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Lamarck und Spencer
ОглавлениеIn Darwins Studienzeit lag die Idee der Evolution geradezu in der Luft. Es waren sogar schon mehrere, wenn auch unzulängliche Evolutionstheorien in Umlauf. 1794 hatte Charles Darwins Großvater Erasmus Darwin in seiner medizinischen Abhandlung Zoonomia or the laws of organic life die kühne Behauptung aufgestellt, alle Lebewesen stammten von einer „lebendigen Faser“ ab (a single living filament). Auch der französische Naturforscher Jean-Baptiste de Lamarck stellte im 18. Jahrhundert eine Evolutionstheorie auf, der zufolge das organische Leben durch eine „innere Kraft“, eine Tendenz zur Höherentwicklung, angetrieben wird. Er postulierte das Prinzip des Gebrauchs und Nichtgebrauchs und die Vererbung erworbener Eigenschaften. Ein umweltbedingt stärkerer oder schwächerer Gebrauch könne einen bestimmten Körperteil verändern. Ein Schmied etwa, der sein Leben lang am Amboss steht, entwickelt kräftige Bizepse. Umgekehrt wird ein Körperteil, der nicht oder kaum benutzt wird, allmählich verkümmern. Astronauten, die sich monatelang in einer Raumstation aufhalten, verlieren einen beträchtlichen Teil ihrer Muskelmasse und ihres Knochengewebes, weil sie sich in der Schwerelosigkeit kaum anzustrengen brauchen. Wenn nun solche zu Lebzeiten erworbenen (oder verlorenen) Merkmale erblich sind – wie Lamarck postulierte – wird der Schmied seine muskulösen Arme an seine Kinder vererben. Von einem gerade aus dem Weltall zurückgekehrten Astronauten gezeugte Kinder dagegen werden eher schmächtig zur Welt kommen. Auf diese Weise, so dachte Lamarck, war die Giraffe zu ihrem langen Hals gekommen. Generationen von Giraffen hätten sich immer ein wenig höher gestreckt, um an die saftigsten Akazienblätter zu gelangen. Die Lamarck’sche Evolution verläuft schnell und effektiv: Jede neue Generation erntet die Früchte der vorhergehenden. Darwin kannte Lamarcks Theorie und sollte sich später mehrmals auf sie berufen. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, einige Jahre nach Darwins Tod, sollte sich die Unhaltbarkeit von Lamarcks Vererbungstheorie erweisen.
Ein anderer, der schon vor Darwin über Evolution publizierte, war der englische Philosoph und Soziologe Herbert Spencer. Wie Darwin ließ auch Spencer sich von Lamarck inspirieren. Dessen Evolutionstheorie bot eine Erklärung für schnelle, progressive Veränderungen. Bei Spencer ist die Evolution anfangs eher ein allgemeines, metaphysisches Prinzip als eine wissenschaftliche Hypothese. Nicht nur in der lebenden Natur, sondern im ganzen Universum sei eine Entwicklung vom Homogenen zum Heterogenen feststellbar, vom Einfachen zum Vielfältigen. Alles tendiere zu immer größerer Komplexität. Evolution impliziert nach Spencer zudem Fortschritt. Progressive Entwicklung sei eine natürliche Gesetzmäßigkeit. Mit dieser Auffassung stand Spencer übrigens nicht allein. Der Fortschrittsglaube war tief im Denken des 19. Jahrhunderts verankert. Nachdem Spencer Darwins Evolutionstheorie kennengelernt hatte, wurden seine Ideen erheblich konkreter.
Bekannt ist Spencer vor allem als Vater des Sozialdarwinismus, der Darwins Theorie auf die Gesellschaft anwandte: Wir dürfen unseren armen und schwachen Mitmenschen nicht helfen, denn dies würde das natürliche Gleichgewicht stören. Spencer verdanken wir auch den noch heute gängigen Slogan survival of the fittest. Das Prinzip, dass diejenigen überleben, die sich am besten anpassen, galt seiner Meinung nach nicht nur für Pflanzen und Tiere, sondern auch für die menschliche Gesellschaft. Der harte Wettbewerb eliminiert Individuen, Wirtschaftsunternehmen und Organisationen, die sich nicht genügend an die Gesellschaft oder die Zeitläufte anpassen. Genau betrachtet, war der Sozialdarwinismus wenig mehr als der Versuch, dem wirtschaftlichen Laissez faire des 19. Jahrhunderts ein wissenschaftliches Mäntelchen umzuhängen (im 15. Kapitel kommen wir hierauf ausführlich zurück). Spencers allumfassende Ideen über Evolution waren wie gesagt im Kern lamarckistisch. Auch in seinem Sozial-„Darwinismus“ steht Lamarcks Vorstellung von der Vererbung erworbener Eigenschaften im Mittelpunkt. Individuen, die sich in einer Welt voller Konkurrenten am besten anpassen, geben ihre erworbenen Eigenschaften an ihren Nachwuchs weiter. Lamarcks und Spencers Theorien konnten jedoch die Veränderungen in der organischen Natur nicht erklären. Lamarcks Gedanke einer inneren Kraft und Spencers Glauben an metaphysische Gesetzmäßigkeiten waren keine überprüfbaren Hypothesen. Darwin war der erste, der den lange gesuchten Mechanismus hinter der Evolution entdeckte und sich dabei auf überzeugendes wissenschaftliches Beweismaterial stützte.