Читать книгу MEMORIAM - Auch deine Stunde schlägt - Caroline Stein - Страница 20
I .
Оглавление... »Nein, Nunu, du darfst den Riemen nicht loslassen, bevor du nicht genau das Ziel angepeilt hast!«. Kichernd schüttelte Raja ihr langes dunkles Haar. Sie musste über die ungelenken Versuche ihrer Freundin lachen.
»Ich bin eben einfach nicht so geschickt wie du.« Nunu zog einen Schmollmund und warf unwirsch die Schleuder auf den Boden.
Raja bückte sich, hob sie auf und drückte sie Nunu wieder in die Hand. »Du darfst nicht so schnell aufgeben«, tröstete sie die Freundin. »Es ist schwieriger, als es aussieht, und ich habe auch lange geübt, bis ich es endlich konnte. Deshalb hab ich dir extra die kleinste Schleuder gegeben. Damit ist es am einfachsten zu lernen.« Sie stellte sich hinter Nunu und legte ihr die Schlinge und einen Stein in die Hand. »So musst du dich hinstellen und dann beide Arme heben, die Schleuder kreisen lassen und dann darfst du das Ziel nicht mehr aus den Augen verlieren. Schau nicht auf den Stein, sondern nur auf dein Ziel.« Raja trat zur Seite und beobachtet die tollpatschigen Versuche ihrer Freundin. »Du musst schneller kreisen!«
Nunu ließ los, der Stein flog seitwärts und prallte gegen einen Felsen.
»Wenn du den treffen wolltest, dann war das gut«, feixte Raja.
Nunu schüttelte erhaben ihren Kopf, so dass der blonde Pferdeschwanz hin und her schwang. »Ja, das wollte ich.«
»Immerhin hast du getroffen. Das war doch gar nicht schlecht«, bestätigte Raja ihre Freundin, wohl wissend, dass es nicht deren Absicht gewesen war, den Fels zu treffen. »Außerdem machst du es ja aus Spaß und nicht, um zu jagen. Wenn du erst mal verheiratet bist, dann darfst du sowieso die Schleuder nicht mehr in die Hand nehmen.« Raja war froh, dass ihr selbst dieses Schicksal, heiraten zu müssen, erspart bleiben würde.
»Du tust mir leid.« Nunu ließ die Schleuder sinken und sah Raja an. Sie schien einen parallelen Gedankengang gehabt zu haben. »Ich bin froh, dass ich auserwählt wurde, Rano zu heiraten«, sie hob würdevoll den Kopf, »dann brauche ich mich um nichts mehr zu kümmern. Und ich hoffe das passiert bald. Ich bin jetzt schon elf und bald zu alt zum Heiraten.«
Raja lachte hell auf. Das passte zu Nunu. Sie war jemand, der es liebte, im Mittelpunkt zu stehen, bewundert und verwöhnt zu werden. Und das genau war die Aufgabe der zukünftigen Frau des Dorfobersten Rano. Außer der, dass sie ihm Kinder gebären sollte.
Nunu war eine Schönheit, mit ihrem hellen Haar und den blauen Augen und sie wusste es auch. Nicht umsonst hatte der Herrscher Jefe schon vor Jahren den weisen Toro gebeten, die Götter zu befragen, ob der Verbindung von seinem Sohn Rano und der schönen Nunu Glück verheißen war. Toro war der, der den Göttern am nächsten stand. Er war der Vermittler zwischen ihnen und den Menschen im Dorf.
»Ich würde sterben vor Langeweile.« Raja gähnte.
So unterschiedlich sie waren, verband sie trotzdem von klein auf eine tiefe Freundschaft. Die dunkelhaarige, trotz ihrer zierlichen Figur muskulöse Raja war immer schon am liebsten auf der Insel mit der Schleuder unterwegs gewesen, war über Felsen geklettert und hatte Pflanzen und Tiere beobachtet. Nunu dagegen hielt sich lieber in der sicheren Umfriedung der Siedlung auf.
»Ich möchte jetzt eine Pause machen«, bat Nunu.
