Читать книгу Fleeing from the Führer - Charmian Brinson - Страница 12
|15|Einleitung
ОглавлениеDie Jahre der Nazi-Ära in Deutschland zwischen 1933 und 1945 und die Kriegsjahre von 1939 bis 1945 waren eine Zeit der Zerstörung, des Umbruchs und der Not innerhalb und außerhalb Europas. Vertreibung und Tod – sei es im Krieg oder im zivilen Leben – wurden zu alltäglichen Erfahrungen für Alt und Jung. Familien wurden durch Zwangsemigration oder Deportation auseinandergerissen. Eltern wurden von ihren Kindern, Männer von ihren Frauen, Brüder von ihren Schwestern, getrennt. Briefe, die oft ihren beabsichtigten Empfänger nie erreichten, waren meist die einzig bleibende Verbindung zwischen ihnen. Deshalb gewann dieser spärliche Postverkehr enorme Bedeutung sowohl für den Absender als auch für den Empfänger. Dies kann man heute im Zeitalter der Echtzeit-Kommunikation nur schwer nachvollziehen.
Fleeing from the Führer ist das Ergebnis einer sehr ungewöhnlichen postgeschichtlichen Sammlung, zusammengetragen in über 20 Jahren von einem Mann deutsch-jüdischer Herkunft, William Kaczynski, den seine Eltern 1939 zusammen mit seinem jüngeren Bruder nach der Flucht aus Deutschland sicher nach England gebracht hatten. Kaczynskis umfangreiche Sammlung besteht aus Postkarten, Briefumschlägen, anderen Ephemera und Erinnerungsstücken aus dem Bereich der Holocaust-Geschichte. Zum Teil handelt es sich um Briefmitteilungen an oder von Konzentrationslagerinsassen, Postkarten oder andere Dokumente, die das Leiden der Juden unter Hitler widerspiegeln. Der Hauptteil der Sammlung besteht jedoch aus Objekten aus den späten 30er-Jahren, die ihren Ursprung in der Massenemigration der europäischen Juden in die ganze Welt hatten.
Nach Kriegsausbruch fanden sich viele Flüchtlinge, welche vor Hitler geflüchtet und von denen manche schon im Deutschen Reich Gefangene gewesen waren, trotz ihres Flüchtlingsstatus erneut in Internierungslagern, da sie sich in den Augen des jeweiligen Gastlandes in „feindliche Ausländer“, enemy aliens, verwandelt hatten.
In diesem Buch finden sich Abbildungen von Briefen an und von internierten aliens in Internierungslagern in Großbritannien und der ganzen Welt, die in den meisten Fällen relativ schnell wieder ins Zivilleben entlassen wurden. Das Buch enthält auch wechselseitige Mitteilungen aus Internierungslagern in von den Deutschen besetzten Ländern wie Frankreich, wo die Internierung normalerweise die Vorstufe einer Deportation in ein deutsches Konzentrationslager und somit zum Tod darstellte. Alle Abbildungen begleitet ein erklärender |16|Kommentar, der oft das Ergebnis einer für die Postgeschichtsforschung typischen Detektivarbeit ist und die abgebildeten Briefe, Postkarten und Dokumente in ihren historischen Kontext stellt.
Weitere Kapitel dieses Buches belegen in Wort und Bild die Leistung humanitärer Hilfe für Internierte und Verfolgte, nicht nur durch Organisationen wie das Rote Kreuz, sondern auch durch einzelne außergewöhnliche Menschen, die Außergewöhnliches bewirkt haben. Auch die Abbildungen in diesem Kapitel zeigen Objekte aus Kaczynskis postgeschichtlicher Sammlung.
Ein Kapitel ist dem postalischen Kuriosum undercover mail gewidmet, das sowohl durch den Krieg getrennte Privatleute zur Kommunikation als auch die Alliierten zur Unterstützung ihrer Kriegsanstrengungen nutzten. Und schließlich, da das Ende der Feindseligkeiten keineswegs den Zwangsumsiedlungen und der menschlichen Not ein Ende setzte, umfasst das vorletzte Kapitel die wechselseitige Korrespondenz der Displaced-Persons-Lager, die noch in den Monaten und Jahren nach Kriegsende ein prägender Bestandteil der europäischen Landschaft bleiben sollten.
