Читать книгу Evolutionär denken - Chris Buskes - Страница 18

Das Puzzle nimmt Gestalt an

Оглавление

Am 2. Oktober 1836 kehrte die Beagle nach England zurück. Ein Jahr später machte sich Darwin in London daran, seine Vermutungen über die „Transmutation“, wie er es nannte, die Entwicklung der Arten zu untermauern. Es war ihm durchaus bewusst, dass er das konservative, gottesfürchtige viktorianische Publikum nur mit einer Fülle von Beweismaterial würde überzeugen können. Er sichtete die Funde, die er von seiner Reise mit der Beagle mitgebracht hatte und sammelte Belege aus den unterschiedlichsten Bereichen.

Das erste Puzzlestück fand Darwin in der Geologie, der Wissenschaft von der Entstehung und Entwicklung der Erde. Es ist wichtig, hierauf etwas näher einzugehen. Noch bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Geologie von biblischen Auffassungen über die Erdgeschichte beherrscht. Viele Wissenschaftler glaubten, sie könnte nicht älter als einige Jahrtausende sein, eine Auffassung, die mit dem Alten Testament übereinstimmte. Die beliebteste Theorie innerhalb der Geologie war die Lehre vom Katastrophismus, die Vorstellung, dass die Beschaffenheit der Erdoberfläche mit ihren Bergen, Tälern und Ozeanen von Naturkatastrophen wie der Sintflut herrühre. Gott hatte die Erde immer wieder durcheinander geschüttelt und ihre heutige Gestalt gegeben. Ein angesehener Vertreter dieser Sichtweise war der französische Zoologe Georges de Cuvier. Auch der junge Darwin, der sich während seines Studiums in Cambridge mit dem Geologen Adam Sedgwick, einem Anhänger des Katastrophismus, anfreundete, folgte eine Zeit lang dieser Theorie.

Bereits im 18. Jahrhundert jedoch hatte der schottische Geologe James Hutton eine alternative Theorie vorgelegt, und zwar den Uniformitarianismus oder Aktualismus. Die Erde war unendlich alt, die Erscheinungen an ihrer Oberfläche waren das Resultat allmählicher, natürlicher und auch in der Gegenwart noch wirksamer Prozesse, wie Erosion, Sedimentbildung und Vulkanismus. Huttons Ideen wurden erst im 19. Jahrhundert durch den englischen Geologen Charles Lyell, mit dem sich Darwin später anfreundete, allgemein bekannt.

Als Darwin 1831 mit der Beagle in See stach, kannte er Lyell noch nicht persönlich, doch Henslow hatte ihm Lyells Principles of geology empfohlen, deren erster Teil im Jahr zuvor erschienen war. Auf der langen Seereise war dieses Buch neben Miltons Paradise Lost Darwins Lieblingslektüre. Von Lyell lernte Darwin, dass es nicht die Annahme göttlicher Interventionen bedurfte, um die Gestaltung der Erdoberfläche zu erklären. Die Erde war nicht Jahrtausende alt, wie die Bibel verkündete, sondern Jahrmillionen, alt genug also, um einen Evolutionsprozess zu ermöglichen. Da sich durch die geologischen Kräfte die Erdoberfläche ständig verändert, müssen sich die Lebewesen an die jeweiligen Umweltbedingungen anpassen.

Nach dem Erscheinen der Entstehung der Arten bereitete der englische Physiker Lord Kelvin Darwin mit seiner Auffassung von der kurzen Geschichte der Erde Kopfzerbrechen. Wäre die Erde tatsächlich viele Millionen Jahre alt, so argumentiere Kelvin, dann müsste sie sich inzwischen zu einem Steinklumpen abgekühlt haben. Die Aktivität der Vulkane beweise jedoch das Gegenteil. Kelvin konnte nicht wissen, was wir heute wissen, dass nämlich die natürliche Radioaktivität im Erdinnern den Abkühlungsprozess beträchtlich verlangsamt. Obwohl Lyell die Veränderlichkeit der Arten nie akzeptieren wollte, ebnete sein Aktualismus der Evolutionstheorie den Weg. Wie zuvor in der Astronomie und der Physik gingen die Entwicklungen in der Geologie denen in der Biologie voraus.

Das zweite Puzzlestück zur Untermauerung seines Transmutationsgedankens entnahm Darwin der Embryologie, der Wissenschaft von der Entwicklung der Organismen von der Befruchtung bis zur Geburt. Embryos verschiedener Tierarten sind sich nämlich im Frühstadium der Entwicklung auffällig ähnlich. Wirbeltiere wie Reptilien, Vögel und Säugetiere sind dann sogar kaum voneinander zu unterscheiden. Dies wies nach Darwins Ansicht darauf hin, dass sie von einem gemeinsamen Vorfahren abstammen. Embryos entwickeln sich oft nach demselben Bauplan, und von diesem Ursprung aus ist die Evolution in verschiedene Richtungen fortgeschritten, indem sie praktisch immer wieder das gleiche Thema variierte.

