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Kapitel 10
ОглавлениеNachdem Shilané die scheinbar endlose Diskussion mit den Fraktionen endlich zu einem positiven Ende gebracht hatte, wendete sie sich mit einem neuen Thema an die Anwesenden. Eindringlich bat sie um die Hilfe in einer persönlichen Sache, die jedoch auch mit dem zuvor Besprochenem zu tun hatte.
"Ich gehe mal davon aus, dass ihr Arazeel nicht aus den Augen verloren habt. Richtig?"
"Offengestanden hatten wir das. Nachdem wir erfahren hatten, dass Leto den Jungen nach Çapitis zu jemand anderem gebracht hatte, versuchten wir dort seine Spur aufzunehmen, um dauerhaft im Bilde darüber zu sein, was sein Vater weiterhin vorhatte. Das Unterfangen stellte sich jedoch als schwieriger heraus, als wir dachten. Der Moloch dieser Stadt hatte ihn verschluckt und wir konnten ihn einfach nicht mehr ausfindig machen. Deswegen gaben wir nach mehreren Monaten auf und zogen uns zurück."
"Das soll heißen, ihr habt derzeit keine Ahnung, wo er sich befindet?", fragte Shilané enttäuscht.
"Das ist nicht richtig", korrigierte der Mann mittleren Alters. "Einer unserer Magus entdeckte ihn vor einigen Monaten in den Dædlænds, die er eindeutig planlos durchstreifte. Als er den Jungen ansprach, schien dieser nicht bei Verstand zu sein, weswegen der Magus ihn in Ruhe ließ und aus der Ferne begleitete und beobachtete. Er informierte uns über sein neuerliches auftauchen, weswegen wir von da an darauf bedacht waren, immer in seiner Nähe zu bleiben."
"Und was geschah dann?", erkundigte sich die junge Magus aufgeregt.
"Wir verloren ihn erneut. Das Letzte, was uns der Magus mitteilen konnte war, dass er den Jungen auf einem Verteilerbahnhof gesehen hatte. Vermutlich war er in einen der Züge gestiegen. Wir konnten nur nicht sagen, in welchen. Der Magus kehrte zurück und wir fingen an, Arazeel langsam zu vergessen. Bis unerwartet ein weiteres Mitglied unserer Gemeinschaft den Jungen in Nuhåven erkannte. Natürlich wusste sie, was das für uns bedeutete, weswegen sie sich von da an immer in seiner Nähe aufhielt, ohne ihn jemals zu kontaktieren. Doch dann brach der Bürgerkrieg in der Stadt aus und unsere Schwester kam dabei ums Leben. Bevor wir jemand neues schicken konnte, war Arazeel ein weiteres Mal verschwunden."
"Aber ihr habt ihn wiedergefunden?", fragte Shilané voller Hoffnung.
"Leider nicht. Nach der Zerstörung der Stadt war das Chaos so groß, dass es uns unmöglich war diese eine Person unter den Millionen anderen zu finden. Es tut mir leid, aber ich kann dir nicht sagen, wo dein Bruder ist."
"Wer könnte mir dabei helfen, ihn zu finden?"
"Schlecht zu sagen. Wir haben uns intensiv bemüht, seine Spur erneut aufzunehmen. Bislang jedoch erfolglos."
"Das heißt, ihr sucht immer noch nach ihm?"
"Das tun wir. Wir müssen immer noch Kontrolle über ihn haben, um zu wissen, was mit dem Land geschehen wird. Ich nehme an, du weißt mittlerweile ebenfalls, welche Verbindung er zu all den Ereignissen hat?", fragte der Mann bohrend nach.
"Ja, das weiß ich. Und deswegen muss ich ihn auch unbedingt finden. Er könnte sowohl Gutes wie auch Schlechtes für unser Land und Volk bringen. Ich muss zusehen, dass ich ihn in die richtige Richtung wenden kann. Auch, wenn ich glaube, dass es sehr schwer wird ihm zu vermitteln, wer ich bin. Ich habe keine Ahnung, wie er wohl auf eine Stiefschwester reagieren wird. Ob er mir überhaupt glaubt. Aber ich muss es versuchen. Deswegen muss ich einfach noch einmal fragen, wer mir dabei helfen könnte, ihn zu finden." Es entstand ein langes Schweigen, während dem sich die Anwesenden immer wieder anblickten, ihre Augen vom einen zum anderen wanderten, nur um sich dann schnell wieder zu lösen. "Was ist los?", erkundigte sich das junge Mädchen scharf. Sie hatte bemerkt, dass irgendetwas vor sich ging. Einige der Anwesenden schickten sich an, zu gehen. "Halt!", rief Shilané aus. "Es wird niemand gehen, bevor ich nicht weiß, was ihr mir verheimlicht." Abrupt blieben alle stehen und schauten auf den Mann mittleren Alters, der zuvor mit ihr gesprochen hatte. Der blickte traurig zurück und zuckte dann mit den Schultern.
