Читать книгу Fleeing from the Führer - Charmian Brinson - Страница 16
|41|Frankreich
ОглавлениеIn Frankreich gab es im ganzen Land, d.h. in beiden Zonen Internierungslager.1 In dem der Vichy-Regierung unterstellten Teil Frankreichs, gab es Lager in Gurs (Basses Pyrénées), in Rivesaltes (Pyrénées-Orientales) und in Les Milles (Bouches du Rhône). Diese hatten ursprünglich der Internierung der Flüchtlinge der Zweiten Spanischen Republik und der ehemaligen Mitglieder der Internationalen Brigaden, die nach Ende des Spanischen Bürgerkriegs nach Frankreich geflohen waren, gedient. Bald jedoch beherbergten diese bereits bestehenden Lager zusätzliche neue Lager und Gefangenenlager – insgesamt mehr als 1002 – eine extrem gemischte Population aus deutschen Nazi-Gegnern, jüdischen Flüchtlingen, deutschen Kriegsgefangenen und gewöhnlichen Gefangenen. Die französische Kriegserklärung an das Deutsche Reich im September 1939 führte zur Internierung zahlloser Deutscher und Österreicher, obwohl viele von ihnen einen nachweislich antinationalsozialistischen Hintergrund hatten. Die meisten dieser Gefangenen wurden jedoch relativ schnell wieder freigelassen. Als der Einmarsch in Frankreich unmittelbar bevorstand, wurde die Masseninternierung „feindlicher Ausländer“, sujets d’un pays enemi, im Alter von 17 bis 55 Jahren angeordnet. In dem Chaos, das auf die Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens folgte, gelang einigen dieser Internierten die Flucht; die anderen wurden jedoch den nationalsozialistischen Obrigkeiten ausgehändigt.
Das Internierungslager in Gurs, eines der größeren Lager in Südfrankreich, das nur 34 km von der spanischen Grenze entfernt lag, wurde zu einem Zufluchtsort für jüdische und andere Flüchtlinge, die versuchten, in neutrale Länder zu fliehen.3 In den Wochen vor dem deutsch-französischen Waffenstillstand benutzte die Dritte Republik das Lager zur Internierung von „Unerwünschten“, indésirables. Unter ihnen befanden sich Deutsche, Österreicher und Tschechen, von denen viele Juden waren, die sich bei Kriegsausbruch in Frankreich aufgehalten hatten. Nach der Unterzeichnung des Waffenstillstandes benutzte das Vichy-Regime das Lager weiter zur Internierung derselben Personengruppen, zu denen jedoch im Oktober 1940 15.000 deutsche Juden hinzukamen, die von Baden-Baden nach Westen transportiert worden waren. Insgesamt wurden von 1938 bis zur Befreiung zeitweise ungefähr 60.000 Internierte in Gurs festgehalten.4 Es war eng im Lager, die Lebensbedingungen waren hart und Krankheiten weit verbreitet. 1260 deutsche Juden starben in Gurs, 600 weitere in anderen Vichy-Lagern in der Nähe der Pyrenäen.5 Die Sicherheitsmaßnahmen waren aber nicht sehr streng, und es gelang vor allem denjenigen zu fliehen, die über |42|Verbindungen nach außen verfügten. Unter den namhaften Persönlichkeiten, die in Gurs interniert waren, befanden sich die Philosophin Hannah Arendt, die nach einigen Wochen fliehen konnte und bald in den Vereinigten Staaten Zuflucht fand; die Nazi-Gegnerin und Aktivistin Lisa Fittko, die ihre Internierung, ihre Flucht, die in Kuba endete, und ihre Bemühungen, anderen zur Flucht zu verhelfen, sehr anschaulich in ihrem Buch Mein Weg über die Pyrenäen (1985) beschreibt6 und die Künstlerin Charlotte Salomon, die anfangs wegen der Erkrankung ihres Großvaters aus Gurs entlassen wurde, um später wieder in Drancy bei Paris interniert und von dort nach Auschwitz deportiert zu werden, wo sie verstarb.
