Читать книгу Renaissance 2.0 - Christian Jesch - Страница 7
Kapitel 6
ОглавлениеEs waren weniger als fünfunddreißig Stunden vergangen, seitdem Kaziir und Tandra das Antiquar der Templar mit dem ausgeliehenen Fahrzeug verlassen hatten. Thevog hatte noch versprochen, dass er, sobald sie Shilané fanden, wieder zu den beiden aufschließen würde. Vermutlich würde dies aber nicht so schnell der Fall sein, da das Antiquar eine riesige Bibliothek besaß, in der der Junge schon ziemlich bald nach ihrer Ankunft verschwand. Kaziir war dies auch ohne weiteres recht, denn sie hatte nun ein Vielzahl an Aufgaben zu erledigen, die durch den Tod von Riém jetzt auf die Suprimekommandantin zugekommen waren.
In der Zentral von Çapitis angekommen, wollte sie daher zunächst einmal duschen und sich frisch machen, bevor es an die Arbeit ging. Desgleichen hatte auch Tandra vor, die bei dem Wort duschen ihrer Lebenspartnerin einen eindeutigen Blick zuwarf, den Kaziir mit einem unsichtbaren Lächeln erwiderte. Doch soweit sollte es erst einmal nicht kommen. Kaum, dass die beiden durch die Tür waren, stürmten schon die ersten hochrangigen Offiziere auf sie zu.
"Frau Suprimegeneralin", rief einer von ihnen. "Wir hatten keine Ahnung, wann Sie kommen würden." Kaziir schaute verwundert hinter sich, ob da noch jemand war, der mit ihr zusammen das Gebäude betreten hätte. Doch da war niemand. Tandra blickte sich ebenfalls unsicher um. Dann blieb der Offizier direkt vor Kaziir stehen und salutierte, was etwas unsinnig aussah, da dies ein geheimes Operationszentrum der Renegaten war und niemand eine Uniform trug. Etwas unentschlossen entgegnete Kaziir den Gruß und wartete ab, was passieren würde.
"Frau Suprimegeneralin", wiederholte der Mann erneut und wurde daraufhin sofort unterbrochen.
"Die Suprimegeneralin ist tot. Das wissen sie?", fragte die Renegatenlegende von Nuhåven.
"Das weiß ich", antwortete der Offizier beflissen. Dann dämmerte ihm etwas. "Aber Sie wissen anscheinend noch nicht, dass Sie sie neue Suprimegeneralin sind. Auf Verfügung von Riém in ihrem Nachlass." Kaziir klappte der Kiefer herunter. Nein, das wusste sie natürlich noch nicht. Wer hätte ihr das auch sagen können?
"Bringen Sie mich zum Kommandanten", forderte sie den Mann auf, der auf der Stelle kehrtmachte und mit den beiden im Schlepptau davoneilte. Wenige Minuten später standen sie in einem geräumigen Büro einer Im- und Export Firma, da die gesamte Zentrale des Widerstandes als eines der führenden Kontore des Landes getarnt war. Die Kommandantin sprang sofort auf und salutierte ebenfalls, als Kaziir den Raum betrat. Die nickte der Frau aber nur müde zu und ließ sich in einender freien Sessel fallen.
"Erzählen Sie mal", verlangte sie fast schlaftrunken.
"Was darf ich Ihnen berichten?", fragte die Frau unsicher.
"Fangen Sie einfach mit dem Vermächtnis von Riém an. Ich picke mir dann schon die wichtigen Dinge heraus."
"Die Suprimegeneralin weiß noch nichts von Ihrer Beförderung", half der Offizier der Kommandantin aus, die immer noch verwirrt hinter ihrem Schreibtisch stand. Immerhin hatte sie mittlerweile aufgehört zu salutieren.
"Nachdem der Tod von Suprimegeneralin Riém bekannt wurde, folgte der Subgeneral dem Protokoll und öffnete den Safe in der Geheimdienstzentrale, wo sich die Anweisungen befanden, was im Falle ihres Ablebens zu tun sei. Ich erhielt die Papiere in den folgenden Tagen. Als erster Punkt war die Nennung der Nachfolge eingetragen, die somit an sie gefallen ist, Suprimegeneralin."
"Wenn Sie mich noch einmal Suprimegeneralin nennen", unterbrach Tandras Lebensgefährtin, "wander ich sofort in die Dædlænds aus und komme nie wieder. Nennen Sie mich Kaziir. Andernfalls fühle ich mich um Jahrzehnte gealtert und das ist nicht gut für mein Ego. Weiter."