"Du hast noch nicht alle Fraktionen kennengelernt", eröffnete er das Gespräch. "Es gibt da eine Gruppe von Frauen, die sich aufgrund von Unstimmigkeiten", einer der Anwesenden lachte leise auf, "abgetrennt haben. Sie haben ein besonderes Interesse an Arazeel. Frag mich nicht, wo drin dieses besteht", wehrte der Mann sofort ab, bevor Shilané eine Zwischenfrage stellen konnte. "Ich denke jedoch nicht, dass sie es gut mit ihm meinen."
"Du meinst, sie könnten ihn bereits umgebracht haben?"
"Ich kann es nicht sagen", erwiderte er verzweifelt. "Ich würde ja sagen, geh zu ihnen und frag sie, aber ich weiß noch nicht einmal wie sie reagieren werden, wenn du dort auftauchst und dich nach dem Jungen erkundigst. Niemand hat je herausbekommen, was sie mit ihm vorhaben. Es gab sogar Gerüchte, sie wollten ihn dazu verwenden, einen eigenen Staat aufzubauen. Das Land hier zu regieren. Es zu einem Land der Magus zu machen."
"Noch jemand, der meint, seine Spezies sein privilegierter, als die Menschen. Das bedeutet dann nur, dass diese Frauen nicht besser sind, als die Hexe mit ihren Mutanten."
"Wie gesagt, es ist nur ein Gerücht. Keiner hat eine Ahnung, woher es stammt oder wer es aufgebracht hat. Ich persönlich halte es für Blödsinn. Trotzdem sollten wir es nicht ganz beiseiteschieben. Möglicherweise liegt ein wenig Wahrheit darin."
"Und wie soll mir das nun bei meiner Suche weiterhelfen?"
"Leider wenig bis gar nicht. Aber das ist die letzte Hoffnung, die ich dir mitgeben kann."
"Also gut. Wo finde ich diese letzte Fraktion?"
"Das ist schwierig. Sie versteckt sich in einer Klosteranlage irgendwo in den Bergen. Angeblich soll sie sogar aus dem Berg selbst gehauen worden sein. Würde mich nicht wundern, wenn dem so ist. Schließlich gehört der Stein zur Erde und die Erde ist nun mal eines der vier Elemente."
"Dann werde ich mich wohl auf die Suche nach diesem Kloster machen müssen. Gibt es vielleicht noch irgendwelche Hinweise, die das Gebiet eingrenzen?" In der nächsten dreiviertel Stunde sammelte Shilané alles, was ihr die Anwesenden zu berichten wussten. Das meiste stammte vom Hörensagen. Einige warteten jedoch sogar mit konkreten Angaben auf, die sie aus ihren Familienchroniken hatten oder direkt von ihren Eltern und Großeltern erzählt wurden. Hinzu kamen dann noch die Geschichten, welche definitiv nicht stimmen konnten, da sie einfach zu fantastisch waren. Aber auch dort konnte sich ein Körnchen Wahrheit finden. Mit all diesen Informationen begab sich die junge Magus wieder durch ein Portal in ihren Raum in der Bastei, wo sie sofort anfing alles auszuwerten. In der Mitte von Unmengen an Papier sitzend, sortierte sie alle Angaben, notierte sich die Dinge, die mehrfach und unabhängig von verschiedenen Personen berichtet wurden. Langsam kristallisierten sich Beschreibungen des Klosters heraus, Angaben zu natürlichen Eigenheit des Gebietes, Flüsse, Felsformationen und vieles mehr. Schließlich konnte sie alles auf drei Blättern zusammenfassen und machte sich damit auf den Weg in die Bibliothek. Am aufregendsten fand sie die Beschreibung einer Felsformation, die das Blatt der Alten genannt wurde. Eine Bezeichnung, die sie nur all zu gut kannte. Sie musste nur noch endlich genau herausfinden, wo sich dieser Fels in Form eines Schwertes befand. Dazu suchte sie nach alten Karten, die nicht wie die modernen einfach nur aus verschiedenen Farben bestanden, welche dann für Wald, Wüste und Gebirge bestanden, sondern auf denen Besonderheiten noch mit zweidimensionalen Zeichnungen hervorgehoben wurden. Endlich, nach stundenlangem durchsuchen der Regale und Bücher, fand Shilané das, wonach sie gesucht hatte. Eine Karte, die vor etwas mehr als einhundert Jahren angefertigt wurde. Mit äußerster Vorsicht entfaltete sie das Din A3 große Blatt. Da war das Schwert, dieses Blatt der Alten, nach dem sie schon so lange gesucht hatte. Unglaublich viele Geschichten rankten sich um dieses Symbol. Geschichten, die ihre Mutter ihr immer und immer wieder erzählen musste, bis diese einfach keine Lust mehr dazu hatte.