Raja zeigte auf eine nahegelegene Felsenstelle. »Da vorne kann man gut sitzen. Dort ist der Stein glatt und es ist nicht so steil, dass man abstürzen könnte.« Raja kannte alle Felsen der Umgebung. Bei jedem Tritt wusste sie, wie sich der Stein unter ihrem Fuß anfühlen musste und wo sie ihre Füße setzen konnte. Leichtfüßig sprang sie über die Felsen, wann immer sie alleine war. Nur wenn Nunu dabei war, ging sie vorsichtiger und langsamer.
»Wie waren eigentlich deine Eltern? Ich kann mich gar nicht so genau an sie erinnern.«
Raja wunderte das nicht. Nunu war immer schon hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt gewesen. Umso mehr erstaunte sie jetzt diese Frage.
»Mein Vater war einer der besten Steinschleuderer. Das habe ich von ihm gelernt. Meine Mutter hat mit anderen Frauen zusammen Tierfelle zu Gürteln und Taschen gemacht. Sie wusste auch, wie man aus Magen, Blase und Darm der Tiere Schläuche herstellt.« Raja klopfte auf den runden Wasserschlauch, den sie immer am Gürtel trug, wenn sie unterwegs war.
»Du warst nicht lange bei ihnen?«
Raja war erstaunt, dass Nunu das Thema nicht wendete, um wie üblich von sich zu erzählen.
»Meine Mutter war schon alt, als ich geboren wurde. Fast sechzehn. Als ich fünf war, hat mich der Toro erwählt und seitdem lebe ich bei ihm. Zwei Jahre später ist meine Mutter dann gestorben. Sie war ja schon alt. Dreiundzwanzig Jahre. Mein Vater ist ihr ein Jahr danach gefolgt.«[Fußnote 1]
»Da hätte er ja noch mindestens fünf Jahre leben können.« Nunu klang mitleidvoll.
»Wie gesagt, ich war ja da schon bei Toro. Ich habe meinen Eltern nicht mehr gehört. Ich gehöre den Göttern.« Raja lächelte. Sie war glücklich, auserwählt zu sein, und von Toro alles zu lernen, was sie über die Götter wissen musste. Sie war jetzt dreizehn, aber bereits als Fünfjährige ausgesucht worden, einmal das Erbe des Weisen Toro anzutreten. Er war der Älteste in der Siedlung und stand noch über dem Jefe, dem Obersten des Dorfes. Toros Aufgabe war es, die Kranken zu heilen, die Götter zu befragen und diese mit Tier- und Rauchopfern zu besänftigen, wenn sie erzürnt waren.
»Glaubst du, es stimmt wirklich, was man über meine Mutter sagt?« Jetzt kam die Frage von Nunu, die Raja schon erwartet hatte.
»Du meinst, dass fremde Krieger deine Mutter und deine Großmutter bei uns gegen Steinschleuderer eingetauscht haben?«
Nunu nickte.
»Toro hat es so erzählt. Und schau dich nur an. Du hast nicht unsere dunkle Haut und das schwarze Haar, wie wir. Hast du deine Mutter nie gefragt?«
Nunu nickte. »Doch, aber das ist lange her. Sie wollte nicht darüber reden. Und jetzt ist sie tot.«
Raja überlegte kurz. »Toro hat mir erzählt, dass deine Mutter erst zwei Jahre alt war, als Phönizier sie und deine Großmutter gebracht haben«, erklärte sie dann. »Der Jefe hat sie beide gegen fünfundzwanzig Steinschleuderer getauscht. Die Punier brauchten unsere ba le yahros, um ihr Land zu vergrößern, denn es gibt ja nirgends Männer, die schneller und geschickter mit der Steinschleuder umgehen können als unsere Krieger.« Der Stolz darüber war in Rajas Stimme deutlich zu hören. »Die anderen Dörfer auf der Insel haben auch ihre Steinschleuderer getauscht. Sie haben dafür Waren bekommen. Das hat man sich bei der Zusammenkunft erzählt.«
»Was war das für eine Zusammenkunft«, wollte Nunu wissen.
Raja wunderte sich, dass ihre Freundin das nicht wusste. »Jedes Jahr, am Tag des Gottes Toro, treffen sich alle Jefe und Toro der zwölf Inseldörfer auf dem heiligen Platz am Berg Randa. Dort bringen sie dem Gott Toro Opfer dar. Nach den Riten gibt es dann ein großes Fest. So ist es von den Göttern bestimmt«, erklärte Raja geduldig.