"Also gut, Kaziir. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass Sie die neue Sie wissen schon sind. Damit erhalten Sie Zugriff auf alle Geheiminformationen des obersten Zirkel. Diese werden Ihnen in den nächsten Tagen durch den Subgeneral zur Verfügung gestellt, sobald er hier eingetroffen ist. Wie Sie damit verfahren, ob sie diese so ausführen werden, wie die Suprimegeneralin Riém es geplant hat oder nicht, bleibt Ihnen überlassen."
"Das ist alles schön und gut", unterbrach Kaziir erneut. "Aber es hat im Moment keine Bedeutung. Wir haben ein viel größeres Problem, als Mår-quell zu stürzen. Vor einigen Wochen hat sich in Nuhåven eine Gruppe von Mutanten zu einer Liga des Untergangs zusammengefunden, die Mittlerweile mehrere hundert Metamenschen vereint. Diese Leute wurden bislang von einer Gewissen Ysana angeführt, die alles daran gesetzt hat, eine Nation der Übermenschen zu etablieren und die normalen Menschen zu unterdrücken."
"Sie sagten, bislang", stoppt der Kommandant sie in ihrem Redefluss. "Ich nehme an, das bedeutet, diese Ysana hat…"
"Ysana ist tot. Was jedoch nur heißt, dass jemand anderes aus der Liga die Führung übernehmen wird. So oder so sind diese Mutanten immer noch eine Gefahr für die Menschheit. Sie sehen, die Regierung zu stürzen ist momentan zweitrangig. Selbst, wenn wir das in den nächsten Tagen schaffen sollten, wird in naher Zukunft diese Liga mit ihrer Armee vor unseren Toren stehen und vermutlich alle vernichten, die sich ihnen nicht unterwerfen."
"Was schlagen Sie also vor, Suprime…, ich meinte Kaziir?" verbesserte sich die Frau.
"Wir müssen uns eine Gegenwehr aufbauen."
"Ich weiß nicht, ob unser Mutantencorps ausreichend genug ist, sich gegen diese Gruppe zu stellen."
"Wir haben ein Mutantencorps?", fragte Kaziir erstaunt und ungläubig nach.
"Das haben wir. Ich vermute, Sie finden alles darüber in den Unterlagen der Suprimegeneralin Riém. Viel kann ich Ihnen nicht sagen, nur, dass wir eins haben und das es auf mehrere Stützpunkte verteilt ist." Kaziir verarbeitete diese neue Information nur langsam. Riém hatte diesen Umstand ihr gegenüber nie erwähnt, obwohl sie der Abgeordneten mehrfach über die Liga Bericht erstattet hatte. Dann kam ihr plötzlich ein Gedanke, den sie jedoch zunächst wieder verwarf. Doch der Geistesblitz wollte sie einfach nicht loslassen.
"Was wissen sie über das Rempa Luak?"
"Bitte? Ich verstehe nicht", antwortete die Kommandantin irritiert. "Was soll das sein?"
"Ich sehe schon", kommentierte die neue Suprimegeneralin. "Offensichtlich sind Sie nicht über die Droge informiert, was mich zu der Annahme bringt, dass Riém scheinbar mal wieder im Geheimen gehandelt hat. Aber möglicherweise erklärt das Mutantencorps die fehlenden Lieferungen an die Templar."
"Ich verstehe kein Wort von dem, was Sie das sagen. Wer sind die Templar?"
"Um Ihnen all das zu erklären, was ich in den letzten Wochen erfahren habe, bräuchte ich Tage. Und die Zeit haben wir nicht. Verbinden Sie mich so schnell wie möglich mit dem Corps."
"Das kann ich leider nicht. Die Suprimegeneralin war die einzige, die Kontakt zu dieser Spezialeinheit hatte. Ich nehme an, wenn die Unterlage eingetroffen sind, finden Sie dort alles, was Sie benötigen, um sich mit ihnen in Verbindung zu setzen."
"Also gut. Ich kann mir allerdings vorstellen, dass ich mit meiner Vermutung absolut richtig liege, so wie ich Riém kennengelernt habe. Die Frau war so ein Eigenbrötler, dass kaum jemand in ihrem Umfeld auch nur erahnen konnte, was sie plante. Als müsse sie den Kampf gegen Mår-quell alleine ausfechten. Schrecklich. Unter Umständen wären wir schon viel weiter, wenn sie nicht alles mögliche für sich behalten hätte." Kaziir hatte ihren Satz kaum beendet, als die Tür aufflogt und mit einem lauten Knall gegen die Wand schlug. Eine aufgeregt junge Frau forderte die Anwesenden hyperventilierend auf, das Staatsfernsehen einzuschalten. Mit einem fragenden Blick griff die Kommandantin langsam zur Fernbedienung und aktivierte den Monitor an der Wand. Sekunden später entstand ein Bild, das offensichtlich aus dem Bundessenat gesendet wurde. Nur waren nicht die üblichen Politiker zu erkennen, sondern vollkommen fremde Personen. Der Mann stellte den Ton lauter.
