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Emigration aus Deutschland und Österreich
ОглавлениеAb 1938, nach dem Anschluss Österreichs im März und der „Reichskristallnacht“ in Deutschland und Österreich im November, war die der jüdischen Bevölkerung drohende Gefahr für alle offensichtlich. Inzwischen war der Wunsch, zu emigrieren, auch für diejenigen, die dies bis dahin als weit hergeholt oder unmöglich angesehen hatten, akut geworden. Relativ wenige politische Exilanten und rassisch Verfolgte hatten Deutschland in den ersten Jahren des Nationalsozialismus verlassen. Von denjenigen, die gegangen waren, hatten sich viele in den angrenzenden Ländern wie Frankreich, der Tschechoslowakei und in Österreich – vor dessen „Anschluss ans Reich“ – niedergelassen, also in Ländern, die kulturell und geografisch leichter für sie zugänglich waren. Die Lage hatte sich jedoch bis 1938 so dramatisch verschlechtert, dass eine wesentlich größere Anzahl an Menschen extremere Maßnahmen ergriff.
Tag für Tag wurden die Botschaften, Konsulate und Gesandtschaften von Ländern der ganzen Welt Zeugen langer Schlangen angehender Emigranten, die noch nicht einmal sicher sein konnten, dass sie bis zum Ende des Tages den Kopf der Schlange erreichen würden. Visumantragsteller mussten sich nicht nur auf tagelange Wartezeiten einstellen, sondern mussten sich auch alle möglichen Beschimpfungen und Demütigungen gefallen lassen, z.B. von schaulustigen Nazis dazu gezwungen zu werden, deren Auto zu waschen.1
Eines der Lieblingsziele waren die Vereinigten Staaten. Trotz ihrer Reputation als Zufluchtsort für Zuwanderer auf der Suche nach einem besseren Leben hatten die Vereinigten Staaten ein jährliches Quotensystem für jede Nationalität eingeführt, sodass deutsche und österreichische Antragssteller, deren nationale Quoten wegen der großen Nachfrage sehr schnell ausgeschöpft waren, auf eine Warteliste gesetzt werden mussten, was ihre Emigration um Monate oder sogar Jahre verzögerte.
Auch Palästina galt als offensichtliches Ziel für jüdische Flüchtlinge, obwohl viele potenzielle Auswanderer, die sich in die deutsche und österreichische Mittelschicht |33|assimiliert hatten, von den primitiven Lebensbedingungen in dem aufstrebenden Land abgeschreckt wurden. Außerdem wurde Palästina unter dem Mandat der League of Nations von Großbritannien verwaltet, das in der zweiten Hälfte der 30er-Jahre eine Politik verfolgte, die die Aufnahme jüdischer Flüchtlinge beschränkte, um die arabische Bevölkerung zu beschwichtigen. Dennoch wurden in dem Zeitraum zwischen 1933 und 1939 174.000 Österreicher und Deutsche legal in Palästina aufgenommen.
Als die Anzahl der jüdischen Flüchtlinge 1933 noch relativ gering war, übernahm die anglo-jüdische Gemeinde in Großbritannien eine finanzielle Garantie für die Unterstützung der Neuankömmlinge, sodass bedürftige Einwanderer nicht dem britischen Steuerzahler zur Last fallen würden. Außerdem konnten Deutsche und Österreicher, die in Besitz eines Reisepasses waren, noch ohne ein zuvor ausgestelltes Visum einreisen, da die Einwanderungskontrolle erst bei der Ankunft in Großbritannien stattfand.
