Читать книгу Der wilde Sozialismus - Charles Reeve - Страница 23
GEGENSÄTZE UND VORAHNUNGEN
ОглавлениеDie Uneinigkeiten zwischen den zwei feindlichen Brüdern Marx und Bakunin sind seit jeher häufig auf ihre gegensätzlichen Persönlichkeiten zurückgeführt worden, anstatt sich mit den Strömungen auseinanderzusetzen, für die sie standen. Marx selbst rückte Bakunin in seinen Attacken immer wieder in die Nähe von Proudhon, mitunter warf er ihm sogar vor, dessen Ideen auf die Spitze zu treiben. Allerdings konnte er seine Kritik an Proudhon nie wirklich auf Bakunin übertragen, da erhebliche Differenzen die beiden Anarchisten trennten. Die Proudhonisten waren »Sozialindividualisten«; den Feind machten sie in einem Kollektivismus aus, der zwangsläufig autoritär sei. Sie waren auch keine Revolutionäre, sondern traten anstelle proletarischer Gewalt für schrittweise Veränderungen und den Aufbau von Gegeninstitutionen innerhalb des bestehenden Systems ein; die patriarchale Familie verteidigten sie ebenso wie das Privateigentum. Vor allem aber waren die Proudhonisten eine spezifisch französische Strömung, Bakunin dagegen ein kämpferischer Internationalist. Zwar wendete er sich genau wie Proudhon gegen die politische Macht und den zentralistischen Staat, er lehnte aber auch den Individualismus als ein bürgerliches Konzept ab, das ebenfalls autoritäre Verhältnisse legitimiere. Wie Marx trat Bakunin für die Vergesellschaftung der Produktionsmittel ein; wenn er sich nicht als Kommunisten, sondern als Kollektivisten bezeichnete, dann weil er den Kommunismus mit einer politischen Machtkonzentration im Staat gleichsetzte. Bakunin war ein unermüdlicher Verfechter der Revolution, er befürwortete revolutionäre Gewalt gegen sämtliche Institutionen und die Zerstörung des Privateigentums.
Der Konflikt zwischen Marx und Bakunin in der Internationale betraf vor allem die Organisationsfrage und nur in zweiter Linie das Staatsproblem. Dabei vermied es Marx, Bakunin als Anarchisten anzugreifen, und warb sogar um die Unterstützung anderer Anarchisten für seine Vision der Internationale als einer Organisation, deren Programm für verschiedene sozialistische Strömungen offen sein sollte. Die Anhänger Bakunins vertraten dagegen ein stärker elitäres und sogar klandestines Organisationsmodell. Allerdings bewies Bakunin jenseits dieser Debatte paradoxerweise insofern eine erstaunliche Hellsicht, als er in dem Ideenkorpus, der sich mit Marx’ Denken verband, eine Orientierung und bestimmte Elemente ausmachte, die zur ideologischen Unterfütterung autoritärer Herrschaft – eines staatskapitalistischen Systems – geeignet seien. Dass er diese Kritik stellenweise in eine Rhetorik mit antisemitischem Beigeschmack und panslawistisch-antideutschen Zügen kleidete, vernebelte die entscheidende Frage. Im Vorhaben, eine Organisation der Arbeiterklasse nach dem Modell des zentralistischen Staates zu schaffen, sah Bakunin einen ersten Schritt dahin, die Klasse den »aufgeklärten Sozialisten« der Führungspartei unterzuordnen – in seinen Augen eine politische Unterwerfung unter eine Art Religion, unter die Autorität der »Wissenschaft«. Die Religion der Führer und des Staatskapitalismus wies Bakunin zurück, indem er auf die Spontaneität der Individuen setzte. Er ahnte als Erster voraus, dass ein zur Staatsdoktrin gewordener zentralistischer Marxismus mit einer bestimmten Weiterentwicklung des Kapitalismus einhergehen könnte.