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|10|Vorwort der deutschen Ausgabe Claus-Dieter Krohn, Mitherausgeber des Jahrbuchs für Exilforschung

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Briefe zählen zu den klassischen literarischen Gattungsformen und historiografischen Überlieferungen. Wie kein anderes Medium geben diese Ego-Dokumente Auskunft über Denkweisen, Gefühlsleben, Lebensumstände oder soziale Einbindung der Verfasserinnen und Verfasser. Deren Inhalte transparent zu machen und damit in einen angemessenen Kontext zu stellen, ist Aufgabe hermeneutischer oder kritischer Interpretationsmethoden. Das ist aber nur die eine Seite, denn es gibt noch andere Verfahrenszugriffe, die weniger von den Briefinhalten bestimmt werden als von ihren äußeren Formen. Briefumschläge mit Briefmarken, Stempeln, Absendern und Adressaten geben Auskunft über räumliche Herkunft und Ziel, sie erhellen Transportwege oder auch -umwege und vermitteln personale Zusammenhänge in Situationen, in denen die geschriebenen Inhalte aus taktischen Gründen, aus Furcht oder aufgrund externer Repression auf Minimalinformationen reduziert werden müssen.

Im Unterschied zum angelsächsischen Raum hat die postal history hierzulande kaum mehr als ein Randdasein geführt. Das änderte sich erst mit dem sogenannten Cultural Turn in den Geistes- und Sozialwissenschaften, nach dem auch die unscheinbareren Dinge des Alltags Aufmerksamkeit fanden. Diesem Prozess verlieh der Rückgriff auf die Schriften Walter Benjamins, des leidenschaftlichen Sammlers und subtilen Beobachters aus den 1920er-Jahren, sogar die höheren Weihen. Briefmarken waren für ihn „Visitenkarten, die die großen Staaten in der Kinderstube abgeben“; und die sogenannten „Ganzsachen“ mit ihren Stempeln als „okkultem Teil“ alter Briefschaften sagten ihm mehr als Dutzende durchgelesener Seiten. Gerade wer Stempeln nachgehe, so Benjamin, müsse als Detektiv Signalements der verrufensten Postanstalten, als Archäologe die Kunst, den Torso fremdester Ortsnamen bestimmen und als Kabbalist das Inventar der Daten für ein ganzes Jahrhundert besitzen.1

Solch interpretatorischer Spürsinn ist gerade für Korrespondenzen in ungewöhnlichen Zeiten gefordert. Exile, also Vertreibungen, erzwungene Ortswechsel und Grenzüberschreitungen sind dafür herausragende Beispiele. Das zeigt exemplarisch der vorliegende Band, der die Sammlung des 1936 in Berlin geborenen und 1939 mit seinen Eltern nach Großbritannien geflohenen William |11|Kaczynski vorstellt. Faksimilierte Briefschaften, offizielle Dokumente und diverse weitere Reiseunterlagen spiegeln zunächst die zunehmenden Diskriminierungen und folgenden Ausgrenzungen in Deutschland – vor allem gegen die jüdische Bevölkerung, aber auch gegen die politischen Gegner des Nationalsozialismus – wider. Den offenen, als Postkarten aus den Konzentrationslagern verschickten Lebenszeichen waren die vorgegebenen engen Grenzen aufgedruckt, innerhalb derer solche Mitteilungen erlaubt waren. Zudem vermitteln die faksimilierten Briefinhalte ebenfalls etwas von der Aura der Ausnahmesituationen.

Die Dramatik von Flucht und Kontaktproblemen mit ihren emigrierten, über den Globus verteilten Angehörigen bildet einen weiteren Schwerpunkt. Eine wichtige Rolle spielt die Internierung der Geretteten in Großbritannien als „feindliche Ausländer“ nach Kriegsausbruch mit den daraus folgenden restriktiven Außenkontakten in diverse europäische Länder und weltweit. Wer in Lagern in Großbritannien bleiben konnte, hatte Glück, viele wurden jedoch auch ins britische Empire, nach Australien oder Kanada, deportiert.

Ausführlich werden ebenfalls die zahlreichen Flüchtlingsorganisationen in Dokumenten vorgestellt, die zeigen, dass das Schicksal der Exilanten kein individuelles war und dass sich für sie eine bemerkenswerte Anzahl von Hilfskomitees einsetzte. Als Netzwerke suchten sie das Leben der Flüchtlinge materiell, aber auch psychologisch zu erleichtern.

Die eindrucksvollen visuellen Zeugnisse hinterlassen eine nachhaltige Wirkung beim Betrachter. Gegenüber bereits vorliegenden amerikanischen Dokumentationen in Schwarz-Weiß,2 wirkt der vorliegende Band vor allem durch die Abbildungen in Farbe. Der Begleittext der Historikerin Charmian Brinson gibt als Kommentar zu den Abbildungen zugleich eine subtile und dichte Einführung mit der nötigen historiografischen Einordnung der vorgestellten Dokumente.

Eine deutsche Ausgabe des Buches ist begrüßenswert, da diese Art von Postgeschichte, wie erwähnt, hierzulande in der Forschung zum Thema bisher unüblich war. Zudem dürfte das breite Spektrum von Abbildungen einen weiteren Leserkreis ansprechen und Sensibilitäten bei jenen wecken, die sich mit diesem Bereich der Geschichte noch nicht beschäftigt haben. Außerdem erhellt der Band die Dramatik extremer Überlebensbemühungen, die bis in die Gegenwart noch enorm zugenommen haben, für die es aber heute keine vergleichbare Überlieferung mehr gibt und in Zukunft auch nicht geben wird. Zur Signatur heutiger Flüchtlinge und Schutzsuchenden gehören häufig zwar fehlende Identifikationspapiere, ein Handy jedoch haben viele dabei.

Fleeing from the Führer

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