Schade.“ Damon nickte Jasper zu und der Gardist verpasste dem Bären einen Stoß in den Rücken.

„Du zuerst“, sagte Damon. Der Bär blickte in den Schacht. Er verlor sich in Schwärze. Aus der Wand ragte eine Öse, an der ein Seil hinab ins Nichts führte.

„Worauf wartest du?“, fragte Damon kalt. Der Bär ließ sich vor dem Schacht nieder und steckte die Beine hinein. Er warf Damon einen letzten hasserfüllten Blick zu. Dann packte er das Seil und ließ sich in den Schacht gleiten. Langsam, um sich nicht die Hände zu verbrennen, ließ er sich tiefer hinab, fort vom warmen Licht der Öllampen. Die Luft wurde kühler. Die Schwärze dichter. Bald verschluckte sie jeden Laut bis auf das Tropfen, das durch die Gänge hallte. Glockenhell und stetig.

Der Schacht endete überraschend. Daves Füße setzten auf feuchtem Grund auf und seine Stiefel saugten sich mit Wasser voll. Ratten flohen und ihr Quieken verlor sich in den Untiefen.

Dave hob den Blick. Die Schachtöffnung war nunmehr so groß wie eine Briefmarke. Er verharrte reglos, während er überlegte, was zu tun war. Die Dunkelheit drückte auf seine Aug­äpfel. Jetzt bloß keinen Lärm machen. Wenn es eine Chance gab, dieser Hölle zu entkommen, dann unbemerkt.

In diesem Moment landete Eagon platschend am Grund des Schachts. „Es tut mir leid, Dave“, schluchzte er. „Es ist alles meine Schuld.“

„Halt die Klappe!“, zischte Dave. „Ich prügel dir deine Schuld schon noch raus. Jetzt sei still, sonst hört uns dieses Etwas!“

„Hey, ihr zwei!“ Dave hob den Blick. An der Schachtöffnung stand Damon und winkte mit der Machete. „Ihr habt da was vergessen.“ Er ließ die Waffe fallen. Dave packte Eagon am Kragen und zerrte ihn zurück. Die Machete verfehlte ihn knapp und schlug klirrend auf einem Stein auf. Der Lärm verhallte in den Tiefen.

„Viel Glück“, rief Damon und schlug die Klappe zu. Nun war es stockfinster. Einen Moment lang hörte Dave nichts bis auf Eagons Schniefen und das Echo von Damons Stimme, das sich in den Eingeweiden des Rattensumpfes verlief. Aber war es nur das Echo? Dave legte den Kopf schräg. War da nicht auch ein fernes Flüstern? Ein Knarren wie von rostigen Scharnieren?

„Hörst du das auch?“, fragte Eagon, und dem Zittern in seiner Stimme entnahm Dave, dass er gleich panisch werden würde.

„Da ist nichts“, knurrte er. Er tastete sich an Eagon vorbei und hob die Machete auf.

„Komm jetzt“, flüsterte er und stapfte voran. Nach kurzer Zeit gelangten sie an eine Kreuzung.

„Warte mal“, flüsterte Dave. Eine geschlagene Minute verharrten sie reglos. Dann spürte er einen Luftzug. „Nach links.“

Sie gingen weiter und wieder schwiegen sie. Dann trat Dave auf etwas, das knirschend unter seinem Stiefel zerbrach.

„Scht“, zischte er Eagon an, als wäre es seine Schuld gewesen. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen. Doch schon bald ließ es sich nicht mehr vermeiden, auf jene knirschenden Objekte zu treten.

Eindeutig zu groß für Rattenknochen, schoss es Dave durch den Kopf. Zum ersten Mal war er froh, dass er nichts sehen konnte.

Ein dumpfer Schlag ertönte, gefolgt von Eagons Aufschrei. „Autsch!“

„Schscht!“, zischte Dave.

