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DER TRIUMPH DER GEWERKSCHAFTLICHEN INTEGRATION UND SEINE KEHRSEITEN

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Von 1902 bis 1908, als er sich noch auf massive Streiks und Demonstrationen stützen konnte und praktisch ein Klima des Aufstands herrschte, war der revolutionäre Syndikalismus mit einer gewaltsamen, blutigen Repression konfrontiert, die fatale Folgen hatte. In Frankreich zog die Schwächung der CGT am Vorabend des Ersten Weltkriegs das Scheitern der antimilitaristisch-internationalistischen Bewegung nach sich, in der viele ihrer Mitglieder aktiv waren.17 Dasselbe spielte sich etwas später in Amerika ab, wo eine regelrechte Terrorkampagne von Polizei und Unternehmern die IWW dezimierte, die dem Kriegsgemetzel das Banner des Internationalismus entgegenzuhalten versuchten.18

Für die herrschenden Klassen stand immer außer Frage, dass die Gewerkschaftsbewegung jenes »Element der gesellschaftlichen Konservierung« werden musste, von dem Malatesta gesprochen hatte. Mit aller Kraft stemmten sie sich daher dem Vormarsch eines Syndikalismus entgegen, der aus Gewerkschaften eine revolutionäre Waffe machen wollte. Erst mit dessen Auslöschung begann die Ära einer auf Verhandlungen, Verantwortung und Integration geeichten Gewerkschaftsbewegung.

Dreißig Jahre später kam Anton Pannekoek auf den Gegensatz zwischen diesen zwei Formen von Gewerkschaftsbewegung zurück und hob dabei vor allem ihre unterschiedlichen Auswirkungen auf das Bewusstsein hervor. Der Triumph der gewerkschaftlichen Integration war laut Pannekoek unabdingbar dafür, dass die Interessen der Kapitalistenklasse als die allgemeinen Interessen der Gesellschaft akzeptiert werden: »Erstens, weil damit den Arbeitern die Illusion belassen wird, daß sie Herren ihrer eigenen Interessen sind. Zweitens, weil die starke Bande der Anhänglichkeit, die sich zwischen Gewerkschaften und Arbeitern aus der Tradition früherer Kämpfe ergeben haben, als eigene Schöpfung der Arbeiter, ihrer Opfer, ihres Kampfes und ihrer Begeisterung nachwirken und nun den Herren zugute kommen.«19 Im Verhältnis zu Gewerkschaften, deren Streiks in offiziell anerkannten Bahnen ablaufen, und andererseits zur Selbstorganisation spontaner Streiks wertete er den revolutionären Syndikalismus als eine »Zwischenform«. Besonders mit Blick auf die Geschichte der IWW argumentierte Pannekoek, solche Zwischenformen seien »Versuche […], die Gewerkschaftsbewegung durch Beseitigung ihrer Übelstände und Einhalten ihrer richtigen Grundsätze zu einem brauchbaren Kampfmittel umzubilden, die Führerschaft einer Beamtenbürokratie zu vermeiden, die Trennung durch enge Berufs- und Gewerbeinteressen aufzuheben und die Erfahrungen früherer Kämpfe zu bewahren und auszunutzen«.20 Aus Sicht des Rätetheoretikers waren Gewerkschaften dieses Typs nicht an eine bestimmte historische Phase gebunden, sondern konnten in ähnlicher Form auch zukünftig auftreten, besonders in Momenten einer Krise des modernen Kapitalismus. Bestimmte Umstände könnten die Ausgebeuteten vorübergehend dazu bewegen, über den lähmenden »Realismus« der integrierten Gewerkschaften hinauszugehen, aber zugleich an der Form als solcher festzuhalten und folglich kleine »kämpferische« Gewerkschaften zu gründen.

Mit dem voluntaristischen Vorhaben, Gewerkschaften zu Organisationen der direkten Aktion und des Umsturzes zu machen, stand der revolutionäre Syndikalismus in der historischen Nachfolge extremer Strömungen in der Französischen Revolution und in der Pariser Kommune. Was sich in ihm ausdrückte, war ein Bedürfnis nach umfassender und direkter Macht der Ausgebeuteten, der Gedanke der Selbstaufklärung durch die gemeinsame direkte Aktion sowie die Weigerung, die Macht an die von Bakunin verfluchten »Chefingenieure und Priester des Wissens« zu delegieren. Oder kürzer: Er trat für die Praxis der Selbstregierung ein. Diese Besonderheit des revolutionären Syndikalismus barg enorme Potenziale und überwog seine Schwächen bei weitem. Manche marxistische Strömungen fühlten sich von ihm genauso bedroht wie die Bourgeoisie, wenn auch natürlich aus anderen Gründen. Sie wollten in ihm etwas sehen, was die alte Debatte über Föderalismus und Zentralismus erneut auf die Tagesordnung setzte, obwohl die revolutionär-syndikalistischen Organisationen eine radikale Kritik an früherer Politik ausdrückten und vielmehr »Reaktionen auf die wachsende Bürokratisierung der sozialistischen Bewegung und ihre sozialpartnerschaftliche Politik darstellten«.21 Einige Jahre später bestärkten Streiks, die mit ihren insurrektionellen Zügen die europäischen Gesellschaften und Russland erschütterten, die linken marxistischen Minderheiten innerhalb der Sozialdemokratie in ihren Vorbehalten gegen die Unbeweglichkeit und Blindheit der Parteiführungen. Als sie das aus ihrer Sicht Neue an diesen Bewegungen herausarbeiteten, näherten sie sich faktisch den revolutionär-syndikalistischen Strömungen an.

