Читать книгу MEMORIAM - Auch deine Stunde schlägt - Caroline Stein - Страница 13
ОглавлениеMontag, 30. Juli 2018
Kairo
Der kleine Friseurladen im hintersten Winkel der Millionenstadt Kairo wäre im Vorbeigehen niemandem aufgefallen. Vermutlich wäre angesichts der windschiefen Holztür mit dem verblichenen Lamellenrollo auch niemand auf die Idee gekommen, dass sich dahinter ein Friseurladen befinden würde. Außer man hätte genauer hingeschaut und die dralle, dunkelhäutige Besitzerin beim Haareschneiden gesehen. Aber es kamen selten Fremde in den abgelegenen Winkel der Stadt und so waren die Kunden von Mama Neilah fast ausschließlich ihre Nachbarn und die anderen Leute aus dem Viertel. Jeder dort kannte Mama Neilah und jeder mochte sie, weil sie diese warme Mütterlichkeit ausstrahlte, die man so selten fand und weil sie immer ein offenes Ohr für alle hatte. Mama Neilah sah so aus, wie ihr Name vermuten ließ: klein und rund mit kaffeebrauner Haut und einem stets freundlichen Lächeln in ihren großen dunklen Augen. Die krausen Haare waren zu einem Dutt gesteckt, der unter ihrem Haartuch verschwand, welches genauso fröhlich bunt gemustert war, wie ihre Kittelschürze, ohne die man sie nie sah.
Außer ein paar Einzelnen, die zufällig von Mama Neilah's Perückenkunst gehört hatten, verirrte sich normalerweise niemand in das schäbige Viertel am Rande der Stadt und in ihren kleinen Laden. Daher hatte sie sich auch gewundert, dass dieser Mann mit der Glatze damals zu ihr gefunden hatte. Er kam eines Tages wie aus dem Nichts und brachte ihr ein Büschel Haare.
»Ich habe gehört, Sie machen die besten Perücken.«
Es war so. Mama Neilah machte tatsächlich die besten Perücken in der ganzen Stadt. Aber das wussten nicht viele.
Sie hatte nur genickt. Der Mann war freundlich, aber er flößte ihr auf irgendeine Art Angst ein.
»Sie sollen kaum von echten Haaren zu unterscheiden sein.«
Mama Neilah hatte wieder genickt. Als sie das Geschäft eröffnet hatte, hatte sie jahrelang getüftelt und schließlich aus einer Kautschukmischung und einem Geflecht von Baumwollfäden eine Basis geschaffen, die so elastisch und dünn war, dass sich ihre Perücken von echtem Haarwuchs tatsächlich kaum unterscheiden ließen. Das Haar knüpfte sie dann Strähne für Strähne ganz eng auf. Zum Schluss verpasste sie dem Haar noch den letzten Schliff mit einem pfiffigen Schnitt.
»Ich möchte davon eine Kurzhaar-Perücke mit Mittelscheitel.«
Er hatte auf eines der verblichenen Zeitungsbilder mit einem männlichen Frisurmodel gedeutet, die Mama Neilah als Haarschnitt-Ideen mit Reißzwecken an die Wand gepinnt hatte. »Ziemlich genau so. Und ich zahle gut, wenn ich zufrieden bin.«
Er hatte gut gezahlt. Mehr als gut.
Und er war immer wieder gekommen.
Mama Neilah hatte nie gefragt, woher er die Haare hatte. Es waren immer lange Frauenhaare. Weich, kräftig, glänzend und von schöner Farbe. Und sie hatte auch nie gefragt, wofür er die vielen Perücken brauchte. Inzwischen mussten es an die zwanzig sein. Anfangs hatte er sich immer Männerperücken machen lassen. Sie hatte gedacht, er sei sehr krank gewesen und habe deshalb die Glatze. Aber er machte einen stabilen und gesunden Eindruck all die Jahre, in denen er immer und immer wieder und in immer kürzeren Abständen zu ihr kam. Und irgendwann wollte er dann nur noch Frauenperücken haben.
