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Kapitel 2
ОглавлениеDeutschland einige Tage zuvor -
„Polizeinotruf eins eins null, was ist Ihr Anliegen?“
Für einige Sekunden blieb die Leitung stumm. Dann wiederholte Frau Rollflügel ihre Frage: „Was ist Ihr Anliegen?“
Aber sie bekam keine Antwort.
Damaris Rollflügel wollte gerade in den Hörer rufen, dass dies keine Leitung für blöde Scherze sei. Aber da erklang auch schon der gleichmäßige Piepston, der ihr zeigte, dass ihr Gegenüber bereits aufgelegt hatte.
So machte sie ihre übliche Notiz in ihren Berichtsbogen über einen Anruf um zwei Uhr dreiundfünfzig.
Ein seltsamer Anruf. Am nächsten Morgen würde sie den aufgezeichneten Anruf dem Chef der Polizeistation vorspielen. Eigentlich wollte sie mit ihrem Chef nicht viel zu tun haben und war froh, wenn sie zur Nachtschicht eingeteilt war. Aber es gehörte zu ihrer Pflicht, ihn über alle eingegangen Anrufe zu informieren. Sie mochte den Chef der Polizeistation, Jörn Becher, nicht. Sie hatte immer das Gefühl, dass er ihr, sobald sie sich umdrehte, auf den Hintern starrte und auch seine Art, mit seinen Mitarbeitern umzugehen, behagte ihr nicht. Mit seiner Körpergröße von höchstens einem Meter fünfundsechzig und seinem kleinen Schmerbauch, der sich unübersehbar hinter seinem in der Regel schlecht gebügelten Hemd befand, zählte er nicht gerade als Musterbeispiel für einen durchtrainierten Polizisten. Das und seine chauvinistische, arrogante Art machten Herrn Becher in ihren Augen zu einem der unausstehlichsten Männer, denen sie bisher je begegnet war. Just in dem Moment, als Frau Rollflügel aufstehen und sich im Flur einen Kaffee aus dem Automaten im Flur holen wollte, klingelte das Telefon zum zweiten Mal. Nicht nur, dass es ungewöhnlich war, dass in einer Stadt wie Lichtach überhaupt jemand nachts die Notrufnummer wählte, aber nachts um kurz vor drei zum zweiten Mal innerhalb von fünf Minuten war eine echte Ausnahme.
„Notruf eins eins null, was ist Ihr Anliegen?“
Auch diesmal passierte nichts. Wieder war kein Ton zu hören. Damaris Rollflügel hielt den Atem an. Sie wollte gerade den Knopf für die Funkverbindung mit einem heute Nacht tätigen Streifenwagen betätigen, als sie zwei gedämpfte Schüsse im Erdgeschoss der Polizeistation hörte.
Kurze Zeit später ging das Licht im Treppenhaus an und sie vernahm Schritte. Ihr Puls sprang auf zweihundert und sie konnte das Pochen ihrer Halsschlagader spüren, ihre Hände waren schweißnass und ihr Mund wurde trocken.
Die Schritte im Treppenhaus kamen immer näher. Schnell drückte Damaris den Knopf für die Funkverbindung mit einem der diensthabenden Streifenwagen.
„Notfall in der Zentrale, bitte direkt kommen.“
Es konnte sich nur noch um Sekunden handeln, bis derjenige, der dort die Treppe hinauf kam, die Tür zu ihrem Büro aufstoßen würde. Da sie keine Polizistin, sondern lediglich Angestellte für den Polizeinotruf war, hatte sie nicht einmal eine Waffe. Aber sie wusste, dass einer der Polizisten, eine Pistole in der oberen Schublade seines Schreibtisches aufbewahrte – allerdings befand sich dessen Büro am anderen Ende der Etage und so war es unmöglich, jetzt dorthin zu gelangen, ohne demjenigen, der auf der Treppe war zu begegnen. Sie glitt von ihrem Stuhl und versteckte sich unter ihrem Schreibtisch. Auf der Straße konnte sie entfernt die Sirenen des Streifenwagens hören, sie lauschte, ohne die Augen von der Tür ihres Büros zu lösen. Nach ihrer Berechnung musste sich diese jeden Moment öffnen. Ihr Blick fixierte die Türklinke, aber nichts passierte. Die Schritte, die sie vor wenigen Momenten noch deutlich gehört hatte, waren verschwunden. Das Einzige, was jetzt durch die Räume schallte, waren die Sirenen, die höchstens noch eine Straße von der Polizeistation aufheulten. Ihre Kehle war trocken und ihre Hände schweißnass. Der Streifenwagen war jetzt vor der Polizeistation, die Sirenen verstummten und das Einzige, was sie hörte, waren zwei flüsternde Männerstimmen. Es dauerte nicht lange, dann stand Rainer Heimer, einer der Polizisten dieser Station, mit erhobener Waffe in ihrem Büro. Eine Sekunde später betrat ein Mann, den sie noch nie gesehen hatte, mit der Waffe im Anschlag den Raum.