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Das Schicksal William Kaczynskis und seiner Familie ähnelt stark den Lebensgeschichten, die die Zeitdokumente seiner Sammlung implizit oder explizit erzählen. Er wurde als Sohn einer jüdischen Familie in Berlin im Jahr 1936 geboren, ungefähr zwei Jahre vor der sogenannten „Reichskristallnacht“, in welcher die Gewalt der Nationalsozialisten gegen ihre jüdischen Mitbürger ihren Anfang nahm. Sein Vater, Martin, Träger des Eisernen Kreuzes im Ersten Weltkrieg, wurde trotzdem verhaftet und in das Konzentrationslager Sachsenhausen deportiert, wo er von November 1938 bis Januar 1939 festgehalten wurde. Zahlreiche Häftlinge in Sachsenhausen überlebten die barbarischen Lebensbedingungen, denen sie ausgesetzt waren, nicht. Martin Kaczynski jedoch rettete sich seiner Überzeugung nach mit Hilfe eines Fensterrahmens. Diesen schleppte er den ganzen Tag durch das Lager unter dem Vorwand, er hätte Anweisung ihn zu einer der zahlreichen im Bau befindlichen Baracken zu tragen.
Martin Kaczynski verdankte seine Freilassung seiner Frau, die ihm während seiner Inhaftierung in Sachsenhausen eine Anstellung in Großbritannien – verbunden mit einer Arbeitserlaubnis und einem Visum – vermitteln konnte. Das war eine für die damalige Zeit beachtliche Leistung, da die ausländischen Botschaften von verzweifelten Emigranten, die Deutschland verlassen wollten, geradezu belagert wurden. Laut Familienlegende war es leichter für ihn, eine Stellung |17|als Damenhutfabrikant in England zu finden, da er für diese Tätigkeit nicht die englische Sprache beherrschen musste. Die Beschaffung der Auswanderungspapiere war jedoch nicht die einzige Schwierigkeit, mit der Edith Kaczynski während der Gefangenschaft ihres Mannes zu kämpfen hatte. Da die Juden in Deutschland zu jener Zeit keinen Zugang zu angemessener medizinischer Versorgung hatten, führte ein Unfall bei der Geburt ihres zweiten Sohnes im Dezember 1938 zu dessen halbseitiger Lähmung.
Abb. 1
Martin und Edith Kaczynski und ihre beiden Söhne erreichten am 15. Juli 1939 knapp sieben Wochen vor Kriegsausbruch Großbritannien. Abb. 1 zeigt die eidesstattliche Erklärung, die Ausreisewillige unterzeichnen mussten, um ihre persönlichen Habseligkeiten aus Deutschland mitnehmen zu können. Ediths Bruder Kurt, einem Arzt, war es schon früher geglückt, nach Großbritannien zu gelangen, aber ihre Schwester Sophie und ihr Mann Martin Happ erhielten keine Visa zur Ausreise aus Deutschland und kamen 1943 in Auschwitz um. Aufgrund einer vorherigen grausamen Laune des Schicksals, starb Vera, eines der beiden Kinder der Happs, die zunächst sicher mit einem Kindertransport nach Großbritannien gelangt war, kurz nach ihrer Ankunft im Alter von 14 Jahren an Meningitis.
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Abb. 2
|19|Mitte Mai 1940 führte Großbritannien die Masseninternierung von enemy aliens ein. Zu diesem Zeitpunkt schien eine Invasion des Vereinigten Königreichs durch die Deutschen unmittelbar bevorzustehen, und Martin Kaczynski wurde erneut verhaftet und zunächst in das Huyton Camp in der Nähe von Liverpool gebracht. Von dort wurde er in das Onchan Camp in Douglas auf der Isle of Man verlegt. Obwohl man Frauen normalerweise viel seltener in Internierungslagern festhielt, wurde auch Edith Kaczynski mit ihren beiden kleinen Söhnen interniert und in dem Frauenlager auf der südlichen Halbinsel der Isle of Man festgehalten. Das Lager, das sich in und unmittelbar um die zwei Küstendörfer Port Erin und Port St. Mary befand, war allgemein als Rushen Camp bekannt. Die Familie blieb zehn Monate im Internierungslager und wurde schließlich am 25. März 1941 freigelassen.
