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Kapitel 13
Оглавление- Deutschland einige Tage zuvor -
Jörn setzte sich auf den Beifahrersitz des Audis. Das Auto war höchstens ein Jahr alt. In der kalten Jahreszeit würde die Sitzheizung dieses modernen Autos bestimmt gut tun und seine durchgefrorenen Glieder würden gleich wieder auftauen.
Nathan Sieben, der eben in sein Leben getreten war, ließ den Motor an und legte den Schalthebel auf D.
„Naja, ein Automatikgetriebe“, dachte Jörn, aber er behielt seine Gedanken für sich.
Jörn wollte das Gespräch ohnehin nicht beginnen. Der Mann vom BND hatte ihn aufgesucht und so wollte er bestimmt etwas von ihm.
Der Wagen schwebte mehr über die Straße, als dass er fuhr, und auch wenn er ein Automatikgetriebe hatte, machte er einen recht sportlichen Eindruck und lag ruhig und sicher auf dem Asphalt.
„Sie fragen sich bestimmt, was hier vor sich geht?“
„Nein, wie kommen Sie darauf? Eigentlich ist das ja alles ganz normal und ich fahre jeden Abend mit jemandem vom BND durch die Gegend!“
„Dann wird es Sie nicht wundern, wenn ich Ihnen sage, dass sich für Sie ab heute einiges ändern wird.“
„Was meinen Sie mit ändern? Ändern im Sinn von besser werden oder ein Ändern wie bei einem Chamäleon, dass mich ab morgen keiner mehr erkennt?“
„Eher die zweite Möglichkeit.“
„Darin bin ich aber nicht so gut.“
„Keine Angst, dafür werden wir schon sorgen. Wir brauchen Sie.“
„Was heißt ‚wir brauchen Sie‘?“
„Wir brauchen Sie, das ist alles, was ich Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt sagen kann.“
„Dann sagen Sie mir wenigstens, wo wir hinfahren.“
Aus dem Fenster sah Jörn die Lichter von Lichtach. Am Ortsrand konnte man die Bäckerei erkennen und im Gewerbegebiet zeigten die hell erleuchteten Hallen an, dass die Arbeit dort noch lange nicht zu Ende war.
„Wir fahren ins Ungewisse. Zumindest was so manche Dinge angeht und im Moment fahren wir erst mal zum nächsten Drive-in, denn ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht – ich jedenfalls habe einen Mordskohldampf.“
„Aber Sie zahlen – denn wie ich die Bundesbehörden kenne, können Sie das doch sowieso alles als Spesen absetzen.“
Lichtach verschwand im Hintergrund. Jörn versuchte noch einmal, seine Gedanken zu sortieren und überlegte, was hier vor sich ging. Aber wann würde er weitere Informationen erhalten?
„Darf ich rauchen?“ Jörn drehte den Kopf leicht nach links.
„Ja, machen Sie aber das Fenster auf!“
Die elektrischen Fensterheber ließen die Scheibe fast geräuschlos in der Tür verschwinden.
Bis zum Drive-in herrschte Schweigen im Auto. Im Fast-Food-Restaurant war nicht viel Betrieb. Die zwei Frauen, die hinter der Theke die Bestellungen entgegen nahmen, sahen aus wie Studentinnen. Die eine hatte einen Ohrring, der aussah als stamme er aus einem Esoterikshop – vermutlich studierte sie Pädagogik. Die andere war dezent geschminkt und ihre Haare waren streng nach hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. So wie sie aussah, studierte sie bestimmt Jura. In dem Fast-Food-Laden liefen mehrere Fernseher und eine der Leuchtreklamen flackerte.
Die Bestellungen landeten auf den Tabletts. Die Pädagogikstudentin machte den Eindruck, als ob ihr der Job wenigstens ein wenig Spaß machte. Die angehende Staatsanwältin dachte sich vermutlich, dass sie etwas Besseres verdiente, als Burger zu wenden, an einer Kasse zu stehen und Kleingeld zu zählen – aber wer hat nicht etwas Besseres verdient?
Der Tisch ganz hinten in der Ecke war genau der Richtige, um alles im Blick zu haben und sich trotzdem ungestört unterhalten zu können.
Nathan Sieben schaute Jörn direkt in die Augen, ohne zu zwinkern oder zu lächeln, er schaute ihn einfach nur an.