Biologen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts meinten daher, die embryonale Phase sei eine Art beschleunigte Wiederholung der Evolution insgesamt. Der Biologe Ernst Haeckel, der Fürsprecher des Darwinismus in Deutschland, fasste den Gedanken in die Formel zusammen: Die Ontogenie ist die Wiederholung der Phylogenie. (Ontogenie ist die Entwicklung des individuellen Organismus ab der Befruchtung, Phylogenie die Entwicklung einer Art oder von Stämmen wie Wirbeltiere, Gliederfüßer und dergleichen.) Der menschliche Embryo durchlaufe noch einmal den Evolutionsprozess seiner Vorfahren, meinte Haeckel. So bilde er, wie der anderer Wirbeltiere, in einem bestimmten Stadium seiner Entwicklung etwa Kiemenbögen wie die Fische oder einen Schwanz wie viele Affen aus. Um sich zum Menschen zu entwickeln, muss der Embryo also erst Fisch werden, anschließend Amphibie und Reptil und dann Affe. Haeckel sprach in diesem Zusammenhang von einem „biogenetischen Gesetz“. Heute wird die Rekapitulationstheorie als zu vereinfachend beurteilt. Die embryonale Phase ist keine exakte Wiederholung früherer Entwicklungsstadien. Für Darwin waren die Erkenntnisse der Embyronologie jedoch wichtige Belege für seine Abstammungstheorie.

Darwins drittes Beweisstück für die Evolution kam aus der vergleichenden Anatomie, der Wissenschaft von den Unterschieden und Übereinstimmungen im Bau von Organismen. Die Struktur bestimmter Teile und Organe in verschiedenartigen Organismen ist trotz oberflächlicher Unterschiede oft gleich. Die Flügel der Fledermaus, der Grabfuß des Maulwurfs, die Brustflosse des Walfisches und die Hand des Menschen sind nach dem selben Modell gebaut, sie weisen trotz ihrer unterschiedlichen Funktionen und Ausmaße auffällige Ähnlichkeiten auf. Ihnen allen liegt das gleiche pentadaktyle (fünffingrige) Schema zugrunde. Für Darwin war diese anatomische Übereinstimmung ein erneuter Beweis für den gemeinsamen Ursprung der Arten. Im Laufe der Evolution hatte die Grundstruktur unterschiedliche, auf die spezifische Umwelt der Tiere abgestimmte Funktionen und Ausprägungen erhalten.

Evolutionsbiologen nennen die Vordergliedmaßen der Fledermaus, des Maulwurfs, des Walfischs und des Menschen „homolog“, das heißt, sie haben zwar verschiedene Funktionen, sind jedoch nach dem gleichen Schema gebaut und stammen von einem gemeinsamen Vorfahren ab. Umgekehrt sind Eigenschaften „analog“, wenn sie die gleiche Funktion erfüllen, sich aber unabhängig voneinander entwickelt haben. Die Flossen und Schwimmfüße von Meeressäugetieren ähneln beispielsweise den Flossen von Fischen, gehen aber nicht auf einen gemeinsamen Ursprung zurück, sind also nicht homolog, sondern analoge Adaptationen an den gleichen aquatischen Lebensraum. Vögel- und Insektenflügel sind ein weiteres Beispiel für analoge Strukturen. Diese sind das Resultat konvergenter Evolution, der Tatsache, dass die Evolution manchmal auf verschiedenen Wegen zur gleichen Lösung kommt.

Der Anatomie entlehnte Darwin noch ein viertes Beweisstück für die Evolution: rudimentäre Strukturen. Körperteile oder Organe also, die ihre Funktion nach und nach verloren haben, wie der Steiß und der Blinddarm. Weitere Beispiele sind etwa die verkümmerten Hinterbeine bei Walfischen und Schlangen, die rudimentären Augen von Tieren, die in Höhlen leben und so weiter. Die unvollständige Rückbildung solcher Körperteile steht eher im Widerspruch zu der Annahme eines Schöpfergotts, denn warum sollte er seine Kreaturen mit allerlei nutzlosen und überflüssigen Teilen ausstatten? Ein Betrieb, der völlig zwecklose Schalter und kaputte Birnen in seine Apparate einbaut, könnte sich nicht lang halten. Darwin hatte eine einfache Erklärung für die Anwesenheit rudimentärer Körperteile: Abstammung mit Modifikationen. Im Laufe der Evolution passten manche Tiere und Pflanzen sich an eine andere Umgebung an, und das führte zur allmählichen Zurückbildung unnötig gewordener Organe. Es sind Überreste, die die Evolution noch nicht ganz eliminiert hat.