William Kaczynski war damals vier Jahre alt und kann sich nur noch schwach an Gegebenheiten aus dieser Zeit erinnern. Eine Erinnerung an eine Begegnung mit Ratten hat allerdings einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Eine andere, glücklichere Erinnerung betrifft einen Besuch der männlichen Internierten, darunter auch sein Vater, bei ihren Frauen und Kindern in Rushen Camp. Er erinnert sich auch an den Moment, in dem seine Mutter endlich ihre Entlassungspapiere erhielt (Abb. 2).
Übersetzung des Dokuments:
Der Inhaber dieses Dokuments EDITH SARA LEONE ISOLDE KACZYNSKI, deren Unterschrift unten angehängt ist, wurde nach Königlichem Hoheitsrecht interniert und wird jetzt durch den Innenminister bis auf Weiteres von der Internierung und von den für „enemy aliens“ nach der Aliens Order, 1920, in der jeweilig gültigen Fassung geltenden Einschränkungen ausgenommen.
Sie wird demgemäß aus der Internierung entlassen und wird sich anschließend von Liverpool oder Fleetwood nach London, 51–53 Bartholomew Close, Aldersgate, EC1, begeben.
Dieses Dokument wird als Bescheinigung ausgestellt, dass EDITH SARA LEONE ISOLDE KACZYNSKI sich umgehend nach Ankunft an ihrem Bestimmungsort bei der zuständigen Registrierungsstelle zu melden hat.
Unter Vorlage ihrer Meldebescheinigung und dieses Dokuments wird die Meldebehörde ersucht: –
1. Die Bescheinigung „Wird jetzt durch den Innenminister bis auf Weiteres von der Internierung und von den für „enemy aliens“ nach der Aliens Order, 1920, in der jeweilig gültigen Fassung geltenden Einschränkungen |20|ausgenommen“ mit einem Datum und einem Polizeistempel zu versehen.
2. Falls der Alien noch nicht in ihrem Bezirk registriert ist, die notwendigen Schritte zu ihrer Ummeldung zu unternehmen.
3. Dieses Dokument in gerichtliche Verwahrung zu nehmen.
Bestätigt durch pp. Joanna M. Cruickshank .................... Unterschrift
Kommandant
Datum | Hauptquartier |
Internierungslager für Frauen | |
25. März 1941 | |
Port Erin, Isle of Man |
Unterschrift des Inhabers Edith Kaczynski
Im Rahmen des reichen kulturellen Lebens, das sich in allen Internierungslagern auf der Isle of Man und auch in Rushen Camp entwickelte, verdiente Edith Kaczynski, als professionelle Sängerin, anfangs ein wenig Geld mit der Erteilung von Gesangsunterricht an Mitinternierte. Als ihr jüngerer Sohn Edward im Alter von 18 Monaten seinen gelähmten Arm zu bewegen begann, bot sie ihre Gesangsstunden ab diesem Zeitpunkt aus Dankbarkeit kostenlos an.
Abb. 3 zeigt den diesbezüglichen Anschlag im Lager.
Zu dieser Zeit befand sich unter ihren Schülern die junge Sopranistin Ilse Wolf, die später große Gesangskarriere machte, und als erste Sängerin deutsche Kunstlieder bei den Promenadekonzerten in London vortrug. Nach ihrer Internierung kehrten die Kaczynskis nach London, zunächst nach Aldersgate und dann nach Hampstead Garden Suburb, zurück und wurden zu gegebener Zeit als britische Staatsangehörige eingebürgert. Wolfgang Happ, das einzige überlebende Kind von Sophie und Martin Happ, war von Großbritannien nach Kanada deportiert und dort interniert worden. Während der Internierung blieb er in Kontakt mit Edith Kaczynski. Sein Brief aus Camp N in Kanada vom 11. März 1941 an seine Tante in Port St. Mary, Isle of Man, erweckte William Kaczynskis Interesse (Abb. 4a, b).
