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„Heilig sei dir die Freiheit des andern!“

Ketzerprozess gegen einen Bischof

Warum Johann Michael Sailer (1751–1832) in Rom denunziert, aber nicht verurteilt wurde

Irgendwo in der „Stanza Storica“, in den hintersten Archivkellern der Heiligen Inquisition, wo Dokumente aus grauer Vorzeit schlummern, entdeckte der Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf an der Wende zum dritten Jahrtausend die vergilbten Spuren eines bayerischen Skandalfalls. Die Akten hatte ein verhältnismäßig liberaler Kurienprälat namens Lorenzo Nina dort deponiert oder, besser gesagt, versteckt – und dem Heiligen Stuhl damit eine Riesenblamage erspart.

Denn das Denunziationsopfer, das 1873 – vier Jahrzehnte nach seinem Tod – zum Ketzer erklärt werden sollte, hieß Johann Michael Sailer und wurde in Deutschland wie ein Kirchenvater verehrt. Heute gilt Sailer als einer der Pioniere moderner Theologie; er bereitete dem Zweiten Vatikanischen Konzil mit seinem Aufbruch aus dem katholischen Getto schon den Weg, als das Erste Vaticanum, das rückwärtsgewandte Vorgängerkonzil (mit der umstrittenen Definition der päpstlichen Unfehlbarkeit) noch gar nicht stattgefunden hatte.

Die Vorgeschichte des Ketzerprozesses klingt peinlich genug: 1819 sollte der angesehene Theologe und enorm produktive geistliche Schriftsteller Johann Michael Sailer nach dem Willen des bayerischen Königs Bischof von Augsburg werden. Der Päpstliche Nuntius Severoli hintertrieb die Ernennung, gestützt auf Klatsch, Gerüchte, Anklagen vom Hörensagen. Beim Wiener Redemptoristenpater Clemens Maria Hofbauer – ein begnadeter Seelsorger und liebenswürdiger Sozialapostel, aber leider auch ein schrecklich engherziger Mensch – gab er ein Gutachten in Auftrag, das Sailer den Hals brechen sollte.

„Er ist ein Christ, aber so viel ich weiß, will er von der Form nichts wissen“, entrüstete sich der biedere Ordensmann, der von Sailers zahllosen Schriften – anspruchsvolle theologische Abhandlungen, pädagogische Handreichungen, Meditationen, Gebetbücher, insgesamt 194 Titel umfasst die Gesamtausgabe – wohl nur die eine oder andere gekannt hat. „Mystizismus“ wirft er ihm vor und Freundschaft mit Protestanten.


Tolerant: Bischof Johann Michael Sailer

Hofbauer: „Ich weiß bestimmt, dass Sailer gesagt hat, die Kirche habe kein Monopol auf den Heiligen Geist, dieser wirke ebenso viel in denen, die in der heiligen Kirche sind, wie in jenen, die außer ihr sind, wenn sie nur an Christus glauben.“ Und dann: „Gesehen habe ich Sailer nur einmal und war damals nur eine halbe Stunde bei ihm; denn ich hatte Angst, länger bei ihm zu verweilen, da ich von seinen Schülern schon so viele Nachrichten hatte, die mich schaudern machten.“

Keine Belege, keine nachprüfbaren Zitate, keine Angabe von Zeugen. Eine klassische Denunziation aus Angst und geistiger Enge. Dass Sailers Schüler und Bewunderer, König Ludwig I., dem Verfemten wenige Jahre später doch noch einen Bischofsthron verschaffte, in Regensburg, gegen erbitterten Widerstand römischer und deutscher Fundamentalisten, kann als späte Rehabilitation gelten. Doch 1873, als Sailer bereits 41 Jahre tot war, sannen die Redemptoristen auf eine Seligsprechung ihres Mitbruders Hofbauer. Als Stolperstein lag sein bitterböses Statement über Sailer im Weg.

Erpresser und Arme Seelen

Um Hofbauer vom Verdacht zu reinigen, mit seinen Attacken das Gebot der christlichen Liebe und Wahrhaftigkeit verletzt zu haben, verfiel der Orden auf die famose Idee, den toten Sailer zum Ketzer (und Hofbauer damit automatisch zum prophetischen Warner) erklären zu lassen. Wie Hubert Wolf recherchiert hat, mobilisierte man eine in katholischen Traditionalistenkreisen angehimmelte Seherin namens Aloysia Beck, die sich mit Visionen von Armen Seelen, Engeln und Dämonen einen Namen gemacht hatte und abergläubische Gemüter dazu animierte, bei ihr Lebensbeichten abzulegen.