»Und meine Mutter wurde dann als zweite Frau dem Sohn des Jefe gegeben?«
»Ja, nachdem die Götter sie für würdig befunden hatten ...« Raja brach ab und verkniff sich die Erklärung : »... denn sie war ja eine Tauschware.« Überdies hinaus wusste sie von Toro, dass es einen Aufruhr gegeben hatte, als der Sohn des Jefe eine zweite Frau haben wollte. Das war eigentlich nur den Göttern vorbehalten. Die Götter hatten eingewilligt, aber Nunus Großmutter als Opfer gefordert. Raja verschwieg ihrer Freundin auch das, denn sie wollte Nunu nicht weh tun. »Es war das erste und einzige Menschenopfer, an das sich jemand erinnern kann«, hatte Toro zu ihr gesagt. »Ich war damals fünf Jahre alt.«.
»Lass uns die Felsen hinunter ans Meer gehen und Seeigel ernten.« Raja sprang auf und verscheuchte die dunklen Gedanken. Sie zog ihre Freundin an der Hand hoch. »Komm mit.«
Sie waren noch nicht weit gegangen, da hielt Raja plötzlich inne.
»Was ist?« Die Besorgnis war Nunu anzusehen.
Raja griff an ihre linke Schläfe. Sie kannte den pochenden Schmerz, der ein böses Ereignis ankündigte, nur zu gut. »Nichts«, log sie. Sie wollte ihre Freundin nicht beunruhigen. »Lass uns weitergehen.« Aber die unbeschwerte Stimmung war weg. Raja suchte verstohlen mit ihren Augen den Himmel ab. Aber kein unheilverkündendes Zeichen war zu sehen. Sie schloss kurz die Augen. »Bleib stehen!«, befahl sie dann und ihre Stimme klang rau.
Nunu gehorchte sofort. Sie wusste um die Gabe ihrer Freundin. Raja ließ ihre Blicke kreisen. »Lass uns zurückgehen«, bat sie dann.
Sie wandten sich um und Raja stieß einen Schrei aus. Mit einem heftigen Ruck riss sie ihre Freundin zur Seite, hatte in Sekundenschnelle einen Stein aus ihrem Beutel gepackt und mit voller Wucht auf den Boden geschleudert. Die Sandviper zuckte noch kurz unter dem Brocken und erschlaffte.
Raja wandte sich zu Nunu um. Die saß auf dem Boden und hielt sich den Knöchel. Der Stoß ihrer Freundin hatte sie stürzen lassen.
»Ist alles in Ordnung?«. Rajas Besorgnis war groß. Nunu hob ihre Hand. Ein wenig Blut rann über den Knöchel und tropfte auf die rotbraune Erde. Raja wurde bleich. Sie machte eine Geste, die das Unheil abwenden sollte. Erst die Viper und dann das Blut. Irgendetwas Schlimmes drohte. Sie musste schnellstens zu Toro und mit ihm beraten, was zu tun sei. Geschickt nahm sie den Schlauch aus Eselshaut, der an ihrem Gürtel hing, und goss ein wenig Wasser auf Nunus Wunde. Zwischen den Büschen der Macchia zupfte sie schnell ein paar Pflanzen ab. Die Johanniskrautblüten zerrieb sie in der Hand, drückte aus einer Aloe ein paar Tropfen Saft darauf und legte den Brei auf Nunus Wunde. Dann wand sie mit geschicktem Griff zwei große Blätter darum und befestigte das Ganze mit einem Riemen aus Ziegenleder.
Anschließend legte sie Salbei auf die tote Viper und auf die Erde, an den Stellen, wo Nunus Blut Spuren hinterlassen hatte, stellte sich mit dem Gesicht nach Osten, murmelte beschwörende Worte und hob ihre Arme nach dem Ritus, der dazu gedacht war, die Götter zu versöhnen.
Dann wandte sie sich wieder zu der Freundin um. »Kannst du stehen?«.
Nunu nickte schwach.
Raja griff unter ihre Arme und zog sie hoch.
Nunu humpelte leicht. »Es geht schon.«
»Lass uns zurück zur Siedlung gehen.«
Sie nickte nur, blass und schweigend.