„Hab mir das Knie gestoßen“, jammerte Eagon. „Ich glaube, ich blute.“

„Halt die Klappe“, fauchte Dave. „Ein bisschen Blut ist gar nichts im Vergleich zu dem, was das Etwas mit dir anstellt, wenn es dich findet. Also reiß dich zusammen!“

„Ja, Dave.“

Dave bog nach rechts ab. Da war wieder der Luftzug. Der Ausgang musste in der Nähe sein.

„Warte mal“, flüsterte er nach einiger Zeit und blieb stehen. Er lauschte angestrengt. Da war wieder das Flüstern. Vielstimmig und zugleich so fern, dass er sich nicht sicher war, ob es nicht bloß der Luftzug war. Plötzlich wurde es kalt. Nicht die Sorte von Kälte, die zuerst in Hände und Füße einzog. Es war eine Kälte, die im Innersten begann.

„Weiter. Schnell. Eagon?“ Sein Freund antwortete nicht. Dave sammelte all seinen Mut und holte tief Luft. „Eagon?“, rief er.

„Dave?“ Die Stimme seines Freundes kam von weiter weg. Dieser Idiot! War er nicht abgebogen?

„Wo steckst du, du Idiot?“

„Hier.“

Dave wollte fauchen, dass hier keine ausreichende Beschreibung war. Doch wieder war da das vielstimmige Flüstern. So deutlich, dass Dave es verstehen konnte. Die Stimmen schrien um Hilfe. Flehten darum, erlöst zu werden. Doch etwas schien den Ton aus ihrer Sprache genommen zu haben. Dave wandte sich um und fing an zu laufen.

„Bist du das, Dave?“ Eagons Stimme klang fern. Jäh wurde sie panisch. „Dave. Es ist hier. Es ist hier!“ Seine Worte schlugen in Geschrei um.

„Scheiße, scheiße, scheiße“, flüsterte Dave. Er stieß mit der Machete vor eine Wand. Ohne auf den Luftzug zu lauschen, wandte er sich nach rechts und lief weiter.

„Daaave! Hilf mir! Daaaaaave! Aaahhh-ha-ha-haaaaa!“ Eagon schrie nicht aus Angst. Es waren Schmerzensschreie. Dave biss sich auf die Unterlippe. Was tat das Etwas ihm an? Der Tunnel beschrieb einen Knick und verlief dann lange geradeaus. Die Schreie verstummten. Fast beneidete Dave seinen Freund. Er hatte es hinter sich. Der Tunnel mündete in einer weiteren Kreuzung. Nach wenigen Minuten hatte Dave vollends die Orientierung verloren. Wie groß war dieser verfluchte Komplex? Er blieb stehen und bemerkte, dass Stille eingekehrt war. Kein glockenhelles Tropfen war zu hören. Nicht einmal das Quieken der Ratten. Wo war das Etwas? Hatte es sich zurückgezogen? Vielleicht war es satt und hatte ihn vergessen. Vielleicht hatte Eagons Opfer ihn gerettet.

Dave ging weiter. Wieder stieß er mit der Machete vor eine Wand. Dieses Mal schlug es ihm die Waffe aus der Hand. Er ging in die Hocke und tastete mit beiden Händen über den Boden. Und dann hörte er es wieder. Dave erhob sich und drehte sich einmal um die eigene Achse. Das Flüstern schien dieses Mal von überall herzukommen. Die Kälte stahl sich in sein Herz. Er öffnete den Mund zu einem Schrei, doch der Laut schien ihm in der Kehle zu gefrieren. In der Dunkelheit erwachten zwei violette Funken, die auf ihn zuschwebten. In ihrem Licht sah er eine Knochenhand, die sich ihm aus den Lumpen einer gewiss einst prächtigen Robe entgegenstreckte. Sie legte sich um seine Kehle und sämtliche Kraft wich aus seinen Gliedern. Sein Körper fiel in sich zusammen, als rasten Jahrzehnte in Sekundenschnelle an ihm vorüber. Seine morschen Knie gaben unter ihm nach, und er hatte das Gefühl, in unendliche Dunkelheit zu stürzen.

Dreizehn. Die Anstalt. Band 2

Подняться наверх