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DIE RELIGION DES STAATSSOZIALISMUS

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Wie die weitere Geschichte zeigte, waren Bakunins Behauptungen und Einwände durchaus hellsichtig und eröffneten dem kritischen Denken eine neue Richtung. Gut zwanzig Jahre vor Gustave Le Bons Psychologie der Massen ging er von gleichermaßen sozialen wie eigenständigen Individuen aus, deren Gemeinschaftlichkeit er in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Emanzipationsprozesses rückte, jenseits von Gehorsam gegenüber Führern und einer äußeren Hierarchie. Diese Gemeinschaft war anderer Art als das abstrakte Wesen namens »die Masse«, das seit der Französischen Revolution die Angstvorstellungen der herrschenden Klassen und des Bürgertums befeuerte – eine angeblich wilde, brutale, infantile, kurz: furchterregende Masse. Nach Le Bon hat sich ein Individuum, das Teil einer handelnden Masse ist, bereits selbst aufgegeben; des eigenen Tuns nicht länger bewusst, ist es ein willenloser Automat geworden. Freud ging noch weiter. Er bemerkte, Le Bon zufolge sei die Masse »außerordentlich beeinflußbar und leichtgläubig, sie ist kritiklos, das Unwahrscheinliche existiert für sie nicht. […] Die Masse kennt also weder Zweifel noch Ungewißheit.« Sie stelle sich »instinktiv unter die Autorität eines Oberhauptes […]. Die Masse ist eine folgsame Herde, die nie ohne Herrn zu leben vermag. Sie hat einen solchen Durst zu gehorchen, daß sie sich jedem, der sich zu ihrem Herrn ernennt, instinktiv unterordnet.«11 Der Führer ist nach Le Bon sowohl für flüchtige wie für künstliche, stabile – beispielsweise religiöse – Massen eine notwendige, unverzichtbare Figur. Freud zufolge verkörpert er das »Massenideal«, das an die Stelle des »Ichideals« trete; durch ihn unterwerfe sich das Individuum diesem Massenideal, passe sich ihm an. So sieht Freud die »Haupterscheinung der Massenpsychologie« in der »Unfreiheit des Einzelnen in der Masse«.12 Im Anschluss an Le Bon, demzufolge »der Sozialismus eine vergängliche Religion darstellt«13, meinte Freud, es könne »eine andere Massenbindung an die Stelle der religiösen« treten, »wie es jetzt der sozialistischen zu gelingen scheint«.14 Diese Ähnlichkeit zwischen der Unterwerfung unter die Religion und unter den Sozialismus der Führer war Bakunin nicht entgangen. Auch Sorel widmete dem »religiösen Charakter des Sozialismus« 1906 einen eigenen Essay.15

Freud, der zeitlebens nie über eine sozialdemokratische Geisteshaltung hinauskam, meinte offenbar, bei dieser »Bindung« und Unterwerfung unter Führerfiguren werde die sozialistische Bewegung stehenbleiben.16 Dabei muss man sich vergegenwärtigen, dass er den zitierten Text 1921 schrieb – drei Jahre nach der russischen Revolution und zwei Jahre nach der Novemberrevolution in Deutschland. Damals gab es durchaus Gruppen von freien, bewussten Individuen, die mit ihrem Handeln den institutionellen Rahmen des Sozialismus der Führer und den damit verbundenen »Durst zu gehorchen« radikal infragestellten und auf spontane Weise neue starke Bewegungen hervorbrachten, die auf Räten beruhten.

