Читать книгу Renaissance 2.0 - Christian Jesch - Страница 4
"Nein. Sie sind in Ordnung, Suprimekommandantin Kaziir und Suprimemajor Tandra. Wenn ich Ihnen nicht vertrauen kann, wem dann?" Kapitel 3
ОглавлениеJikav öffnet vorsichtig seine Augen. Sein Schädel fühlte sich an, als wolle er zerspringen. Nur ganz allmählich kamen ihm die ersten Erinnerungen des gestrigen Tages wieder ins Gedächtnis. Er war in irgendeiner Stadt angekommen und in einem Gasthof eingekehrt, wo er sich völlig frustriert einige Getränke bestellt hatte. Was hatte ihm der Gastwirt nochmal gebracht? Er wusste es nicht mehr. Mühsam drehte er den Kopf zur Seite in Richtung des Fensters. Vor dem grellen Tageslicht konnte Jikav eine Silhouette ausfindig machen. Lange, gelockte Haare die ein Gesicht verdeckten, dass nach unten auf ein Comtab blickte. Er öffnete den Mund, um die Person zu fragen, wer sie denn sei, als es ihm wieder einfiel, wer dort auf dem unbequemen Stuhl saß. Femm. Die Frau, die ihn schon seit einiger Zeit verfolgte und von der Jikav rein gar nichts wusste, außer, dass sie ihn ständig Arazeel nannte.
Die junge Frau bemerkte, dass sich die Person neben ihr im Bett regte. Schnell beendete sie ihre Tätigkeit auf dem Kommunikationsgerät und legte es beiseite. Ihre vollen Lippen dehnten sich zu einem Lächeln, dass Jikav Mut machen sollte. Die braunen Augen betrachteten den Jungen interessiert, während dieser versuchte sich langsam in eine sitzende Position zu bringen. Mehrmals stöhnte er unterdrückt auf und fasste sich an die Schläfe oder den Hinterkopf. Dann hatte er es endlich geschafft. Mit leicht schmerzverzerrtem Gesicht, auf dem sich ebenso Wut abzeichnete, blickte er zu der schlanken Frau rüber.
"Na", sprach Femm ihn an. "Bist du langsam mal aus deinem Koma erwacht?"
Ihre Stimme war wie Feengesang, der durch mehrere Meter Watte zu ihm gelangte. Er bewegte seine Zunge einige Male im Mund hin und her. Sein Gefühl sagte ihm, dass sie auf mindestens das Doppelte angeschwollen sein musste. Jedenfalls glaubte er das. Dann stutzte er. Was hatte sie da eben von einem Koma gesagt?
"Was?", brachte er mühsam hervor.
"Du hast dich gestern mit drei Liter Starkbier abgefüllt", erklärte Femm ihm die Situation. "Dann bist du umgekippt. Ich habe hier ein Zimmer gemietet und dich raufgeschleppt. Das ist passiert?"
"Wieso?"
"Keine Ahnung, warum du dich betrunken hast. Aber scheinbar verträgst du nicht viel", lachte die junge Frau, was ihre rehbraunen Augen zum Aufblitzen brachte.
"Nein", widersprach Jikav. "Ich meine, wieso bist du schon wieder hier, bei mir? Was willst du von mir?"
"Ich bin dein Schutzengel, wie mir scheint."
"Ich brauche keinen", erwiderte Jikav mit einem wütenden Blick auf die Frau. "Ich komme in dieser scheiß Welt auch gut ohne dich klar."
"Das sehe ich", gluckste Femm erheitert, während sie ihm dabei zusah, wie er versuchte das Bett auf möglichst elegante Weise zu verlassen.
"Ich habe dir schon einmal gesagt, ich bin nicht dein Azrael oder wie der Kerl heißt, den du da suchst. Verschwinde und lass mich einfach in Ruhe."
"Da kann ich dir leider nicht zustimmen, denn du bist Arazeel. Ich weiß das und du wirst es auch wieder wissen, wenn die Zeit gekommen ist."
