Читать книгу Schattenwende - Christian Geiss - Страница 12
Kapitel 10
ОглавлениеKaleb sah sich um, ob ihm etwas Verdächtiges auffallen würde. Im Parkdeck C füllten sich immer mehr Plätze, da das Parkhaus sehr günstig lag und viele Leute, die in der Innenstadt arbeiteten, hier ihr Auto abstellten. Der Eingang zum Treppenhaus und der Fahrstuhl lagen direkt nebeneinander. Eine weitere Möglichkeit, entweder auf das Dach oder in das Erdgeschoss zu gelangen war über die Feuerleiter an der Stirnseite. Kaleb nahm seine Jacke und legte sie auf den Rücksitz. Er hätte gerne auch noch seinen Pulli ausgezogen, da es nicht mehr lange dauern würde, bis die Sonne die Luft auf schwüle fünfunddreißig Grad erhitzt hätte, aber wenn jeder direkt sähe, dass er ein Schulterhalfter mit einer Waffe trug, wäre das nicht gerade vorteilhaft gewesen. Dann hätte er sich genauso gut direkt ein Schild mit der Aufschrift „Polizist oder Gangster – wählen Sie selbst“ um den Hals hängen können. Da nahm er doch lieber in Kauf zu schwitzen.
„Hast du schon die Acht-Uhr-Nachrichten gehört?“
Kaleb drehte sich langsam um. Hinter ihm gingen zwei sich angeregt unterhaltenden Frauen vorbei. Leider bekam er nicht mehr mit, was in den Nachrichten gemeldet wurde, da das Gesprächsthema nahtlos von den Nachrichten auf das blau geblümte Kleid der Frau überging, die sich gerade bemühte, ihr Kind aus dem Kindersitz ihres Autos in den bereitstehenden Kinderwagen zu setzen. Im gleichen Moment fiel der Lichtkegel eines Autos, das die Auffahrt hochfuhr, auf die karge Betonwand vor ihm. Seine Gedanken sprangen zurück zu den Möglichkeiten, die sich ihm boten, das Parkdeck zu verlassen.
Die Frau mit dem blauen Kleid schob nun den Kinderwagen mit dem schreienden Baby an ihm vorbei. Wirklich ein hübsches Kleid, dachte sich Kaleb. Die Spaghettiträger waren auf den gebräunten Schultern kaum zu sehen und das Kleid ging nur bis kurz über die Knie.
Er stocherte mit dem Schlüssel in seinem Fahrerschloss herum. Seit Wochen hakte nun schon das Türschloss, sodass er Probleme hatte, die Tür auf- und zuzuschließen. Wenn er sich nicht bald darum kümmerte, käme der Tag, an dem der Schlüssel abbrechen und im Schloss stecken bleiben würde. Das wäre wesentlich ärgerlicher und auch teurer, als nur das Schloss austauschen zu lassen. Endlich machte es leise klack und die Tür war verschlossen. Wie erwartet, hatte die Frau sich für den Fahrstuhl entschieden, um in eines der unteren Stockwerke zu gelangen. Zum Glück waren Frau und Kinderwagen nicht das schnellste Gespann, sodass er mit ihnen in den Fahrstuhl steigen konnte. Es war schwer einzuschätzen, aber er hatte das Gefühl, dass die Frau besonders langsam machte, vielleicht, damit er mit ihr in den Fahrstuhl kommen konnte. Oder war es nur das Kleid, das ihn fast schon magisch anzog?
Höchstens zweieinhalb Quadratmeter, mehr Platz bot der Fahrstuhl nicht, in dem er sich nur Sekunden später befand.
Viel Zeit für ein Gespräch hatte er nicht, da die Lampe des ersten Stocks leuchtete und dies darauf hinwies, dass Kleid, Frau und Kinderwagen ihn dort wieder verlassen würden.
„Wirklich interessant, was in der Welt so passiert.“
„Ich finde es nicht wirklich interessant, sondern eher merkwürdig, dass zwei Minister am selben Tag Selbstmord begangen haben sollen.“
Das war wirklich interessant.
Die Frau bückte sich nach vorne und schob dem quengelnden Kind den Schnuller in den noch zahnlosen Mund zurück. Dabei wurden die bisher so gekonnt vom Kleid verdeckten Kurven sichtbar. Die Frau trug zu Recht ein hübsches Kleid.
Es war so weit, der Fahrstuhl drosselte seine Geschwindigkeit und es konnte nicht mehr lange dauern, bis sich die Türen zum ersten Stock öffneten. Geräuschlos schob sich die silberne Fahrstuhltür nach links in den dafür vorgesehenen Spalt.
„Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag!“
Mit Kinderwagen voraus, schritten die Frau und das hübsche blaue Kleid mit Mohnblumen wieder aus seinem Leben. Wie lange blieb so eine Tür wohl offen? Drei, vier oder gar fünf Sekunden? Auf alle Fälle lange genug, um in seinem Blickfeld wahrzunehmen, was dort passierte. Die Frau, deren Namen er nicht wusste, die sich aber gerade von ihm verabschiedet hatte, ging nach rechts – genau dorthin, von wo der langsam fahrende grüne BMW heranfuhr. Kaleb machte einen Satz in die rechte Ecke des Fahrstuhls, in der Hoffnung, dass die Tür zuging, bevor – wer auch immer – einen Blick in den Fahrstuhl werfen konnte. In der sich schließenden Tür spiegelte sich auf dem glänzend polierten Silber die Frau mit dem Kinderwagen. Sie war anscheinend von dem BMW-Fahrer angehalten worden und zeigte nun mit dem linken Arm in seine Richtung.