"...Mitglieder der ehemaligen Regierung Mår-quell wurden vom Militär festgenommen und wegen Verrat am Volk inhaftiert. Weiter wurde bereits durch das oberste Gericht ein Verbot der Parteien ausgesprochen, denen die früheren Staatspolitiker angehören. Ich bitte sie darum, davon abzusehen irgendwelche Demonstrationen, Aufrufe oder anders geartete Aktionen ins Leben zu rufen, welche die alte Regierung erneut an die Macht befördern sollen. Diese Forderungen werden als Verrat erachtet und entsprechend geahndet. Wir, das Militär, wollen nur das Beste für das Volk. Unser Ziel ist es die Mittel- und Unterschicht zugunsten eines besseren Lebens abzuschaffen. Alles, was für das Leben wichtig ist, wird ab heute vom Staat geregelt. Das bedeutet Einkommen und Lebensmittelpreise, damit ein jeder sich alles leisten kann, was er benötigt. Gleiches gilt für Kredit- und Anlagezinsen.
Was jedoch zurzeit unsere größte Sorge sein wird, ist die entstandene Pandemie. Wir werden alles erdenklich in die Wege leiten, um die Menschen zu schützen ohne dabei die Wirtschaft oder die Sozialstrukturen zu gefährden. Vorerst bleibt es dabei, dass ein jeder umgehend nach Verlassen seines Haushaltes eine Mund-Nasen-Schutz tragen wird. Außerdem gilt weiterhin der Mindestabstand. Hinzu kommt die maximale Anzahl von Kunden in den Geschäften, der Gastronomie und des Kulturbereichs. Hier werden noch detailliertere Maßnahmen folgen, die wir in den nächsten Tagen und Wochen festlegen werden. Zudem werden wir die Erforschung des Virus vorantreiben und so schnell wie möglich eine Impfung ermöglichen. Die Grenzen werden bis auf weiteres für Ausländer geschlossen. Das bedeutet, Ausländer dürfen aus-, aber nicht einreisen. Einreisen dürfen nur Personen, die hier geboren wurden und auch hier leben. Dadurch wird die Verbreitung des Virus aus dem Ausland eingeschränkt." Die Ansprache ging noch eine gute halbe Stunde weiter, bis sich dann der neue Regierungschef von der Presse verabschiedete, bevor diese Fragen stellen konnte. Die Kommandantin schaltete den Monitor wieder ab und ein langes Schweigen breitete sich im Raum aus. Jeder der Anwesenden blickte auf die schwarze Fläche an der Wand. Ungläubig versuchten sie das eben Gesehene und Gehörte zu verarbeiten. Niemand hatte damit gerechnet, dass das Militär so offen die Macht an sich reißen würde. Alle waren sie davon ausgegangen, dass sie schon längst hinter den Kulissen die Geschicke des Landes kontrollierten und die Politiker nur ihre Marionetten waren. Doch scheinbar brachte diese Taktik nicht den von ihnen gewünschten Erfolg, weswegen sie die Strohfiguren einfach beseitigten.
"Ich hätte nicht gedacht, dass ich das noch erleben würde", sprach die Kommandantin als Erste.
"Das erschwert unsere Arbeit um einiges", kommentierte Tandra. "Gegen Mår-quell vorzugehen war einfach, gegen das Militär hingegen, unmöglich."
"Es ist nicht das Militär, das hier an der Macht ist", überraschte Kaziir. "Es ist die oberste Geschäftsetage der ProTeq, die das Sagen hat. Sie müssen wir bekämpfen. Das sind zwar weitaus weniger Leute, dafür ist es um so schwieriger, an sie heranzukommen. Im Vergleich zu den Sicherheitsvorkehrungen bei der ProTeq sind die der Regierung und des Senates Kinderkram. Und selbst wenn wir die Führung des Unternehmens in unsere Gewalt bekommen oder wie auch immer aus dem Spiel nehmen, heißt das noch lange nicht, dass wir die Militärregierung damit stürzen. Ich befürchte fast, sollten wir die ProTeq stürzen, wird sich das Militär alle Freiheiten nehmen und das Land nach seinen eigenen Vorstellungen regieren. Und was das bedeutet, kann sich wohl jeder von uns hier ausrechnen. Wir sind in einer unglaublichen Zwangslage, bei der jede Entscheidung nur die falsche sein kann." Erneut trat schweigen ein. Die Anwesenden dachten intensiv über die Worte der neuen Suprimegeneralin nach, nur um ihr schlussendlich zuzustimmen. Das Land war jetzt in einer Situation, die alles für das Volk nur noch schlimmer und schwieriger machte.