Schon von Ferne sah man aus allen Richtungen auf die zwei hohen Steintürme, die ein Teil der Umfriedung und Beobachtungsplatz gegen Feinde waren.
»Wir sind gleich da«, ermutigte Raja die Freundin.
Die Siedlung lag im Süden der Insel, am östlichen Ende der großen Bucht und am höchsten Punkt der Gegend. Von den Wachtürmen aus konnte man weit über die Insel, das Meer und die Bucht bis zum Gebirge schauen. Im Osten lag erhaben der heilige Berg.
Das Dorf reichte im Rund der Schutzmauer bis hinunter an die Steilklippe. Neunzig Steinbauten mit Holzbalken als Dächer, die durch Lehm gegen Regen abgedichtet waren, wurden von der Mauer geschützt, die sich nach Westen mit einem großen Torbogen öffnete. Daneben Umfriedungen, in denen die Ziegen, Schafe und Rinder gehalten wurden, ein Brunnen und das Wasserbecken.
Das Wichtigste aber war der heilige Platz des Toro, ein gigantischer Steinplatz. In der Mitte eine Steinplatte auf zwei riesigen Felsquadern als Opfertisch, auf dem bis zu vier Ziegen gleichzeitig dargebracht werden konnten. Dieser Platz war vor der Hütte des Toro gelegen und hier fanden Opferfeiern und Rituale zu Ehren der Götter statt.
Rajas Volk war groß. Das Dorf beherbergte mehr als hundertfünfzig Menschen und war eines der bedeutenderen auf der Insel, ähnlich wie die Siedlung an den Salzbecken. Aber ihr Dorf hatte dem der Salzbecken gegenüber den Vorteil, an den Steilhängen des Felsens zu liegen. Sie konnten nicht so leicht vom Meer aus angegriffen werden und hatten eine ideale Sicht auf alles, was sich von Land und Meer näherte. Raja war glücklich hier zu leben. Das war der Grund, warum sie jedes unheilvolle Zeichen in höchste Alarmbereitschaft versetzte. Das Leben war sehr zerbrechlich und die Gefahren übergroß. Am Liebsten hätte sie es gehabt, wenn alles immer gleich geblieben wäre und nicht ständig Tod, Krankheit oder der Zorn der Götter das Leben verändern würden. Das Schwierigste im Leben ist doch wohl, Vergänglichkeit zu akzeptieren, dachte sie.
Endlich hatte Raja mit der humpelnden Nunu die Siedlung erreicht. Die Wachen hatten sie schon angekündigt und Toro stand vor seiner Hütte. Er überragte die Bewohner um Haupteslänge und wirkte noch größer durch den weißen Stierschädel mit den schwarzen, bronzeverzierten Hörnern, den er auf dem Haupt trug. Er war nackt, bis auf den ledernen Lendenschurz mit den göttlichen Symbolen, den er um die Hüften trug und sein gebräunter, muskulöser Oberkörper glänzte von Öl.
»Auch du hast die Zeichen bekommen.« Seine tiefe, dunkle Stimme schwang wohltönend, laut und klar über den Platz, als Raja sich näherte. Das runde, mit Steinen spiralförmig belegte Areal direkt vor Toros Hütte war nicht nur das Zentrum für die rituellen Götterverehrungen, sondern auch Mittelpunkt der Siedlung und Ort für Versammlungen und Handel.
Raja berichtete ihm von den Vorkommnissen und eine tiefe Falte erschien auf Toros Stirn. Im gleichen Moment hallte ein gellender Schrei vom Wachturm herunter.
Toro gebot Nunu vor seiner Hütte auf der Bank zu warten und winkte Raja, mit ihm zu kommen. Am Steinbogen im Westen, dem Eingangstor, sahen sie zwei der Steinschleuderer heraneilen. Einer der beiden trug einen Körper in den Armen. Toro lief ihnen entgegen und Raja machte das Zeichen, das Übel abwehren sollte. Doch es war zu spät. Der junge Mann war tot. Sie sah es an Toros Gesicht, als er den Kopf des Jünglings anhob und dann wieder sinken ließ. Rajas Herz zog sich zusammen und eine Träne rollte über ihr Gesicht. War ihr Ritual den Göttern zu wenig gewesen? War sie schuldig am Tod des jungen Mannes?