"Hier bist du", erscholl plötzlich die Stimme des Ratsherren. Das Mädchen zuckte heftig zusammen. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Fast wäre sie gestorben, hatte die junge Frau das Gefühl. "Ich bitte um Entschuldigung", fuhr der Mann umgehend fort. "Ich wollte dich nicht erschrecken."
"Ist schon gut", antwortete Shilané immer noch schwer atmend. "Ich war nur so sehr vertieft."
"Was schaust du dir da an?" Er kam näher und blickte über ihre Schulter. Sofort erkannte der Magus, was dort auf dem Tisch vor ihm lag. Und er begriff augenblicklich. Hektisch dachte er darüber nach, wie er es verhindern konnte. Doch dann musste er sich eingestehen, dass es dazu vermutlich schon zu spät war. Oder doch nicht?
"Meine Mutter hat mir oft von diesem Blatt der Alten berichtet. Ich wollte die Geschichten immer wieder aufs Neue hören. Jetzt, wo ich hier bin, wollte ich endlich einmal in Erfahrung bringen, ob es denn wirklich existiert", log sie ihm vor.
"Und du bist nicht auf der Suche nach etwas anderem?", hakte der Ratsälteste nach.
"Gibt es da noch etwas anderes?", fragte sie gespielt überrascht. "Wenn dem so ist, würde ich mich freuen, wenn Sie es mir erzählen würden."
"Nein, da gibt es nicht wirklich noch etwas. Nur einige erfundene Geschichten, die man seinen Kindern erzählt, wenn sie unartig waren", erwiderte der Mann mit einem väterlichen Lächeln. Shilané durchschaute jedoch ohne Probleme seine Anspielung und schwor sich, sobald er wieder verschwunden war, noch um einiges tiefer zu graben. Offensichtlich gab es an dieser Stelle mehr zu finden, als die alten Geschichten hergaben. Zu ihrem Glück lagen die persönlichen Aufzeichnungen, die sie zuvor gemacht hatte, unter der Karte und konnten somit nicht von dem Ratsherren gesehen werden. Sie würde sich diese und auch die anderen in ihrem Zimmer noch einmal genauer ansehen. Möglicherweise übersah das junge Mädchen noch einen wichtigen Hinweis auf das Kloster oder aber auch auf eine andere, wichtige Sache. Das Verhalten des alten Mannes gab ihr zu bedenken. Er verheimlichte etwas. Nur er? Oder wussten die anderen aus dem Rat ebenfalls mehr? Das musste sie unbedingt in Erfahrung bringen. Endlich ging der Führer des Rates wieder und sie konnte ihre Arbeit fortführen. Die junge Frau war sich jedoch überaus sicher, dass er die anderen informieren würde. Kaum, dass der Mann aus dem Raum war, öffnete sie ein Portal in ihr Zimmer, um alle dort herumliegenden Papiere zusammenzuraffen und in die Bibliothek mitzunehmen. Keine Minute zu früh, wie sich schnell herausstellen sollte. Erneut machte sie sich intensiv an die Arbeit. Was um alles in der Welt war an diesem Ort so besonders, so geheimnisvoll? So gut Shilané konnte, bereitete sie alles vor. Wenn sie an dem Blatt der Alten eintraf, musste sie zumindest ungefähr wissen, wonach sie suchte.