Anfang 1938 befanden sich schätzungsweise 10.000 deutschsprachige Flüchtlinge in Großbritannien.2 Im Lauf des Jahres 1938 spitzte sich die Lage jedoch zu: Nur wenige Stunden nach dem „Anschluss“ Österreichs, sah sich die anglo-jüdische Gemeinde angesichts der potenziellen Erhöhung der Flüchtlingszahlen gezwungen, dem Innenministerium mitzuteilen, dass sie keine weitere allgemeine Garantie für alle Neuankömmlinge übernehmen könne. Im Mai 1938 gab das Innenministerium bekannt, dass von nun an eine Visumspflicht für alle zukünftigen deutschen und österreichischen Einwanderer nach Großbritannien gelte. Mit einigen Ausnahmen von wohlhabenden oder berühmten Flüchtlingen wurden Visa zur Einreise nach Großbritannien generell nur bestimmten Bewerbern ausgestellt, für die – wie z.B. für Hausangestellte oder für Arbeitskräfte in der Landwirtschaft – ein Bedarf bestand.3 Folglich gab es zahlreiche Geschichten von deutschen und österreichischen Frauen aus großbürgerlichen Verhältnissen, die zu Hause eigene Dienstboten gehabt hatten, und nun, um den Visumsbestimmungen zu genügen, niedere Tätigkeiten in britischen Haushalten verrichten mussten, für die sie nur wenig geeignet waren.4
Außerdem wurde den Menschen die Flucht von den deutschen und österreichischen Behörden erschwert: Sie mussten zahlreiche Dokumente vorlegen, unter anderem eine Ausreiseerlaubnis, ein Führungszeugnis und eine Bestätigung, dass alle Steuern ordnungsgemäß bezahlt worden waren. Es wurden noch zusätzliche Steuern von den Ausreisenden erhoben, die ab 1938 nur noch den armseligen Betrag von 10 Reichsmark ausführen durften. Vor 1938 waren die Emigranten weniger drakonischen finanziellen Beschränkungen unterworfen.5 |34|Trotz all dieser Hindernisse und Hürden ging die Emigration in großem Umfang weiter, und, als ein Krieg immer wahrscheinlicher wurde, in alle Länder, die den Flüchtlingen noch offenstanden, auch wenn sie am anderen Ende der Welt lagen wie Shanghai oder Südamerika. Bis zum Oktober 1939 verließen etwa 400.000 rassisch oder politisch Verfolgte das Deutsche Reich.6
Als Beispiel für eine Flucht in entlegene Länder bietet sich die Fahrt des deutschen Ozeanliners MS St. Louis an, der im Mai 1939 in Hamburg ablegte. An Bord befanden sich 936 meist aus Deutschland stammende jüdische Flüchtlinge und ein „Arier“, die Visa zur Einreise nach Kuba gekauft hatten. Viele dieser Flüchtlinge wollten natürlich nicht für immer in Kuba bleiben, sondern planten, dort auf eine Einreisemöglichkeit nach Amerika zu warten. Als das Schiff jedoch am 27. Mai in Havanna anlegte, hatten nur 29 Passagiere, darunter 22 Flüchtlinge, eine gültige Einreiseerlaubnis und durften von Bord. Dieser Vorfall stürzte die übrigen Passagiere in tiefste Verzweiflung und trieb sie fast zur Meuterei; einige versuchten, sich umzubringen oder drohten mit Selbstmord. Diese unglückselige Reise und die hoffnungslose Lage der Flüchtlinge, die später in dem 1974 erschienenen Buch Das Schiff der Verdammten und dem nachfolgenden Film7 dokumentiert wurde, erregte Aufmerksamkeit auf der ganzen Welt, vor allem, nachdem sowohl die Vereinigten Staaten als auch Kanada den glücklosen Flüchtlingen die Einreise verweigert hatten.
Der Kapitän, Gustav Schröder, ließ nichts unversucht, um einen sicheren Zufluchtsort für seine Passagiere zu finden. Er missachtete sogar den Befehl der deutschen Regierung, sie nach Deutschland zurückzubringen, da er sich sehr wohl des Schicksals bewusst war, das die Flüchtlinge dort erwartete. Am Ende hatte das Schiff keine andere Möglichkeit, als nach Europa zurückzukehren. Nach Verhandlungen mit dem American Jewish Joint Distribution Committee (Joint) konnten einige europäische Länder dazu gebracht werden, einen Teil der Passagiere aufzunehmen. 288 gingen nach Großbritannien, 224 nach Frankreich, 214 nach Belgien und 181 in die Niederlande. Viele derer, die nach Kontinentaleuropa zurückkehren mussten, starben schließlich in Konzentrationslagern. Eine ausführliche Studie zu den Passagieren der St. Louis und ihrem endgültigen Schicksal ergibt, dass 254 der Flüchtlinge, die in Frankreich, Belgien und in den Niederlanden Zuflucht gesucht hatten, während des Holocaust, vornehmlich in Auschwitz und Sobibor, ums Leben kamen.8
Abb. 13 zeigt die Gertrud Scheuer erteilte Einreisegenehmigung nach Kuba. Die meisten Passagiere besaßen eine solche Genehmigung, die jedoch bei der Ankunft in Kuba nicht anerkannt wurde. Links daneben ist ein Foto von Gertrud |36|Scheuer selbst an Bord der St. Louis. Abb. 14 ist eine an jenem schicksalshaften Tag, dem 27. Mai 1939, von der St. Louis verschickte Postkarte – eindeutig geschrieben, bevor den Passagieren die Einreise nach Kuba verweigert wurde. Der von R. und M. Ball verfasste und an einen Empfänger in Berlin, Herrn Honigbaum, gerichtete Text lautet: „Nach herrlicher glücklicher Fahrt kurz vor dem vorläufigen Ziel senden wir Ihnen die besten Grüße und wünschen Ihnen Alles Gute.“ Rudolf und Magdalena Ball mussten beide nach Kontinentaleuropa zurückkehren. Magdalena Balls letzter bekannter Aufenthaltsort war Frankreich, der ihres Mannes Auschwitz.9 Von Gertrud Scheuer, die wie Herr und Frau Ball nach Kontinentaleuropa zurückgebracht wurde, ist bekannt, dass sie die Kriegsjahre in einem Versteck in Holland verbrachte und später dann als Soldatenbraut in die Vereinigten Staaten gelangte.10
Abb. 13
Abb. 14
Selbst wenn erwachsene Ausreisewillige kein Land finden konnten, das sie aufnehmen wollte, wurden dennoch Vorbereitungen für die Emigration ihrer unbegleiteten Kinder in einem der Kindertransporte getroffen, die ab Ende 1938 bis zum Kriegsausbruch im September 1939 aus Berlin, Wien und Prag abfuhren,11 und die Kinder in Länder wie Schweden, Holland und vor allem nach Großbritannien brachten, die sich bereit erklärt hatten, sie aufzunehmen.