Hier entwickelte sich gerade ein Katz-und-Maus-Spiel der ganz besonderen Art. Im Moment war Kaleb die Maus und saß in einer fahrenden Mausefalle. Bevor die Rollen getauscht würden, galt es, sich eine Zeitung zu besorgen und endlich den Inhalt der letzten beiden Mails zu erfahren.
Eine Maus entkommt der Katze nur, wenn sie entweder nicht aus dem Loch kommt oder Wege geht, die die Katze nicht kennt. Für ihn galt beides, er musste aus dem Loch hier raus und Wege gehen, die er bisher so nicht geplant hatte.
Die Decke des Fahrstuhls bestand aus locker aufgelegten, schwarz eingefärbten Gipsplatten. Es war ein Leichtes, sie zur Seite zu schieben und sich an der Fahrstuhlwand abgestützt auf dessen Dach hoch zu schwingen, während die Fahrstuhltür wieder zurückglitt und der Aufzug sich in Bewegung setzte.
Alle Fahrstühle sind nach dem gleichen Prinzip gebaut, während der Fahrstuhl nach oben oder unten fährt, bewegt sich mit gleicher Geschwindigkeit ein Stahlseil mit Gegengewicht in die andere Richtung. Mit einem kurzen Ruck stoppte der Fahrstuhl im Erdgeschoss. Kaleb kniete auf dem Dach und ein gleitendes Geräusch zeigte ihm, dass die Tür sich öffnete. Stimmen waren keine zu hören, sondern nur die Schritte einer einzelnen Person. Gerne hätte Kaleb gewusst, ob es der Fahrer des BMW war, aber es war zu gefährlich, die Deckenplatten zur Seite zu schieben und zu schauen. Der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung. Aber es war nur eine kurze Reise, denn nach einem Stockwerk war schon wieder Schluss. Die Tür öffnete sich und wieder hörte Kaleb nur einzelne Schritte, die in die Ebene des zweiten Stockes traten, ohne dass eine andere Person den Fahrstuhl betrat. Kaleb schob die Gipsplatte zur Seite und ließ sich genauso geschmeidig wieder nach unten gleiten, wie er sich zuvor auf dessen Dach geschwungen hatte. Wenn er dieses Katz-und-Maus-Spiel beenden oder gar vom Gejagten zum Jäger werden wollte, musste er hier raus. Das Parkhaus hatte drei Stockwerke. Den BMW hatte er im ersten Stock gesehen und sein Auto stand auf Deck C. In solchen Situation half Kaleb nur eins und das war der Bauch. Der sagte ihm, er solle zum Auto zurück. Die kleine Handfeuerwaffe aus dem Halfter am Fuß ließ sich am besten unauffällig in die Hosentasche stecken. Er ging vor der Fahrstuhltür in die Hocke um im Fall der Fälle nicht mit der ganzen Körpergröße als Zielscheibe zu dienen. Wieder schob sich die Tür zur Seite auf und gab langsam den Blick auf das Parkdeck C frei. Es war nichts zu sehen oder zu hören. Entweder war sein Auto schon entdeckt worden oder es konnte nicht mehr lange dauern. Möglichkeiten, Deckung zu suchen, bot das Parkdeck genügend. Jedes der parkenden Autos oder auch die Betonpfeiler, die das Dach des Parkhauses trugen, waren Möglichkeiten, Schutz zu finden. Zwei Parkplätze von seinem Auto entfernt war einer dieser Pfeiler. Er bot ausreichend Schutz und einen freien Blick auf das Coupé. Minute um Minute verstrich, ohne dass etwas passierte. Sogar der Fahrstuhl blieb mit geschlossener Tür stehen und die Anzeige in der Wand zeigte an, dass dieser noch nicht nach unten bestellt worden war. Die Tür zum Treppenhaus konnte er von hier aus auch beobachten, sie war höchstens fünf Meter vom Fahrstuhl entfernt. Vielleicht war derjenige, der ihn verfolgte ja schon am Auto gewesen, aber er konnte nichts sehen. Wenn er ein Profi war, dann war ein Peilsender oder eine kleine Sprengladung auch nicht am Nummernschild oder der Antenne befestigt worden, sondern so, dass sie nur bei genauerer Untersuchung gefunden werden konnten. Er wendete seinen Blick wieder vom Auto zum Fahrstuhl und auf die Tür des Treppenhauses. Die Tür befand sich immer noch im Dornröschenschlaf, aber die Anzeige des Fahrstuhls stand nicht mehr auf drei, sondern blinkte auf der zweiten Etage. Kaleb hatte die Waffe ruhig in der Hand und konzentrierte sich mit allen Sinnen auf die beiden einzigen Zugangsmöglichkeiten zum Parkdeck.