Rosa Luxemburg, Anton Pannekoek, Herman Gorter und andere, weniger bekannte Figuren wie die holländische Sozialistin Henriette Roland Host (1869–1952), eine gefürchtete Rednerin und Agitatorin des frühen 20. Jahrhunderts, bewiesen Gespür für die Dynamik und den Reichtum einer revolutionären Spontaneität, die sie als neuartige »Massenenergie« verstanden. In Gesellschaften, in denen die sozialistischen Parteien und Gewerkschaften machtvolle bürokratische Apparate geworden waren, musste die Bildung von direkt gewählten, gewerkschaftsunabhängigen Streikkomitees ohne Frage als Anzeichen einer neuen kollektiven Kraft gewertet werden, die mit der Unterordnung unter die Praxis der Gewerkschaften und die herrschende Politik brach.

Als der linke Flügel der Sozialdemokratie in solchen Streiks »die eigenständige Kraft, das eigenständige Handeln der Arbeiterklasse« entdeckte, ging er zu einer Kritik der institutionalisierten, auf Kompromiss, Versöhnung und Passivität beruhenden Gewerkschaften und der parlamentarischen Politik über, die aufs Engste mit der Bürokratisierung der sozialistischen Parteien zusammenhing. Die deutschen Mehrheitsgewerkschaften lehnten den Gedanken des Massenstreiks 1905 ab und es gelang ihnen auch, ihre Kontrolle über die Ausgebeuteten im legalen und ausgehandelten Rahmen der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse aufrechtzuerhalten. Unterdessen belebten jedoch die während der Russischen Revolution desselben Jahres spontan gebildeten Sowjets als neuartige, horizontal koordinierte Kampforganisationen die Debatte in der Sozialdemokratie. Luxemburgs Schrift Massenstreik, Partei und Gewerkschaften (1906) markierte dabei einen wichtigen Bruch mit den vorherrschenden Auffassungen des sozialdemokratischen Marxismus. Sie beharrte auf dem neuartigen Charakter der Streiks, die von Schottland bis Deutschland und von den Niederlanden bis nach Österreich ausbrachen und mit der Wahl unabhängig von den Gewerkschaften agierender Basiskomitees einhergingen. Diese Streiks, so Luxemburg, entstanden »meistens spontan, jedesmal aus spezifischen lokalen zufälligen Anlässen, ohne Plan und Absicht und wuchsen sich mit elementarer Macht zu großen Bewegungen aus.«22 An die Adresse der Parteiführung gerichtet bemerkte sie, dass »der Massenstreik nicht künstlich ›gemacht‹, nicht ins Blaue hinein ›beschlossen‹, nicht ›propagiert‹ wird, sondern daß er eine historische Erscheinung ist, die sich in gewissem Moment aus den sozialen Verhältnissen mit geschichtlicher Notwendigkeit ergibt«.23

Wie andere Figuren ihrer Zeit versuchte Luxemburg, die neuen Bewegungen zu begreifen, sie zu charakterisieren und Lehren aus ihnen zu ziehen. Die revolutionäre Energie, die sie an den Tag legten, hatte in ihren Augen mit spontanem Handeln und der Unabhängigkeit von Parteien zu tun – was zugleich die Schwerfälligkeit der großen bürokratischen Apparate deutlich machte, die weiterhin die Repräsentation und Führung der »Massen« für sich beanspruchten. So verteidigte etwa Kautsky als angesehener SPD-Theoretiker weiterhin mit Zähnen und Klauen den institutionellen Weg zum Sozialismus und die Möglichkeit einer Umgestaltung des bürgerlichen Staates: »das Ziel unseres politischen Kampfes bleibt dabei das gleiche, das es bisher gewesen: Eroberung der Staatsgewalt durch Gewinnung der Mehrheit im Parlament und Erhebung des Parlaments zum Herrn der Regierung«.24

Die Kluft zwischen den beiden Modellen von Vertretung, einerseits durch gewählte Delegierte der Streikkomitees, andererseits durch Parlamentarier, wurde größer und schließlich unüberwindbar. Massen von Arbeitern kündigten den Führern die Gefolgschaft auf und versuchten sich an einer Praxis der Selbstregierung. Ihr Kampfgeist entsprach dem Projekt des revolutionären Syndikalismus, auch wenn dessen Organisationen inzwischen durch harsche staatliche Repression geschwächt waren.

Das Wüten des Krieges, in den die widersprüchliche Entwicklung des Kapitalismus die europäischen Gesellschaften trieb, erwies sich für die herrschenden Klassen aller Länder als die ersehnte Gelegenheit zur erneuten Festigung ihrer Macht. Nationalistische Hysterie und die aktive patriotische Kollaboration der Sozialdemokratie bereiteten den Manifestationen einer neuen Emanzipationsbewegung ein Ende. Die Ausgebeuteten wurden von der extremen Gewalt des Krieges zermahlen, der Schrecken hatte das Lager gewechselt: Er ging nicht mehr von irrationalen »Massen« aus, sondern von den Herren. »Jetzt fallen Millionen Proletarier aller Zungen auf dem Felde der Schmach, des Brudermordes, der Selbstzerfleischung mit dem Sklavengesang auf den Lippen«, notierte Luxemburg. »Auch das sollte uns nicht erspart bleiben. […] Aber wir sind nicht verloren, und wir werden siegen, wenn wir zu lernen nicht verlernt haben. Und sollte die heutige Führerin des Proletariats, die Sozialdemokratie, nicht zu lernen verstehen, dann wird sie untergehen, ›um den Menschen Platz zu machen, die einer neuen Welt gewachsen sind‹.«25

Der wilde Sozialismus

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