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SOZIALDEMOKRATIE UND MASSENSTREIKS

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Die großen Streiks, die um die Jahrhundertwende in westeuropäischen Ländern, insbesondere in Belgien und Holland, ausbrachen, stießen sofort auf die Ablehnung der sozialdemokratischen Mehrheitsgewerkschaften. In der Spontaneität dieser Bewegungen, in der Initiative und direkten Aktion der Arbeiter, sahen die Gewerkschaftsführer eine erhebliche Gefahr für den vorgezeichneten Weg eines von oben gesteuerten, schrittweisen Übergangs zum Staatssozialismus. Dass die Streiks Massen von Arbeitern vom traditionellen Gehorsam gegenüber den Partei- und Gewerkschaftsspitzen abbrachten, entging ihnen nicht.

Eine Minderheit radikalerer Sozialisten, die den Streikbewegungen aufgeschlossen gegenüberstand, reagierte von der Führung völlig unerwartet mit vehementer Kritik auf diese Linie. Die massenhafte Auflehnung der Arbeiter setzte eine solche Kraft frei, dass die Parteiloyalität und -disziplin bis in die Führungsriegen hinein aufgebrochen wurde und eine ungekannte Dissidenz um sich griff. Da die sozialdemokratischen Parteiapparate und die auf Ausgleich bedachten großen Gewerkschaften, die nun von spontanen Bewegungen herausgefordert wurden, traditionell eng miteinander verflochten waren, näherten sich die Dissidenten unabhängigen, teilweise sogar anarchistisch orientierten kleineren Gewerkschaften an. In Holland brach eine von bekannten sozialdemokratischen Politikern und Theoretikern wie Herman Gorter und Anton Pannekoek angeführte Strömung um die Zeitschrift De Tribune bereits 1909 mit der sozialdemokratischen Partei, weil sie deren Haltung zu den neuen Streiks ablehnte. Der belgische Generalstreik von 1902 und der konservative Kurs der großen Gewerkschaften hatten auch in Deutschland zur Folge, dass eine kleine, aber einflussreiche Fraktion, zu der unter anderem Rosa Luxemburg gehörte, die Taktik des mächtigen SPD-Apparats hinterfragte. 1908 war Luxemburg allerdings noch davon überzeugt, ein Bruch mit der Partei bedeute unweigerlich, den Kontakt zu den Massen zu verlieren. Eine solche schmerzhafte Situation stand ihr zwar bereits vor Augen, vorerst hielt sie aber fest: »Die schlechteste Arbeiterpartei ist besser wie keine.«2 Was die Dissidenten in Holland und Deutschland antrieb, waren vor allem zwei Motive: Man musste die neuartige »revolutionäre Energie«, die sich in den großen Streiks zeigte, zunächst einmal zur Kenntnis nehmen und zweitens ihre Potenziale politisch analysieren.

Die Debatte, die sich durch eine in der Burgfriedenspolitik und Massenschlächterei des Ersten Weltkriegs mündende Krise der Sozialdemokratie zog, soll hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden.3 Stattdessen geht es uns um das Verhältnis der neuartigen Orientierung radikal-marxistischer Fraktionen zu den Vorstellungen des revolutionären Syndikalismus. Beide entwickelten sich parallel zueinander. Was sie möglich machte und antrieb, war ein Zyklus sozialer Kämpfe im frühen 20. Jahrhundert, der im Gefolge der Russischen Revolution von 1905 eine Strömung hervorbrachte, die ausgehend von der Sowjetbewegung traditionelle Vorstellungen hinter sich ließ.

Im frühen 20. Jahrhundert vollzog sich ein Umbruch, der zunächst einer des Kapitalismus war: Die industrielle Revolution beschleunigte sich durch technische Entwicklungen, die die Unternehmenskonzentration vorantrieben und für die Lebensumstände der Arbeiter nicht ohne Folgen blieben. Mit dem Vormarsch der großen Industrie wurden die Arbeitsverhältnisse eines alten noch handwerklich geprägten Proletariats zertrümmert und ein neues proletarisches Milieu erzeugt, in dem harte und explosive Zustände herrschten. In Frankreich zeigte sich eine starke sozialistische Strömung um Jules Guesde wenig empfänglich für revolutionäre Spontaneität. Doch während die Mehrheit ihrer Anhänger den gewerkschaftlichen Kampf bereitwillig den Direktiven der politischen Partei unterordnete, gab es auch Teile, die den Gedanken einer direkten Souveränität der Arbeiter keineswegs ablehnten oder sogar auf dem Kongress der CGT (Confédération générale du travail) von 1906 für die revolutionär-syndikalistische Charte d’Amiens stimmten. Die reformistische Strömung um Jean Jaurès stellte sich die Veränderung der Gesellschaft dagegen als einen allmählichen Reformprozess vor, der auf Ausgleich und Kompromissen mit den Kapitalisten und dem Staat beruhen sollte. Aufgrund der harten Ausbeutungsbedingungen der damaligen Epoche kam es dennoch zu Streiks und Aufständen, mit denen Anarchisten und Anarchokommunisten ab dem späten 19. Jahrhundert an Einfluss in den Gewerkschaften gewannen. Ausgetragen wurde der Kampf zwischen den beiden Tendenzen in der 1895 gegründeten CGT. Während die eine den ersten Bemühungen um eine staatliche Zähmung des Kapitalismus folgte und einen »Realismus« der Reformen predigte, die sie sozialpartnerschaftlich mitgestalten wollte, lehnte die andere, klassenkämpferisch-syndikalistische Tendenz diesen Weg im Namen eines kompromisslosen Eintretens für die Interessen der Arbeiter ab. Eine wichtige Rolle in diesem Kräftemessen spielte von den 1890er Jahren bis zum Ersten Weltkrieg die Bewegung der Bourses du travail, die so zu einem Angelpunkt in der Entwicklung der organisierten Arbeiterbewegung in Frankreich wurde.

Der wilde Sozialismus

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