Transkription des Briefinhalts:1
FROM: | TO: |
WOLFGANG HAPP. | MRS. MARTIN KACZYNSKI |
INTERNMENT CAMP: N. | BALLA QUEENEY. |
BASE ARMY POST OFF. | PORT ST. MARY. |
OTTAWA, ONTARIO. | ISLE OF MAN. |
CANADA | GREAT BRITAIN. |
|21|Liebe Tante Edith,
recht herzlichen Dank für Deine so lieben Zeilen. Ich hatte schon seit langem versucht Deine Adresse zu erfahren, und Du kannst Dir denken, wie ich mich mit Deinem lieben Brief gefreut habe. Ich hoffe, dass Edwardchen, der gerade krank war, wie Du mir den Brief schriebst, wieder gesund ist. Ich hoffe sogar, dass Ihr schon alle kurz vor der Freilassung steht, und bald alle wieder glücklich mit Onkel Martin vereint seid. Die furchtbare Nachricht über Weras so plötzlich Hinscheiden, habe ich von ihren Pflegeeltern und von Onkel Kurt schon bekommen. Du kannst Dir denken, was sie mir war. Es war mein ganzer Ehrgeiz, im Stande zu sein dass ihr bald helfen könnte und ihr eine sorglose Jugend zu bereiten. Ja Gott hat es anders gewollt. Ich habe mich auch darauf entschlossen, wenn es in meinen Kräften steht, nicht wieder nach Europa zurückzukehren. Obwohl es hier oft sehr schwer ist, nicht den Mut zu verlieren, habe ich immer die Hoffnung, dass es auf diesem grossen Kontinent noch ein friedliches Plätzchen gibt. Mir geht es gesundheitlich gut, und ich versuche in meiner Freizeit mich in meinem Beruf weiterzubilden, soweit dies unter den bedingten Umständen möglich ist. (Hoffentlich) geht es Dir und den Kindern gut. An Onkel Martin werde ich in meinem nächsten Briefe schreiben. Von den Eltern höre ich regelmässig, sie fragten sehr oft nach Dir und Deinen Kindern. Auch ich habe mein Affidavit von meinem Freund in Los Angeles zugesichert bekommen, ich fürchte aber dass wenig Aussicht besteht, vor Ende dieses Jahres auszuwandern. Wenn Du kannst, schreibe bald wieder, Du weisst ja wie man sich über jeden Brief freut. Leide habe ich nur 24 Zeilen, deshalb für heute, viele herzliche Grüsse und Küsse,
immer Dein Wolfgang.
Kaczynski, der auch schon Briefmarken sammelte, begann postgeschichtliche Dokumente über die Leiden der Juden im Allgemeinen und vor allem der Flüchtlinge im Zweiten Weltkrieg zusammenzutragen.
Seitdem hat William Kaczynski beständig seine Sammlung erweitert. Sie umfasst eine Fülle an Postsachen und zahlreiche andere Dokumente, die mit Konzentrations- und Internierungslagern in aller Welt in Verbindung gebracht werden können und aus der Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegszeit stammen. Eine seiner letzten – und von ihm am meisten geschätzten – Neuerwerbungen ist ein „Wallenberg Schutzpass“. Diese Pässe waren von Raoul Wallenberg ausgestellt worden, um ungarischen Juden die Flucht nach Schweden zu ermöglichen |22|und so ihr Leben zu retten (s. Kap. 10). Kaczynskis außergewöhnliche Sammlung, auf der dieses Buch beruht, bezeugt nicht nur die von Nazismus und Krieg weltweit verursachten Leiden, sondern auch die Kraft des menschlichen Geistes in schweren Zeiten.
Abb. 3
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Abb. 4 a + b