Zu den hohen Klerikern, die sich mit solchen Bekenntnissen abhängig von dem frommen Medium gemacht hatten, gehörte Sailers Nachfolger auf dem Regensburger Bischofsthron, Ignatius von Senestrey, ein ängstlicher Erzkonservativer, hoch verschuldet und wegen irgendwelcher delikater Verstrickungen, über die Kirchenhistoriker bis heute rätseln, in der Hand von Erpressern. Senestrey tat, was man von ihm wollte: Er beantragte bei Papst Pius IX. einen Ketzerprozess gegen seinen Vorgänger, und der Papst persönlich – was ungewöhnlich war – beauftragte die Inquisitionsbehörde, das Heilige Offizium, mit dem Verfahren.

Doch obwohl der Papst die Causa Sailer zur Chefsache gemacht hat, obwohl Senestreys Gutachter 105 angeblich häretische Sätze aus Sailers Werken zusammenträgt, durchschauen die Theologen, Juristen und Kardinäle der Glaubensbehörde das Spiel: Sie geben sich mit diesem Material nicht zufrieden, fordern ein neues Gutachten durch einen Zensor aus den eigenen Reihen, holen die Meinung deutscher Bischöfe ein, die zwar hundertprozentig romtreu sind, aber den toten Amtsbruder verteidigen und vor der Verurteilung eines deutschen Paradekatholiken mitten im Kulturkampf mit Bismarck warnen. Es gibt zwar keinen Freispruch, damit hätte man den Papst brüskiert, aber die Akten verschwinden ganz hinten im Archivkeller, wo sie so schnell niemand finden wird.

Ein Pionier der religiösen Toleranz

So viel hysterischen Verfolgungseifer hatte Johann Michael Sailer weiß Gott nicht verdient. Als Pastoral- und Moraltheologe und Pädagoge an den Universitäten Dillingen, Ingolstadt und Landshut baute der 1751 als Sohn eines Dorfschusters in Aresing bei Schrobenhausen geborene Vordenker dem von Aufklärern und Traditionalisten verunsicherten Katholizismus Brücken in die Zukunft. Er kämpfte gegen jene blassen Rationalisten, die Religion mit einer „Vernunftmoral“ verwechselten und in Christus bloß einen „Tugendfreund“ (Sailer) sehen wollten. Aber er kannte keine Berührungsängste gegenüber liberalen Strömungen und nahm gute Entwicklungen gern auf.

Dem Nützlichkeitsdenken der Aufklärer stellte er ein vitales, überzeugendes Christentum gegenüber. „Wo die Seele nach Totenaas riecht“, so charakterisierte er in seiner bildhaft-drastischen Sprache die blutleeren Theorien dieser Leute, „da mag ihre Kenntnis Gottes wohl nicht mehr sein als eine leere Büchse mit der Aufschrift: Gott.“ Inbegriff christlichen Glaubens war ihm vielmehr eine Liebe, „rein und sicher vor Kopfhängerei, Menschenscheu, finsterer Laune, rein und sicher vor Scheinheiligkeit und Heuchelei“.

Seinen Theologiestudenten vermittelte er die Idee der „lebendigen Überlieferung“ und ein organisches Kirchenverständnis: Die sichtbare Kirche mit all ihren Stärken und Schwächen und ihr von Christus getragenes, vom Geist beseeltes Innenleben bilden eine pulsierende Einheit. Mit solchen Gedanken sollte er die katholische Moderne prägen. Und natürlich auch mit seiner Orientierung an der Bibel, die zu seiner Zeit vielen Pfarrern und Priesteramtskandidaten – man möchte es kaum glauben – ein böhmisches Dorf war.


Lass alle Bücher fahren, auch die besten, und lies allein das Neue Testament!“

Seine Leidenschaft für die Wahrheit, wie er sie in der katholischen Tradition fand, verband Sailer mit der unbedingten Achtung vor der Religionsfreiheit: „Heilig sei dir wie dein Gewissen und unantastbar die Freiheit des andern!“ Religion sei Liebe, und die sei ihrer Natur nach liberal. „Der weise Mann in dem Seelsorger“ sehe „in jedem ehrlichen Genossen einer fremden Religion“ einen Funken der in Christus erschienenen ewigen Religion.

Wichtiger als enger Konfessionalismus war ihm eine lebendige Beziehung zu Christus. Für Sailer ist die Kirche Christi in der römisch-katholischen Kirche zwar anzutreffen, beide sind aber nicht einfach identisch. Deshalb ist die römisch-katholische Kirche ständig aufgerufen, sich zu verchristlichen. Katholisches Selbstbewusstsein kann deshalb nur jene Demut bedeuten, „die darum weiß, trotz menschlichen Versagens Treuhänderin einer Wahrheit und Gnade sein zu dürfen, die sie nicht besitzt, sondern nur dienend austeilt“. Damals, als Ökumene und interkonfessioneller Dialog noch Fremdwörter waren, machte man sich mit solchen Gedanken enorm verdächtig.