Tatsächlich decken sich die Reflexionen von Le Bon und Freud teilweise mit dem Gedanken, den Bakunin ein halbes Jahrhundert zuvor entwickelt hatte, und stehen gleichzeitig in schroffem Gegensatz zu ihm. Bakunin zufolge drückte sich die von ihm so entschieden kritisierte Verwandtschaft zwischen Religion und Staatssozialismus auch darin aus, dass dieser »eine bevorrechtete Klasse, gewissermaßen eine Priesterkaste des Staates« erzeuge, »die herrschende und besitzende Klasse, welche im Staate das ist, was die Priesterkaste in der Kirche ist«.17 Während die Massen laut Le Bon eine von Grund auf destruktive Energie antrieb, erkannte Bakunin in derselben Energie einen »Instinkt der Revolte«, der eine zugleich zerstörerische wie schaffende, positive Kraft sei – Ausgangspunkt für eine Bewegung der gesellschaftlichen Emanzipation und Mittel für das gesellschaftliche Individuum, zu seiner Freiheit zu gelangen. Eine doppelbödige Haltung, um das Mindeste zu sagen, nahm dagegen die Sozialdemokratie ein: Sie machte sich die Schlussfolgerungen von Le Bon zu eigen, um ihr zentralistisch-autoritäres Parteimodell zu rechtfertigen. So erklärte etwa Karl Kautsky bereits 1911, die bewusstlosen und unkontrollierbaren Aktionen der Massen zeigten, wie notwendig die Führung durch die Partei sei, die dem kollektiven Handeln erst zu Organisation, Bewusstsein und Reife verhelfe.18 Im Zuge der Novemberrevolution 1918 meinte der SPD-Politiker Gustav Noske, der wenig später, im Januar 1919, für den Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht verantwortlich war, bei der Mehrheit der deutschen Arbeiter, Soldaten und Matrosen »das dem Deutschen eingeborene Bedürfnis nach Ordnung« zu erkennen – eine reaktionäre Formulierung, in der Le Bons Gedanke des willenlosen, den Führern unterworfenen Einzelnen und der passiven Masse anklang.19

Bakunin formulierte seine Gedanken in einer wenig ausgefeilten Weise, seine Argumentation blieb mitunter vage und inkonsistent. Abstrakte Systeme lehnte er ab, da sie in seinen Augen nur Denken und Handeln lähmten. Bakunins Theorie war das Spiegelbild eines unbändigen Lebens und taugte nicht zur Weltanschauung. In der Organisationsfrage hatte sie auf die nicht-individualistischen Strömungen des Anarchismus wenig Einfluss; diese schwankten stattdessen zwischen dem »Plattformismus« eines Peter Arschinoff, der eine Art anarchistische Partei vorsieht, und dem klassischen Modell der gewerkschaftlich-politischen Doppelorganisation, wie es neben vielen anderen die spanische CNT-FAI (Confederación Nacional del Trabajo/Federación Anarquista Ibérica) am erfolgreichsten verkörperte. Bakunin selbst zeigte sich in seiner Organisationspraxis besonders widersprüchlich – auch in der Internationale und seinem Kampf gegen Marx. Er beharrte auf der Vorstellung, dass die revolutionäre Aktion von kleinen zentralisierten und klandestinen Gruppen ausgehen müsse, und zog Arbeiter damit in revolutionäre Verschwörungen, die zum Scheitern verurteilt waren. Während er in der Theorie das widersprüchliche Verhältnis zwischen dem Autoritätsprinzip und einer Bewegung der gesellschaftlichen Selbstbefreiung aufzeigen konnte, blieb er selbst Gefangener des damals noch vorherrschenden jakobinisch-babouvistischen Aufstandsmodells. Spontanes Handeln erschöpfte sich für Bakunin in einem »Instinkt der Revolte«, der auf das Wirken von Berufsrevolutionären mit der besonderen Fähigkeit angewiesen blieb, den subversiven Gedanken ins allgemeine Bewusstsein zu heben. Ohne ein solches Eingreifen konnte es auch keine Selbstorganisation geben.

Die Kritik des Autoritätsprinzips schlug ohne Frage eine Bresche in die jakobinisch-hierarchische Gedankenwelt der sozialistischen Bewegung. In dieser setzte sich die Einschränkung der vollen Souveränität – das »Korrektiv«, das die permanente Repräsentation von Macht darstellte – als Unterordnung unter die Führung und als Blockade individueller wie kollektiver Fähigkeiten der Emanzipation fort. Die Unmöglichkeit einer ungeschmälerten Ausübung der Volkssouveränität, die Abwesenheit direkter Demokratie, ließ die Mängel des parlamentarischen Systems sowie die soziale Ungleichheit, auf der es beruhte, immer deutlicher hervortreten. Die repräsentative Demokratie erschien als Negation jeder Demokratie und nährte so das Verlangen nach gesellschaftlicher Emanzipation. Dreißig Jahre nach den ersten Andeutungen durch die Pariser Kommune musste die soziale Bewegung das System der Repräsentation aufbrechen, um solchen neuen Bedürfnissen konkret Rechnung zu tragen. Nur im Bruch mit dem Sozialismus der Führer und Apparate, auf wilde, ungezähmte Weise, konnte sie Gestalt annehmen.

Der wilde Sozialismus

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