„Können Sie sich noch an den fünften September neunundachtzig erinnern?“
Jörn hielt Nathans Blick Stand.
„Können Sie sich noch an den siebzehnten März zweiundneunzig erinnern?“
Nathan reagierte nicht. Er zwinkerte nicht mit den Augen oder schaute zur Seite. Er schaute Jörn weiter intensiv an.
Die beiden Studentinnen an der Theke hatten diesen Abend nicht viel zu tun. Eine ging nach hinten in den Bereich, in dem Burger und Pommes vorbereitet wurden. Vermutlich gab es eine Anweisung vom Chef, dass, wenn nicht so viel zu tun war, hinten die Fliesen geschrubbt oder die Dunstabzugshaube vom Fett befreit werden musste.
Das Reklameschild mit dem flackernden Licht hatte nun ganz den Geist aufgegeben und war ausgegangen.
Nathan nahm seine Cola und zog kräftig am Strohhalm. Das schwarze, koffeinhaltige Getränk machte sich auf den Weg aus dem Becher, befeuchtete nur ein wenig die Lippen und landete dann im Mund. Dann stellte er den Becher wieder auf das Tablett vor sich.
„Ich muss mich nicht an den siebzehnten März zweiundneunzig erinnern, und Sie sollten sich auch nicht an den fünften September neunundachtzig erinnern können.“
In seinem rechten Augenwinkel konnte Jörn sehen, wie die Tür zu dem Restaurant aufging.
„Wieso fragen Sie mich dann danach?“
Eine Gruppe Jugendlicher tummelte sich nun vor der Jurastudentin, und die Pädagogikstudentin war auch wieder nach vorne geeilt, um bei den Bestellungen zu helfen. Sie waren vermutlich auf dem Weg zu einer Party und ihre ersten Angrabopfer waren diese beiden jungen hübschen Mädchen.
Die Augen von Nathan ruhten jetzt wieder auf Jörns Gesicht und es war ihm anzusehen, dass er mit sich rang, ob er etwas sagte oder nicht.
„Sie waren am fünften September neunundachtzig in München.“
Jörn sah ihn erstaunt an.
„Ich – in München?“
„Ja, Sie waren in München und zu dieser Zeit waren Sie auch noch einer der Top Agenten des BND.“
Jörn hatte schon immer gedacht, dass er zu mehr berufen sei als in Lichtach kleine Verbrecher zu jagen. Allerdings war die Hoffnung gewesen, dass seine Zukunft spannender sei. Nun stellte sich heraus, dass die großen Erlebnisse seines Lebens in der Vergangenheit lagen.
„Ich – ein Topagent des BND?“
„Richtig.“
Einer der Jugendlichen probierte anscheinend, die Telefonnummer von der Jurastudentin zu bekommen. Seine Bestellung stand längst auf seinem Tablett. Er hatte einen Stift in der Hand und grinste sie an.
Der Jurastudentin schien der Flirt zu gefallen.
„Ich will Ihnen einen Zeitungsartikel von damals geben.“ Nathan holte eine Zeitung aus seiner schwarzen Tasche, die neben ihm auf dem Boden stand.
„Oh, da bin ich aber gespannt. Vielleicht war ich in dem Jahr ja nicht nur Geheimagent wie James Bond, sondern habe auch noch im Jahr davor mit der Fußballnationalmannschaft in der Europameisterschaft gekickt.“
„Sie hätten vielleicht besser mitgespielt. Dann hätten wir im Halbfinale nicht gegen die Holländer verloren und unsere orangefarbenen Freunde wären nie Europameister geworden.“
Die Zeitung lag mit dem Leitartikel nach oben vor ihm und war vom fünften September 1989. Auf der Titelseite waren zwei Männer zu sehen. Beide trugen dunkle Anzüge und standen vor dem ehemaligen Bundestagsgebäude auf dem Hardtberg in Bonn.
Sie waren sich von ihren Rednerpulten aus entgegengekommen und reichten sich symbolisch die Hände. Einer der beiden Männer war der Altbundeskanzler Helmut Kohl, der Zweite war Michail Gorbatschow, der zu diesem Zeitpunkt noch Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion war und erst zwei Jahre später der Präsident der Sowjetunion werden sollte.
