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KAPITEL 4 GENERALSTREIK ODER MASSENSTREIK? DER REVOLUTIONÄRE SYNDIKALISMUS UND DAS BEDÜRFNIS NACH SELBSTREGIERUNG SELBSTBILDUNG

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Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Sozialdemokratie in Deutschland, Belgien, Holland und Russland die unangefochtene Hauptkraft in der organisierten Arbeiterbewegung. Als solche rückte sie von Marx’ Überzeugung, das kommunistische Bewusstsein werde aus dem Proletariat selbst hervorgehen, immer stärker zugunsten einer Konzeption ab, die die zentralistisch-hierarchische Partei als Trägerin des Klassenbewusstseins begriff. Bakunins Warnungen vor den widersprüchlichen Folgen des etatistischen Modells wurden ignoriert oder schlicht vergessen. In anderen Ländern, vor allem in Frankreich, Italien und Spanien, behielten antiautoritär-anarchistische Kräfte dagegen ein starkes Gewicht in der Arbeiterbewegung und widersetzten sich dieser Marschrichtung. Natürlich lehnte die Sozialdemokratie der Zweiten Internationale den Föderalismus zugunsten eines Zentralismus ab, der als Gewähr für Disziplin, Realismus, Effektivität und somit für die Stärke der Arbeiterbewegung galt – ein Argument, das der linke Flügel der russischen Sozialdemokratie, die Bolschewiki, sowie später die bolschewisierte Dritte Internationale übernahmen und das sämtliche avantgardistische Strömungen, Gruppen und Sekten bis heute anführen. Die Mittel, auf denen diese Effektivität beruhte, sahen die sozialdemokratischen Marxisten in keinerlei Widerspruch zu den Zielen, zumal das Erstarken ihrer Parteien in den Ländern, in denen sie die Bewegung dominierten, stetig und unaufhaltsam voranzuschreiten schien. Dieses Wachstum galt als Beweis dafür, dass die Führung die richtige Linie verfolgte und mit dem Strom der Geschichte schwamm. Wie Bakunin bemerkt hatte, maßten sich die »Chefingenieure« des Sozialismus an, Aufstände wie Maschinen steuern zu können; dass ihr autoritäres Agieren jede spontane Initiative von unten erstickte und früher oder später nur zur Lähmung von Bewegungen führen konnte, erkannten sie nicht. Damit entfernten sie sich von der Auffassung Joseph Dietzgens, eines Freundes von Marx, der eindringlich gemahnt hatte, ein Arbeiter, der an der Selbstbefreiung seiner Klasse teilnehmen wolle, müsse es zuallererst ablehnen, sich von anderen bilden zu lassen, und sich stattdessen selbst bilden. Genauso fremd war ihnen Bakunins Gedanke, dass die Revolution, »wenn sie in den Händen einiger regierender Personen konzentriert ist, […] unvermeidlich und unverzüglich zur Reaktion wird«.1 Im Namen ihres dirigistischen Programms betrieben die sozialdemokratischen Führer die »Schulung« der Massen mit den ihnen eigenen Mitteln – Partei und Gewerkschaft. Der geistigen und praktischen Selbstbestimmung der Individuen, ihrer Spontaneität, hielten sie die Autorität der »Wissenschaft« und die bürokratische Macht ihrer Organisationen entgegen. Dass deren Wachstum in die blinde Unterordnung der Arbeiterbewegung unter die Führer, ihre Lähmung im Angesicht der patriotischen Kehrtwende der Sozialdemokratie sowie schließlich in ihre Zerstörung durch das Kriegsgemetzel ab 1914 führen würde, schien undenkbar.

So wie die Pariser Kommune eine prägende Erfahrung für das sozialistische Denken gewesen war und die Kluft zwischen zentralistischen und antiautoritären Strömungen vertieft hatte, riefen die Streikbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts die scharfsinnigsten Köpfe der sozialistischen Bewegung auf den Plan, ließen die anarchistischen und antiautoritär-syndikalistischen Strömungen erneut zu wichtigen Protagonisten werden und erzeugten den ersten tiefen Riss in der Sozialdemokratie als dominierender Strömung des Marxismus. Sie eröffneten eine Phase lebhafter Debatten und weltanschaulicher Auseinandersetzungen, die bis zum Ersten Weltkrieg anhielten und mit der Bewegung der Sowjets und Räte auch noch die Zeit der Revolutionen in Russland und Deutschland prägten.

Der wilde Sozialismus

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