„Damaris, was ist los?“, sagte Rainer und seine Stimme hatte etwas an sich, dass sie schwer zuordnen konnte. Augenblicklich wurde ihre Haut aschfahl und mit zitternder Stimme antwortete sie auf die Frage. „Irgendjemand war hier in der Station und es gab zwei Schüsse. Wo sind die beiden Wachleute, die unten im Foyer Dienst haben?“ Eigentlich war ihr die Antwort klar.
Rainer nahm ihre Hand. Damaris fiel sofort auf, dass seine Hand ganz kalt war. „Sie sind tot“, sagte er leise. „Hast du irgendjemand gesehen? Oder war irgendetwas Ungewöhnliches in dieser Nacht?“
„Gesehen habe ich nichts, ich habe nur die zwei gedämpften Schüsse gehört. Ja und dann gab es da ein Telefonanruf. Es hat wie ein Jungenstreich geklungen. Ich habe aber alles auf Band und werde es morgen dem Chef vorspielen.“
„Hast du Herrn Becher noch nicht über die Vorfälle informiert?“
„Nein, bis jetzt noch nicht. Ich denke, wir sollten ihn anpiepsen und dann auch direkt die Spurensicherung aus Dieken kommen lassen.“
Das „lassen“ wäre ihr fast im Hals stecken geblieben. Rainers Hand hatte ihre losgelassen. In seinen Augen sah sie, dass etwas nicht stimmte. Rainer wusste, wie man mit einer Handbewegung jemandem die Halswirbel brechen konnte. Aus seiner Tasche holte er einen schwarzen Lederhandschuh, wie ihn alle Polizisten mit sich führten. Er streichelte ihr mit der linken Hand über das blonde, kurz geschnittene Haar. Dann schnellte seine Rechte an ihren Unterkiefer, sodass der Kopf ruckartig nach hinten flog.
Es knackte, wie wenn man dürres Holz im Winter für den Kamin klein machte. Nur, dass hier kein dürres Holz gebrochen wurde, sondern einer der Halswirbel von Damaris Rollflügel. Eigentlich hätte Damaris nun die letzte Ehre zu Teil werden sollen. Jedoch war dort niemand, der für sie ein Gebet sprach oder ihre vor Todesangst geweitet Augen schloss. Erst, wenn die Spurensicherung ihren Job gemacht hatte, würde sie mit einem städtischen Leichenwagen abtransportiert werden und dann würden auch ihre Augen geschlossen werden.
Für Rainer war dies hier ein Job, für den er bezahlt wurde und diesen wollte er gut ausführen. Mit seiner rechten, immer noch vom Lederhandschuh geschützten Hand, drückte er somit den Notrufknopf, um zusätzliche Streifenwagen zur Station zu ordern. Als Nächstes wurde Jörn Becher angepiepst und die Spurensicherung aus Dieken gerufen. Alles musste jetzt sehr schnell gehen. In der Regel braucht der nächstgelegene Streifenwagen höchstens drei Minuten bis zur Polizeistation und Herr Becher würde auch in den nächsten zehn Minuten hier auftauchen. Er war zwar ein unausstehlicher Typ, hatte aber einen Scharfsinn, der nicht unterschätzt werden durfte.