Durch eine von dem Movement for the Care of Children from Germany (später Refugee Children’s Movement, abgekürzt RCM, s. Kap. 8) organisierte beispielslose humanitäre Mission und nach der Erklärung des Innenministers im November, dass Kindern, für deren Unterhalt eine Garantie vorlag, Einreisevisa ausgestellt würden, nahm Großbritannien fast 10.000 jüdische Kinder im Alter von drei Monaten bis 17 Jahren auf.12 Der Schmerz der Eltern, die ihre Kinder und Babys fortschicken mussten, um deren Leben zu retten, ist fast unvorstellbar. Viele Kinder, die an Pflegeeltern übergeben oder in Heime gebracht wurden, da keine Familien für sie gefunden werden konnten, erfuhren ebenfalls unermessliches Leid. Obwohl einige Kinder später wieder mit ihrer Familie vereint wurden, sahen die meisten ihre Eltern nie wieder.
Abb. 15 zeigt das britische Ausweisdokument der neunjährigen Helga Wertheimer (jetzt Bellenger), die Wien am Vorabend des Kriegsausbruchs mit der abgebildeten Nummer 6165 um den Hals, verließ. Sie hatte Glück und wurde von einem freundlichen Ehepaar in Kidderminster aufgenommen, das sie wie ihre eigene Tochter behandelte. Die Unterbringung der meisten Kinder funktionierte jedoch längst nicht so reibungslos. Helgas Vater kam in Auschwitz um, während andere Familienmitglieder an einem nicht bekannten Ort in Polen erschossen wurden. Abb. 16 ist ein Foto aus dem Daily Express aus dem Jahr 2005, |37|auf dem Helga viele Jahre später zu sehen ist. Auf einem Empfang für ehemalige „Kindertransport-Kinder“ zeigt sie der Duchess of Cornwall ebendas Schildchen mit der Nummer 6165. Auf Abb. 17 sieht man Frank Meislers Kindertransport-Mahnmal vor dem Liverpool-Street-Bahnhof, wo die meisten Züge mit den Flüchtlingskindern aus Harwich, der letzten Etappe ihrer langen Reise, ankamen.
Abb. 15
Eines der Heime, in dem Kinder auf die Unterbringung bei Pflegeeltern warteten, war das Dovercourt Bay Camp bei Harwich, ein ehemaliges Ferienlager, das nach Aufnahme von 1000 jungen Insassen bald seine Kapazitätsgrenze erreicht hatte. Sie waren in Hütten untergebracht, die ursprünglich für |39|Sommergäste gedacht waren, und empfanden den Winter ohne Heizung als bitterkalt. Die Kinder durften die Freizeiteinrichtungen des Lagers benutzen, und es gab auch Unterhaltungs- und Fortbildungsangebote (z.B. Englischunterricht), wenngleich Langeweile und Heimweh ein großes Problem darstellten. Sonntags kamen zukünftige Pflegeeltern zu Besuch. Dies war eine potenziell sehr aufreibende Erfahrung für die Kinder, die von keiner Familie ausgewählt wurden, oder für Geschwister, die getrennt wurden.
Abb. 16
Abb. 17
Abb. 18
Abb. 18 zeigt einen Brief eines Ehepaars an ihren Sohn, Otto Lichtenstein, der im Dezember 1938 mit einem Kindertransport aus Köln angekommen und zu dieser Zeit in Dovercourt untergebracht war. Der Brief wurde in Mayen, Deutschland am 12. Februar 1939 aufgegeben.13 Von Dovercourt wurde Otto nicht zu Pflegeeltern, sondern in das Kitchener Camp (s. Kap. 4), ein Lager für junge männliche Flüchtlinge in Richborough, bei Sandwich in Kent, verlegt. Wie viele der Kindertransport-Kinder sah Otto Lichtenstein, der seinen Namen später in Frank Henley abänderte, weder seine Eltern noch seine Schwester jemals wieder.