"Ruhe", schrie Jikav laut auf und stützte sich sofort an der Wand ab. Er wartete einen Moment, bis das Schwindelgefühl wieder vorbei war, dann setzte er seinen Satz fort. "Immer wieder muss ich mir diesen Mist anhören. Irgendwelche Leute, die mir sagen, ich wäre etwas Besonderes und würde mich bald daran erinnern. Ich habe es satt, dass man mich vorführt und verarscht. Ihr könnt euch eure verfickte Hokoash sonst wo hinstecken. Ich habe mit dem ganzen Scheiß nichts zu tun. Kapiert ihr das endlich?" Jikavs Stimme war immer lauter geworden, sodass der Wirt die Treppe hinaufgeeilt war, um nach dem Rechten zu sehen. Als er jetzt die Tür öffnete, winkte ihm Femm sofort zu, dass alles in Ordnung sei. Der Mann schaute die Frau ungläubig an, die ihm erneut wiederum zu verstehen gab, er könne gehen. Langsam zog er die Tür ins Schloss und begab sich nach unten. Femm wendete sich erneut Jikav oder wie sie ihn nannte, Arazeel, zu, um ihm tief in seine zornigen Augen zu blicken. Die vorangegangene Leichtigkeit war verschwunden. Man konnte sehen, dass es ihr vollkommen ernst war.
"Du hast es satt?", sagte sie bedrohlich und wiederholte die Frage sogleich noch einmal. "Was glaubst du eigentlich wie satt wir es haben, hinter dir her zu sein, nur damit du keine Probleme verursachst. Du hast so viele Menschen in Gefahr gebracht und trotzdem hat man dich immer und immer wieder geschützt. Ich war mal deine Freundin. Deswegen habe ich die Aufgabe übernommen, auf dich aufzupassen. Und ganz ehrlich, du hast es niemanden von uns leicht gemacht. Die Welt hätte gut und gerne auf dich verzichten können. Du arroganter Arsch. Was ist bloß in dich gefahren, dass du dich so aufführst?" Femm trat zu dem Jungen und starrte im ins Gesicht, auf der Suche nach einem Anzeichen, das ihre Frage beantworten könnte. Schließlich ging sie einen Schritt zurück, um ihm dann mit der flachen Hand und dem gesamten Gewicht ihres Körpers in dasselbe zu schlagen, was ihn beinahe aus dem Gleichgewicht gebracht hätte. Wutendbrand machte sie kehrt und verließ das Zimmer. Femm stürmte in den Schankraum und bestellte bei dem immer noch besorgten Mann ein Frühstück, das sie verärgert in sich hinein schaufelte, während sie der Sondersendung im Fernsehen folgte.
"Wie sich im Laufe der letzten Tage herausstellte, ist das gefürchtete Virus aus Chani weltweit aufgetaucht. Die Regierungen gehen daher von einer globalen Pandemie aus, die jetzt bekämpft werden muss", verkündete der Moderator mit einem besorgten Gesichtsausdruck. "Die Bundessenatorin hat sich bereits an die Eternal Union gewandt, um gemeinsam mit den anderen Mitgliedsstaaten eine Lösung zu finden. Weiter wurde die sofortige Arbeit an einem Serum zum Schutze der Betroffenen aufgenommen. Die Bundessenatorin ist sich absolut sicher, dass die EU schon bald das Problem in den Griff bekommt."
Jikav hatte genug von dieser Verrückten. Während er seinen Rucksack packte, dachte er über das nach, was sie ihm an den Kopf geworfen hatte. Menschen in Gefahr gebracht. Probleme verursacht. Was sollte dieser Blödsinn? Natürlich hatte er das. Als Renegat geschehen diese Dinge nun einmal. Jeder, der an einer Mission beteiligt ist, kann in Gefahr geraten. Doch denen, die er angeführt hatte, war das nie passiert. Und was meinte sie mit Problemen? Der Widerstand musste Konflikte schaffen, damit diejenigen, die sie bekämpften, nicht so ohne Weiteres mit allem durchkamen. Plötzlich hielt er inne. War Femm vielleicht jemand, die der Regierung nahe stand? Unter diesem Aspekt betrachtet ergaben ihre Aussagen einen Sinn. Dann fiel ihm unerwartet noch ein Satz ein, den die Frau gesagt hatte. Ich war mal deine Freundin. Er verfiel ins Grübeln und blickte zur Tür herüber, als ob die Antwort von dort hereinkommen würde. Seine Freundin. Wie war das gemeint? Eine feste Freundin, wie Tandra, bevor sich herausstellte, dass sie möglicherweise seine Schwester war oder eher eine lose Freundin, die er nur kannte? So oder so, er müsste sich doch an sie erinnern. Außer, sie stammte aus seiner Kindheit oder seiner Jugendzeit. Die fehlten noch immer komplett in seinem Gedächtnis. Wenn dem so war, dann konnte sie ihm eventuell doch helfen. Mit einem Kopfschütteln verwarf Jikav den Gedanken sofort wieder und packte zu Ende. Wenige Minuten später war er durch den Hinterausgang verschwunden und tauchte erneut in die Dædlænds ein.