Das fünfte Beweisstück entstammte der Paläontologie, die Darwin den vielleicht direktesten und greifbarsten Hinweis auf die Evolution bot. Während seiner Reise auf der Beagle hatte er nicht nur Pflanzen, Tiere und Mineralien gesammelt, sondern auch eine Fülle von Fossilien. In Argentinien etwa stieß er auf Knochen und Schädel des ausgestorbenen Riesenfaultiers (Megatherium), eines Säugetiers von der Größe des indischen Elefanten. Andere Versteinerungen waren schwieriger zu identifizieren. Erst nach seiner Rückkehr nach London wurden sie von dem brillanten Anatomen Richard Owen klassifiziert, der später aus Neid einer von Darwins erbittertsten Gegnern wurde. Owen wies nach, dass die Fossilien wie das Riesenfaultier Überreste längst ausgestorbener gigantischer Nagetiere und Ameisenbären waren.

Fossilien stellten die Wissenschaft lange vor ein großes Rätsel. Woher kamen diese oft so absonderlichen Wesen, und wo waren sie geblieben? Noch bis ins 19. Jahrhundert mutmaßte manch einer, diese prähistorischen Tiere seien der Sintflut zum Opfer gefallen, was jedoch angesichts des nachweislich hohen Alters der Versteinerungen von vielen Millionen und nicht Tausenden von Jahren kaum aufrechtzuerhalten war. Für Darwin waren sie Zeugnisse der Entwicklungslinien der Organismen. Auch die Übergangsformen und fehlenden Bindeglieder (missing links) müssten sich in den Erdschichten finden lassen, die die Entwicklung von Tiergruppen verdeutlichten. Eine der berühmtesten Zwischenformen, der Archaeopteryx, wurde 1861 in Bayern entdeckt. Archaeopteryx, der vor hundertfünfzig Millionen Jahren lebte und etwa die Größe einer Elster hatte, besaß sowohl Merkmale eines Reptils (Zähne und einen aus einundzwanzig Wirbeln bestehenden Schwanz) als auch die eines Vogels (charakteristisches Gabelbein, Federn und Flügel). Darwin sah im Archaeopterix das fehlende Glied zwischen Dinosauriern und Vögeln. Übrigens verdanken wir beide Namen, „Archaeopteryx“ („alter Flügel“) und „Dinosaurus“ („furchtbare Echse“), Richard Owen.

Das sechste und letzte Beweisstück, das Darwin zur Unterstützung seiner Theorie heranzog, kam aus der Biogeographie, der Wissenschaft von der geographischen Verbreitung der Pflanzen- und Tierarten. Schon bei oberflächlicher Betrachtung fällt auf, dass diese Verbreitung nicht homogen ist. Manche Tierarten sind an eine bestimmte Region oder einen bestimmten Kontinent gebunden. So sind die meisten Beuteltiere im australischen Raum beheimatet, und manche der seltsamen Lebewesen, die Darwin auf den Galapagos-Inseln antraf, sind nur dort zu finden. Wenn Gott die Pflanzen und Tiere der Erde erschaffen hätte, würde man erwarten, dass Organismen unter vergleichbaren natürlichen Bedingungen einander ähneln. Das ist aber häufig nicht der Fall. Auf seiner Reise mit der Beagle erkundete Darwin im Winter 1832 die Kapverdischen Inseln vor der Westküste Afrikas. Das vulkanische Archipel war sowohl in geologischer wie in geographischer Hinsicht fast identisch mit den Galapagos-Inseln. Nicht jedoch die Flora und Fauna. Die Pflanzen und Tiere auf den Kapverdischen Inseln ähnelten vor allem ihren Verwandten in Afrika, während die auf den Galapagos-Inseln große Ähnlichkeit mit ihren südamerikanischen Artgenossen aufwiesen. Die Schlussfolgerung lag nahe, dass die Inselbewohner und ihre Verwandten auf dem Festland auf einen verhältnismäßig „jungen“ gemeinsamen Vorfahren zurückgingen. Die ungleichmäßige Verbreitung von Tieren und Pflanzen auf der Erde war nach Darwins Ansicht nur im Licht des Evolutionsgedankens verständlich. Sie war das Resultat einer geographischen Isolation und einer anschließenden getrennten Entwicklung.

Evolutionär denken

Подняться наверх