Es war schon dämmrig, als Mama Neilah ruhig und bedächtig die restlichen Haare auf dem fleckigen Linoleumboden zusammenkehrte. Sie hob kurz den Kopf und sah mit liebevollem Blick zu dem Jungen hinüber, der konzentriert dabei war, die Einnahmen des Tages zusammenzurechnen. Er hatte sich gut rausgemacht, seit sie ihn damals von der Straße geholt hatte.
Eigentlich hatte sie keine Kinder mehr haben wollen. Sie war noch jung gewesen, als sie schwanger wurde. Erst empfand sie es als großes Glück, dass der Kindsvater sie heiratete, denn sie kannten sich erst wenige Wochen. Aber nach den ersten Schlägen von ihm änderte sie ihre Ansicht von Glück.
Nachdem er sie zum dritten Mal geschwängert hatte, war er dann bei Nacht und Nebel verschwunden.
Sie hatte ihn nicht als vermisst gemeldet, denn sie vermisste ihn nicht. Und sie hatte auch nie das Bedürfnis verspürt nachzuforschen, wo er geblieben war.
Es war Knochenarbeit gewesen, drei Kinder alleine großzuziehen, jeden Tag drei hungrige Mäuler zu stopfen, immer in der Angst sie würden eines Tages alle vier auf der Straße landen. Aber sie hatte hart gearbeitet und auch Glück gehabt und sie hatte es geschafft: Ihre drei Kinder hatten jetzt alle einen Beruf und Familien und glücklicherweise nicht viele Gene von ihrem Vater.
Als der Jüngste aus dem Haus gewesen war, hatte sie gedacht, sie würde jetzt ihre neue Freiheit genießen, aber sie hatte festgestellt, dass sie verlernt hatte, etwas damit anzufangen. Als dann eines Tages der kleine, abgemagerte Junge vor ihrem Laden saß und bettelte, nahm sie ihn mit zu sich. Er hatte keine Eltern mehr, war aus dem Heim abgehauen und hatte sich auf der Straße durchgeschlagen. Er war klug. Das erkannte sie sofort. Und sie verstanden sich auf Anhieb. So blieb er bei ihr.
Mama Neilah hatte ihre drei Kinder sehr geliebt, aber es war jeden Tag ein Kampf ums Überleben gewesen. Die Zeit jetzt mit Mo war eine Zeit zum Genießen. Und sie genoss jeden Tag. Sie war sechzig und Mo war elf. Es konnte noch eine Weile so gehen.
»Mo, mach Schluss für heute. Ich denke, wir haben genug gearbeitet.«
Der Junge hob den Kopf, legte den Stift zur Seite und rutschte vom Stuhl. »Okay, Mama Neilah.«
»Was hältst du davon, wenn du schon mal nach Hause gehst und uns was zu Essen herrichtest? Ich räume noch hier auf.«
Mo grinste. »Ich weiß schon, was ich uns koche.« Er drückte ihr einen schnellen Kuss auf die Wange und war schon aus der Türe gerannt. Sie sah ihm lächelnd nach, wie er die Straße hinaufsprang.
Es war dann doch eine Stunde vergangen, bis Mama Neilah endlich die Lichter ausschaltete. Das Knirschen des alten Schlüssels, wenn sie allabendlich die Türe hinter sich zuschloss, war so vertraut für sie, wie das Klappern ihrer Ledersandalen auf dem Pflaster, während sie gedankenverloren unter dem sternenvollen Himmel nach Hause lief.
Zu spät hörte sie die Schritte hinter sich, spürte nur einen scharfen Stich und dann eine Explosion in ihrem Kopf, bevor sie wie ein Brett nach vorne fiel und auf dem Gesicht liegen blieb.
So fand Mo sie. Leblos auf dem Bauch liegend in einer Lache von Blut.
Mama Neilah war tot – und für Mo ging eine Welt unter.