Abb. 19, ein Umschlag aus Gurs, datiert 3. Januar 1941, wurde von der Internierten Hannchen Weinschenk an eine Empfängerin mit demselben Nachnamen, Ruth Weinschenk in New York, geschickt. Der doppelte, ovale Stempel des Zensors ist auf Französisch, da das Lager unter der Aufsicht des Innenministeriums des Vichy-Regimes stand. Die zentrale Datenbank der Shoa-Opfer belegt, dass Hannchen Weinschenk im August 1942 aus dem Lager in Drancy, in das sie höchstwahrscheinlich aus Gurs gekommen war, nach Auschwitz deportiert wurde und dort wie Charlotte Salomon starb.7
Abb. 19
|43|Die Lebensbedingungen im Lager in Rivesaltes, das sich ebenfalls in der Nähe der spanischen Grenze befand, waren offensichtlich noch schlechter als die im Lager Gurs. Es mangelte unter anderem an Nahrung, und es gab keine angemessenen sanitären Einrichtungen.8 Die Todesrate war nicht so hoch wie in Gurs, aber die Situation wurde durch die Anwesenheit einer großen Anzahl von Kindern im Lager verschlimmert. Rivesaltes war offiziell als Familienlager designiert worden. Abb. 20a, b ist eine Postkarte, die am 11. August 1940 von Lucie Kallmann, die mit ihrem Mann in Rivesaltes war, an Henri Bloch in Paris geschickt wurde. Diese Karte trägt ebenfalls den ovalen Zensurstempel des französischen Innenministeriums.
Die 20 Zeilen auf der auf Französisch geschriebenen Postkarte verraten ein wenig über ihre ausweglose Lage:
9. August 1941. Lieber Henri! Ich habe Ihre Karte vom 31. Juli erhalten, und heute kam Ihre Postanweisung über 100 Francs an und ich danke Ihnen sehr dafür. Es tut mir sehr leid, dass Sie so viele Krankheiten in der Familie haben, ich hoffe jedoch, dass es allen besser geht. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass Sie viele Sorgen haben. Es ist jetzt 10 Monate her, dass wir unser Heim innerhalb einer Stunde verlassen und all unser Eigentum zurücklassen mussten. Ich weiß, dass Sie alles für uns tun, was Sie können. Andererseits wissen Sie auch, dass ich um gar nichts bitten würde, handelte es sich nicht um einen Notfall. Wir sind Ihnen sehr dankbar für alles, was Sie für uns tun. Vielleicht wäre es Ihnen möglich, uns Brot zu schicken. Unsere Kinder, eine 16-jährige Tochter und ein 11-jähriger Junge, waren in Gurs mit uns. Sie sind jetzt schon seit einigen Monaten in der Maison des Pupilles in Aspet (Haute Garonne). Mein Mann ist auch hier. Vielleicht gibt es ja noch jemanden aus unserer Familie, der uns helfen kann. Ich will nichts über uns schreiben, ich glaube Sie wissen über unsere Situation Bescheid. Ich hoffe, bald wieder von Ihnen zu hören. Lucie Kallmann
Während nichts über das Schicksal von Lucie Kallmann bekannt ist, sollte darauf hingewiesen werden, dass Rivesaltes im Jahr 1942 in ein Centre national de rassemblement des Israélites, d.h. in ein Sammellager umgewandelt wurde, von dem aus Juden über Drancy in Vernichtungslager wie Ausschwitz transportiert wurden. Es wird berichtet, dass 2300 Juden aus Rivesaltes deportiert wurden.9
Ein anderes Internierungslager in Südfrankreich, Les Milles bei Aix en Provence, war ein wichtiger Sammelpunkt für Ausländer. Es beherbergte eine große Anzahl deutscher und österreichischer Künstler und Intellektueller, darunter |45|den berühmten Schriftsteller Lion Feuchtwanger und den Historiker Golo Mann, eines der sechs Kinder Thomas Manns. Aus diesem Grund verfügten die Internierten in Les Milles, trotz der Überfüllung und des harten Lagerlebens, über ein reiches kulturelles und intellektuelles Leben. Feuchtwanger entkam aus dem Lager und floh nach New York mit Hilfe von Varian Fry, einem amerikanischen Rettungshelfer, der viele Deutsche und Österreicher auf diese Weise unterstützte (s. Kap. 10).10 Golo Mann wurde im August 1940 nach einer Intervention des Fry Komitees aus Les Milles entlassen. Im darauffolgenden Monat nahm er den anstrengenden Fluchtweg über die Pyrenäen nach Spanien und gelangte von dort in die Vereinigten Staaten. Fluchtwege und Entlassungen dieser Art aus Les Milles waren in keiner Weise einzigartig. Tatsächlich war Les Milles ab November 1940 das einzige Durchgangslager in Frankreich, von dem aus eine weitere Emigration nach Übersee legal – mit Hilfe der entsprechenden Organisationen und Netzwerke – bewerkstelligt werden konnte.11 Im März 1941 eröffnete zum Beispiel die jüdische Hilfsorganisation HICEM (s. Kap. 8) ein Büro im Lager. Dennoch wurde 1942, trotz der Anwesenheit externer Hilfsorganisationen, eine große Anzahl von Häftlingen von Les Milles nach Drancy und von dort in den meisten Fällen in die Vernichtungslager im Osten transportiert.
