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DIE GRENZEN DER POLITISCHEN AKTION VON MINDERHEITEN
ОглавлениеAus der Erfahrung der Pariser Kommune ließen sich Bakunin zufolge auch Lehren für das politische Handeln ziehen. Die Grenzen seiner eigenen Vorstellung, klandestine Gruppen könnten durch die richtigen Aktionen einen revolutionären Prozess in Gang setzen, waren bereits mit der Niederschlagung der Kommunen von Lyon (September 1870) und Marseille (März 1871) deutlich geworden; das Scheitern der kantonalistischen Aufstände in Spanien (1873) unterstrich dies lediglich. Vor diesem Hintergrund versuchte Bakunin nun Ziele und Möglichkeiten der politischen Aktion von Gruppen neu auszuloten. Zustimmend fasste er die Überlegungen von Revolutionären, die in der Pariser Kommune aktiv gewesen waren, so zusammen: Es gehe darum, »die den Regungen des Volks entsprechenden Ideen herauszuarbeiten, zu klären und zu verbreiten, und durch […] unablässiges Bemühen zur revolutionären Organisation der natürlichen Macht der Massen beizutragen – aber nicht mehr; alles Übrige solle und könne nur durch das Volk selbst geschehen. Sonst gelange man zur politischen Diktatur, d. h. zur Wiedereinführung des Staates, der Privilegien, Ungleichheiten und aller anderen staatlichen Unterdrückungsformen sowie […] zur Wiederherstellung der politischen, sozialen und ökonomischen Knechtschaft der Volksmassen.«3 Jede revolutionäre Übergangsmaßnahme lehnte Bakunin in der Überzeugung ab, dass die Revolution, »wenn sie in den Händen einiger regierender Personen konzentriert ist, […] unvermeidlich und unverzüglich zur Reaktion wird«.4
Einen Versuch, die Auffassungen von Marx und Bakunin miteinander zu verbinden, unternahm ein halbes Jahrhundert später der radikal-sozialistische Theoretiker Otto Rühle, den die deutsche Rätebewegung von 1918/19 zu einer vehementen Ablehnung von Parteien gebracht hatte. Rühle zufolge »sah der eine, Bakunin, im Menschen mehr das Subjekt der Geschichte, das die Bereitschaft zur Revolution […] mitbringt und nur seiner Entfesselung bedarf; der andere dagegen, Marx, erblickte im Menschen mehr das Objekt, das erst langsam zur Aktivität erzogen werden müsse, um in der Aktion der Klasse als geschichtsbildender Faktor zu wirken«. Laut Rühle hätten sich beide Konzeptionen »vereinigen lassen, denn sie ergeben vereint das tatsächliche Bild des Menschen in der Geschichte«.5 Doch wie Bakunin gezeigt hatte, wies Marx diese erzieherische Aufgabe einer Institution zu, deren Prinzipien im Widerspruch zu den emanzipatorischen Zielen zu stehen schienen – der zentralisierten, autoritären Partei. Bakunin führte aus: »Wir wollen den gleichen Triumph der ökonomischen und sozialen Gleichheit durch die Abschaffung des Staates und von allem, was juridisches Recht genannt wird und was nach unserer Ansicht die permanente Negation des menschlichen Rechtes ist. Wir wollen den Wiederaufbau der Gesellschaft und die Konstituierung der Einheit der Menschen nicht von oben nach unten, durch irgendwelche Autorität und durch sozialistische Beamte, Ingenieure und andere offizielle Gelehrte – sondern von unten nach oben, durch die freie Föderation der vom Joche des Staates befreiten Arbeiterassoziation aller Art.«6 Etwas später kam er auf diese grundlegende Differenz zurück und attestierte Marx einen Widerspruch: Da Marx »wirklich die Erhebung der Massen wünscht«, sei es erstaunlich, wie er übersehen könne, dass »die Errichtung einer universellen, kollektiven oder individuellen Diktatur, die gewissermaßen die Arbeit eines Chefingenieurs der Weltrevolution ausführt, die insurrektionelle Bewegung der Massen in allen Ländern wie eine Maschine regulierend und lenkend […], allein genügen würde, alle Volksbewegungen zu lähmen und zu verfälschen«.7
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verdeutlichte Georges Sorel (1847–1922), ein weiterer hellsichtiger Kritiker des autoritären Sozialismus, die Konsequenzen dieses Widerspruchs anhand der Funktionsweise sozialdemokratischer Parteien. Als einer der ersten Sozialisten wies er darauf hin, wie sich eine Kluft zwischen dem Denken von Marx und den »Marxisten« auftat, die mit ihren »politischen Maschinen« gewisse »Bräuche« pflegten, die der Emanzipation der Produzenten zwangsläufig zuwiderliefen.8 Mit Blick auf den Aufstieg sozialistischer Parteien, die nach dem Modell des Staates aufgebaut waren, dirigiert von einer Kaste von Führern, Funktionären und Intellektuellen, sagte Sorel voraus, »daß die Übertragung der Autorität sich heutzutage, dank der neuen Möglichkeiten des parlamentarischen Systems, in vollkommenerer Weise vollziehen würde; und da das Proletariat vollkommen in offizielle Gewerkschaften eingereiht sein würde, würden wir die soziale Revolution in eine wunderschöne Knechtschaft auslaufen sehen«.9 Genauer formuliert: »Wenn dank der sogenannten reformistischen Arbeiter der politische Sozialismus triumphieren wird, werden wir in eine Ära grauenvoller Knechtschaft eintreten.«10