Sein Weg führte ihn, wie auch schon zuvor, sinnlos durch die Einöde. Alles schien ihm so Unsinnig. Zum ersten Mal seit langem hatte der Junge wieder an Tandra gedacht. Dieser Gedanke ließ ihn nun nicht mehr los. Warum hatte Riém so etwas behauptet? Dachte sie, er wäre nicht gut genug für ihre Tochter? Sollte es wirklich zutreffen, dass Tandra seine Schwester ist, hatte er die größte Sünde von allen mit ihr begangen. Nicht nur, dass er sich in sie verliebt hatte. Nein. Er hatte auch mit ihr geschlafen. Mehr als einmal. Und immer mit ihrem Einverständnis. Mit ihrem Einverständnis, echote es in seinem Kopf. Was, wenn ihre Aussage stimmte, dass sie sich nicht an Geschwister erinnerte? Was, wenn sie wirklich kein hatte? Dann wäre er auch nicht ihr Bruder. Aber würde Riém wirklich eine solche Lüge verbreiten, nur damit er sich von ihrer Tochter fern hielt. Sie hätte doch ganz einfach mit ihm das Gespräch suchen können. Mit ihnen beiden, um über alles zu reden. Fragen zu beantworten und Klarheit zu schaffen. Nein. Wahrscheinlich war die Suprimegeneralin so verbohrt in die Hokoash, dass ihr jedes Mittel recht war, Jikav von allem abzuhalten, was diese beeinträchtigen könnte. Wütend warf er seinen Rucksack zu Boden, um ihn dann einige Meter weiter zu kicken. Ein lauter Schrei der Verzweiflung folgte, der ihm Linderung verschaffen sollte, es jedoch nicht tat. Heftig atmend betrachtete er sich den Schaden, den er verursacht hatte. Die schrille Frequenz hatte eine Druckwelle ausgelöst, welche Bäume wegknicken ließ, wie Strohhalme. Ihm wurde deutlich, dass es nur eine Sache gab, die ihm Helfen konnte. Er musste zurück zu Riém und sie zur Rede stellen. Und sollte sie ihn belügen, würde er das merken. Er hatte vor, sie mit seiner Aktiv-Empathie dazu zu bringen, ihn zu mögen damit sie ihm dann die Wahrheit anvertraute. Dazu musste er nur ein paar Stellschrauben in ihren Gefühlen drehen. Das sollte für ihn eigentlich keine Schwierigkeit darstellen. Wenn er nicht so hitzköpfig gewesen wäre, hätte er sich das Weglaufen und die nagenden Zweifel auch ersparen können. Mit grimmigem Gesicht sammelte er seinen Sachen erneut ein und orientierte sich mithilfe seines Comtab. Dann drehte sich Jikav nach links, um den neuen Weg einzuschlagen, der ihm Gewissheit bringen sollte. Ohne Vorwarnung erschien das Gesicht von Tandra vor seinem inneren Auge. Die zärtlichen Umarmungen und Küsse fielen ihm wieder ein. Das Lachen mit ihr und den Freunden. Freude wandelte sich in Trauer. Trauer in Wut. Wut in Rache.
Nachdem Femm zu Ende gefrühstückt hatte, atmete sie einmal tief durch, um sich dann in das Zimmer im ersten Stock aufzumachen. Wenig überrascht stellte sie fest, dass es leer war. Sie wäre mehr erstaunt gewesen, hätte sie Arazeel noch vorgefunden. Schnell raffte sie ihr Hab und Gut zusammen, ging hinunter an den Tresen und bezahlte ihr Schulden. Dann kramte sie ihren Comtab aus der Tasche und schaute auf die Karte, die der Bildschirm anzeigte. Ein kleiner Punkt, etwas außerhalb der Stadt, war das, was ihre Aufmerksamkeit erregte. Zufrieden grinste die junge Frau bis über beide Ohren. Es hatte sich also doch gelohnt, während seiner Trunkenheit die Ortungsapp bei ihm zu installieren. Jetzt würde sie ihn nie wieder aus den Augen verlieren.