Abb. 20a
Abb. 20b
Abb. 21 ist eine Postkarte des Internierten Isidor Goldstein aus Les Milles an seine Frau Anny in New York, datiert 24. September 1941. Sie zeichnet sich dadurch |46|aus, dass eine der „Briefmarken“ eigentlich ein Foto des Schreibers ist. Goldstein war in Les Milles vom 15. Januar 1941 bis 13. April 1942 interniert. Diese Information kommt von der Association Philatelique du Pays d’Aix, die auch Abbildungen weiterer Postkarten Isidor Goldsteins veröffentlicht hat. Auf der ersten dieser Karten vom 26. Februar 1941, deren Vorderseite mit Briefmarken – jedoch ohne das persönliche Foto – bedeckt ist, weist Goldstein seine Frau an, die Briefmarken nicht abzulösen, da die Karte im Originalzustand wertvoller sein würde – ein vielleicht ungewöhnlicher Weitblick für einen Mann in seiner Lage. Aus dem Inhalt von Goldsteins Postkarten geht klar hervor, dass er seine Zeit während der Internierung damit verbrachte, die für seine Emigration erforderlichen Papiere und Genehmigungen mit Hilfe der Konsularbeamten und Hilfsorganisationen zu beantragen. Es gelang ihm, Frankreich am 28. April 1942 zwei Wochen nach seiner Freilassung an Bord des Schiffes L’Imérethie zu verlassen.12
Abb. 21
Das Durchgangslager Drancy, in einem Vorort von Paris, war von den Vichy-Behörden im August 1941 in einer unvollendeten Apartment-Anlage ohne Möbel und sanitäre Anlagen errichtet worden. Es war hauptsächlich für die Internierung von Juden gedacht, aber es wurden dort auch Homosexuelle, Sinti und Roma und andere indésirables festgehalten. Die Bedingungen in Drancy selbst und das Verhalten der französischen Wachen waren extrem brutal. Das Lager wurde die größte Sammelstelle zur Deportation der Juden aus Frankreich: Insgesamt 67.000 Menschen,13 von denen viele ursprünglich in anderen Lagern in Frankreich interniert waren, wurden aus Drancy deportiert. Ab 1942 wurden sie in Vernichtungslager, hauptsächlich nach Auschwitz, gebracht.
Abb. 22 zeigt den Umschlag eines Briefes von Camille Caen, in Drancy, an Alice Raux, datiert 21. Juni 1943. Er trägt den runden, lilafarbenen Zensurstempel Préfecture de Police, Camp d’Internement de Drancy, Bureau de la Censure. Der Philatelist Albert Friedberg, der andere Briefe desselben Briefwechsels, datiert 10. Juni bis 23. August 1943, entdeckt hat, veröffentlichte einen Artikel über seine Nachforschungen in der Zeitschrift Israel Philatelist. Caen war ein französischer Geschäftsmann, der im Ersten Weltkrieg ausgezeichnet und als französischer Jude wahrscheinlich im Mai 1942 verhaftet worden war. Er bat Alice Raux, die Tochter eines früheren Geschäftskontakts um Hilfe. Die Familie Raux schickte ihm während seiner Internierung Briefe und Essen. Alice Raux schrieb sogar an Maréchal Pétain, den Staatschef des Vichy-Regimes, und bat um die Freilassung Caens, jedoch ohne Erfolg. Laut Friedberg wurde Caen am 17. Dezember 1943 nach Auschwitz deportiert und kam dort um.14
Abb. 22