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DIE BOURSES DU TRAVAIL ALS TEIL DER EMANZIPATIONSBEWEGUNG

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Ursprünglich waren die Bourses ein wichtiges Element der revolutionär-syndikalistischen Strömung. Auch wenn sie zum Vorbild für ähnliche Organisationen wie die italienischen Camere del Lavoro wurden, blieben sie letztlich eine Besonderheit in der Geschichte der europäischen Arbeiterbewegung.4 Die ersten Bourses wurden 1882 gegründet, ihr wirklicher Aufschwung erfolgte aber erst im Zuge der großen Streikwelle in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts.

Horizontal und auf geografischer Basis organisiert, standen die Bourses für das Bemühen, über Branchengrenzen hinweg Verbindungen und Solidarität zu schaffen. Sie waren das Modell für eine Praxis des unabhängigen Syndikalismus, die auf der Strategie größtmöglicher Basisdemokratie und direkter Aktion aufbaute. Mit dem republikanischen Gedanken der Zusammenarbeit zwischen den Klassen lehnten die Bourses auch die repräsentative Demokratie ab und hielten sich von politischen Parteien folgerichtig fern. »Die Aktivisten der Bourses du travail, besonders die revolutionären Syndikalisten und die Anarchisten, betrachteten die direkte Aktion als eine syndikalistische Praxis, bei der die Arbeiter ihren Kampf auf sämtlichen Ebenen und während jeder Etappe direkt selbst organisieren, ohne jeden Rückgriff auf Spezialisten der Vertretung und Verhandlung.«5 Entsprechend der syndikalistischen Vision von Bruch und Unabhängigkeit gegenüber der politischen Repräsentation bildeten die Bourses ein Zentrum des Widerstands gegen die Gewalt des Kapitalismus und übernahmen zugleich soziale Funktionen: Sie stellten eine Gegengesellschaft her, die Raum bot für Kultur und Bildung, Gesundheitsfürsorge, Berufsausbildung, Arbeitsvermittlung und Hilfe für Arbeitslose. Stärker als die übrige Arbeiterbewegung in Frankreich spielten sie damit eine ähnliche Rolle wie in Deutschland die Sozialdemokratie, die die Arbeiter mit einem gewaltigen Netz aus Organisationen und Strukturen von der Wiege bis ins Grab begleiten sollte. Angesichts der brutalen Ausbeutung und des staatlichen Autoritarismus im frühen 20. Jahrhundert spürten Arbeiter die Notwendigkeit solcher Zusammenschlüsse. Im sozialdemokratischen Modell blieb die proletarische »Gegengesellschaft« allerdings der Partei und ihren gewerkschaftlichen Transmissionsriemen untergeordnet; sie funktionierte nach den autoritären Prinzipien der großen Organisationen und respektierte den rechtlichen Rahmen des kapitalistischen Systems. Die Bourses dagegen sollten »den Kern jener gerechten Gesellschaft, für deren Aufbau wir alle kämpfen«, darstellen, wie der bekannte revolutionäre Syndikalist Fernand Pelloutier erklärte.6 Ihre breitgefächerte Praxis gestaltete sich nach den Prinzipien der direkten Demokratie sowie der Entfaltung der kollektiven Autonomie ihrer Mitglieder. Wie folgenreich dieser Unterschied war, zeigte sich drastisch, als die Sozialdemokratie im August 1914 eine Arbeiterklasse in das große patriotische Abschlachten führte, die sie zuvor ihren Organisationsformen unterworfen hatte.

Hatten die Bourses du travail zunächst eine solche emanzipatorische Bildungsfunktion, büßten sie aufgrund wachsender Abhängigkeit von der Lokalpolitik, besonders von den Gemeinde- und Stadtverwaltungen, ihren ursprünglichen Charakter zusehends ein, was es politischen Parteien erlaubte, sich an ihnen zu beteiligen und sie schließlich zu dominieren. Als tragende Elemente des revolutionären Syndikalismus entstanden, wurden sie zu Rädchen einer reformistischen, auf Integration zielenden Gewerkschaftsbewegung.

Aus dem Zusammenschluss der territorial organisierten Fédération des Bourses du travail mit der nach Branchen aufgebauten Fédération nationale des syndicats entstand 1902 der Gewerkschaftsbund CGT. 1906 votierte sie auf dem Kongress von Amiens nachdrücklich für eine revolutionär-syndikalistische Orientierung, die auf strikter Unabhängigkeit von Parteien beruhte und der direkten Aktion den Vorzug gab. Mit überwältigender Mehrheit erklärte der Kongress, man habe sich nicht »mit Parteien und Sekten aufzuhalten«, da der Syndikalismus sich selbst als ausreichend betrachte und – nach dem Generalstreik – die »Grundlage des Neuaufbaus« einer vom Kapital emanzipierten Gesellschaft sein werde.7

Diese Perspektive bestimmte die CGT bis in die späten 1910er Jahre, als die Niederlagen bei großen Streiks, die mit direkten Aktionen, Ausschreitungen, Sabotage und Zusammenstößen mit der Polizei einhergingen, den Niedergang der revolutionär-syndikalistischen Organisation anzeigten. Nach der Inhaftierung ihrer Führung und dem Scheitern des Generalstreiks vom August 1908 drohte ihr die Auflösung durch den republikanischen Staat. Binnen weniger Monate übernahm eine reformistische Führung das Ruder, die die Grundsätze der direkten Demokratie ablehnte. Das von Aufruhr und sozialer Unruhe geprägte Klima hielt allerdings noch bis zum Vorabend des Krieges an, besonders im Großraum Paris von 1908 bis 1910.8

Zum selben Zeitpunkt, Anfang 1908, wurden in Chicago die Industrial Workers of the World (IWW) gegründet. Ihre facettenreiche Geschichte prägte soziale und kulturelle Bewegungen in den Vereinigten Staaten nachhaltig und machte sie zum Vorbild für revolutionär-syndikalistische Organisationen. Während die IWW bestimmte Züge hatten, die sich auf die Besonderheiten der amerikanischen Gesellschaft zurückführen lassen, übernahmen sie im Grunde die Prinzipien der CGT von Amiens. Und auch wenn sie um die Form des Industriesyndikats einen ausgeprägten Organisationsfetischismus betrieben, praktizierten sie die direkte Aktion im großen Maßstab und bekämpften jede Zusammenarbeit mit den Unternehmern, insbesondere Betriebsvereinbarungen. In ihnen sahen die IWW einen Akt der Unterwerfung, der den Arbeitern auch und gerade in Momenten, in denen die Kapitalisten in der Klemme steckten, mit dem Streik ihre entscheidende Waffe nahm.

Der wilde Sozialismus

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