Ein Haus, viele Wohnungen, sagt Christus von dem Himmel. Ein Haus, viele Stockwerke, gilt von der Kirche.“

„Wer in seinem Stockwerke den Mittelpunkt gefunden hat, wird aufhören, für das bloße Stockwerk zu fechten, weil er genug zu tun hat, für den Mittelpunkt zu leben – und in dem Mittelpunkte.“

„Ich buchstabiere selber noch an der Wahrheit“

Ein wilder Aufklärer ist er nie gewesen. Mit dem Jahrhundert Schritt zu halten, ist für ihn kein Wert an sich. Was sind schon weltanschauliche Moden und die jeweils neuesten wissenschaftlichen Systeme? „Im Tode fahren sie auf einer Sandbank auf.“ Im stürmischen Wellengang der Zeit gebe letztlich nur ein Leuchtturm verlässliche Orientierung: das Evangelium. Sailer spöttelt über trendbewusste Gelehrte, die im alten China und im neuen Paris Perlen der Weisheit entdecken, nur nicht in Nazaret und Rom, und er wehrt sich gegen die Herabstufung Christi zu einem edlen Menschen. Nein, er ist der Retter, der unser Herz verwandelt.

Die blassen Rationalisten jagen ihm Angst ein, aber nicht die Vernunft und der Freimut ernsthafter Wahrheitssucher: „Hütet euch, das Wort Aufklärung als einen Schimpfnamen zu gebrauchen“, mahnt er, denn der Durst nach Wahrheit komme „in gerader Linie“ von Gott. Sailer verteidigt das Gewissen als letzte Instanz für menschliches Denken und Handeln. Er versteht die Skeptiker und bekennt einem zweifelnden jungen Mann in rührender Offenheit: „Ich buchstabiere selber noch an der Wahrheit.“ Das Buchstabieren mache freilich bereit zum Lesen.

1794, als seine Neider in Dillingen die schmähliche Entlassung des Professors Sailer erreichten, spielten solche Thesen und sein ungezwungener Verkehr mit Freigeistern und Evangelischen eine entscheidende Rolle. Aber auch sein „zu freundschaftlicher Umgang mit den Studenten“, wie ein Kollege zu Protokoll gab: „Professor Sailer kommunicierte ihnen Bücher, die sie nicht kennen sollten.“ Und wer immer gut Freund mit den jungen Leuten sein wolle, mache diese „stolz und unehrerbietig“ und störe Zucht und Ordnung.

Der Rausschmiss, das weiß man heute, hatte ganz banale Hintergründe: Der zuständige Bischof, der sich von Sailer seine Hirtenbriefe hatte schreiben lassen, war in Geldnöten und wurde von einem mit Sailers Intimfeinden versippten Bankhaus unter Druck gesetzt. In München, wo der ohne Pension Hals über Kopf Entlassene Zuflucht fand, war es wiederum der Nuntius, der seine Ernennung zum Hofprediger hintertrieb.

Jahre später, der nicht gerade klerusfreundliche Montgelas hatte die Zügel im Staat übernommen, berief man den vermeintlichen Aufklärer an die Universität Ingolstadt (bald darauf nach Landshut verlegt), wo er sogleich wieder zwischen die Fronten geriet: Von der Polizei wurde Sailer als finsterer „Römling“ bespitzelt, von der katholischen Reaktion als verkappter Freimaurer belauert.

Mittlerweile hätte ihn die preußische Regierung gern als Erzbischof in Köln gesehen. Doch Rom, wo man das vernichtende Gutachten von Pater Hofbauer kannte, tat nichts, um den Kandidaten zur Annahme zu bewegen. Sailer war bereits siebzig Jahre alt, als sein Schüler und Freund, Kronprinz Ludwig, seine Ernennung zum Domkapitular und Bischofskoadjutor mit dem Recht der Nachfolge in Regensburg durchsetzte – immer noch gegen erhebliche Widerstände aus Rom. Auf die päpstliche Bestätigung musste man sechs Monate warten!

In den folgenden sechs Jahren bereiste der noch recht vitale alte Herr unermüdlich das Bistum, predigte in den abgelegensten Winkeln und firmte mehr als 74 000 junge Menschen. Als Dompropst, Generalvikar und Weihbischof hatte Sailer die eigentliche Bistumsleitung inne. Bischof Johann Nepomuk von Wolf war so hinfällig und gebrechlich, dass er das Bett kaum mehr verlassen konnte. Siebenundsiebzigjährig bestieg Johann Michael Sailer 1829 für seine drei letzten Lebensjahre den Regensburger Bischofsstuhl.

„Schonen, recht schonen soll er sich!“, ließ ihm Ludwig ausrichten, der inzwischen König geworden war. Aber Sailer, dessen robuste Natur mehrere Schlaganfälle überstand, widmete sich seinen Amtsgeschäften mit Hartnäckigkeit und Freude: Er führte regelmäßige Priesterexerzitien ein, baute den Unterhaltsfonds für alte und kranke Kleriker aus. Das Wichtigste war ihm die innere Erneuerung in den Reihen der Seelsorger, an denen er Habsucht, Anmaßung und Herzenshärte kritisierte.

Am 20. Mai 1832, mit achtzig Jahren, gab er Gott sein Leben zurück.

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