Jörn schaut auf das Datum der Zeitung. 5. September 1989. Also genau aus der Zeit, in der er als Geheimagent tätig gewesen sein sollte.
„Habe ich damit etwas zu tun?“
Langsam brannte es Jörn doch unter den Nägeln. Er hatte ja anscheinend doch einmal ein Leben gehabt, das wirklich spannend war.
„Sie haben dort nicht die Stühle gestellt und auch keinem der Männer das Wasser gereicht.“
Nathan nahm die Zeitung und steckte sie wieder in seine Tasche. Nun legte er einen großen schwarzen DIN-A4-Umschlag auf den Tisch und schaute Jörn ruhig, aber bestimmt an.
Der Flirt an der Theke schien ein Ende gefunden zu haben und dem Gesicht der Beiden nach zu urteilen, würden sie sich vermutlich noch einmal an einem Ort treffen, an dem es nicht nach Pommes und Burgern roch.
Sowohl Jörn als auch Nathan hatten ihre Menüs aufgegessen und die Pappbecher, die eben noch mit Cola gefüllt waren, waren auch leer.
„Bevor Sie mir sagen, was in dem Umschlag auf mich wartet, möchte ich wissen, wer ich wirklich bin und was an diesem fünften September neunundachtzig geschehen ist.“
Da keine anderen Kunden außer ihnen da waren, hatten sich beide Studentinnen von der Theke entfernt und waren entweder eine rauchen gegangen oder in der Küche die Fliesen putzen.
Auf den Fernsehern lief gerade ein altes Video von Guns N' Roses. Slash und Axl Rose gaben wie immer alles. Von Slash war nicht einmal das Gesicht zu sehen und die Finger huschten wie eine flinke Eidechse über den Hals der Gitarre. Diese Band mit ihren großen Erfolgen in den Achtzigern und Neunzigern gehörte zu einer langsam verblassenden Rock-and-Roll-Kultur.
„Sie möchten also wissen, was damals geschehen ist?“
„Ja.“
Nathan spielte mit seiner Hand an dem schwarzen DIN-A4-Umschlag und einer seiner Füße schien im Rhythmus von Knockin' on Heaven's Door zu wippen.
„Sagt Ihnen der Name Kaleb Geidi etwas?“
„Nein.“
„Mit ihm waren Sie zusammen in München haben dort Dinge entdeckt und herausgefunden, die von nationaler Bedeutung sind.“
Sanft glitt die Tür des Fast-Food-Restaurants auf und der Jugendliche, der eben vermutlich nach der Telefonnummer gefragt hatte, trat wieder an die Theke.
„Glauben Sie mir, daran könnte ich mich erinnern, ich weiß ja sogar noch, wie ich mit fünf Jahren mit meinem Fahrrad gegen einen Baum gefahren bin.“
Jörn grinste und überlegte, ob heute der erste April sei. Oder war er bei Versteckte Kamera?
Er schob seinen Müll auf dem Tablett zusammen und wollte aufstehen.
„Sie sind mit fünf Jahren mit keinem Fahrrad gegen einen Baum gefahren.“
Jörn stand auf und legte die Fäuste geballt auf den Tisch. Mit seinem Gesicht ging er ganz nah an das von Nathan Sieben.
Ihre Augen waren nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt und Jörn konnte sehen, wie sich Nathans Nasenhaare beim Atmen bewegten.
„Sie sagen mir jetzt, was hier läuft oder ich bin weg.“
In diesem Satz lag viel Nachdruck. Jörn meinte es ernst.
„Sie sind ein ehemaliger Spitzenagent des BND und seit neunundachtzig sozusagen im Ruhestand, und wenn wir nicht auf Sie aufpassen würden, dauerte es keine vierundzwanzig Stunden mehr, und Sie wären tot. Sie werden gesucht und mit Sicherheit nicht von einem Wohltätigkeitsverband.“
Von den beiden Studentinnen war nichts mehr zu sehen, aber man hörte sie noch lachen und kichern. Vermutlich unterhielten sie sich über den Jungen, der nach der Telefonnummer gefragt hatte.
Jörn Becher setzte sich wieder und schaute abwechselnd zu Nathan Sieben und auf den schwarzen Umschlag.
„Was ist da drin?“
Sein Blick war auf dem Umschlag stehen geblieben und eigentlich war es mehr eine Aufforderung als eine Frage.