Читать книгу Die sieben Siegel der Dakyr - Band 2 - Kaltarra - Christian Linberg - Страница 6

- 3 Kaltarra -

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Von dieser Unterbrechung abgesehen, verlief der Rest des Weges ohne weitere Zwischenfälle. Zwei Kerzenlängen später erreichten wir die ersten Gebäude vor den Toren von Kaltarra. Von dort aus würde es nicht mehr lange bis zur Stadtmauer dauern.

Wir passierten zunächst große Gehöfte, die noch in einiger Entfernung zur Straße lagen. Doch je näher wir der Stadt kamen, je dichter rückten die Häuser an die Straße.

Schließlich konnten wir unter dem Schnee die ersten Pflastersteine erspüren, ein deutliches Zeichen für die Nähe einer Stadt.

Die Häuser hier am Rand der Straße waren klein und ärmlich. Nur aus Holz erbaut und mit Dächern aus dünnen Steinplatten. Ich war ziemlich sicher, dass sie nur aus einem Raum bestanden, in dessen Mitte eine kleine Feuerstelle in den Lehmboden eingelassen war. Ein kleines Loch im Dach diente als Rauchabzug.

Aus den meisten Häusern stieg Rauch auf. Der Geruch von brennendem Holz mischte sich mit dem Essensduft zu einer äußerst appetitlichen Mischung. Mir lief das Wasser im Mund zusammen und ich freute mich schon auf ein reichhaltiges Essen.

Die Bewohner waren also alle zu Hause und gerade dabei ihre Abendmahlzeit zuzubereiten. Das war vermutlich der Grund, warum wir bislang niemanden getroffen hatten. Darüber war ich ganz froh, denn das bedeutete weniger Zeugen, die uns beschreiben konnten. Doch das würde nicht lange so bleiben. Inzwischen konnten wir die Stadtmauer hinter den Häusern aufragen sehen.

Die ersten Menschen auf die wir dann schließlich trafen wichen erschrocken in ihre Häuser zurück und verbarrikadierten ihre Türen.

Viele liefen schreiend und um Hilfe rufend davon. So gut sie konnten, versteckten sie sich hinter den umstehenden Häusern oder verschwanden in schmalen Gassen. Hunde bellten oder rannten nach dem Knurren von Shadarr winselnd davon.

Wir passierten sowohl die Häuser als auch die Leute ohne auch nur einmal anzuhalten. Schließlich bogen wir um eine Kurve, hinter der wir den ersten direkten Blick auf die Stadtmauer werfen konnten.

Die Straße endete eine Bogenschussweite entfernt an einem flachen Turm in dem sich das zweiflügelige Tor befand.

Turm und Mauer wirkten alles andere als beeindruckend. Letztere war nur drei Mannslängen hoch und oben rund, so dass niemand wirklich darauf stehen konnte. Der Turm war nur eine Mannslänge höher, und hatte oben ebenfalls ein rundes Dach, statt eine Plattform zur Beobachtung der Umgebung.

Aber ich wusste aus Erfahrung, dass der Eindruck täuschte, denn die eigentliche Verteidigung der Stadt kam erst dahinter. Die erste Mauer diente nur dazu, unaufmerksame Angreifer in eine Falle zu locken. Sie verfügte über zahlreiche Schießscharten, die sowohl nach innen als auch nach außen zeigten. Im Inneren der Mauer gab es zwei Gänge die es den Verteidigern erlaubten, auf zwei Etagen Angreifer mit Bögen und Armbrüsten zu beschießen, ohne dass die Angreifer dabei die Chance hatten, näher an sie heran zu kommen.

Sinn machte die Konstruktion nur durch die einzigartige Stadt dahinter. Doch soweit waren wir noch nicht.

Vor dem Tor wartete eine kleine Gruppe aus Händlern, Bauern und Handwerkern auf Einlass. Von Ochsengespannen gezogene Wagen und kleine Handkarren wechselten sich ab. Einer der Bauern führte zwei laut meckernde Ziegen an einer Leine, ein anderer versuchte drei Käfige mit gackernden Hühnern, auf seiner Schubkarre, zu balancieren. Drei Händler saßen auf einem Berg Waren, den sie auf Weisung der Wachen am Tor gerade von ihrem Wagen abgeladen hatten. Ein Vierter stand wild schimpfend daneben und deutete abwechselnd auf sich, die Waren und dann auf die zwei Wachen, die die Habe in aller Seelenruhe untersuchten.

Das Geschrei der Menschen auf der Straße hatte gerade alle Aktivitäten zum Erliegen gebracht und jetzt drehten sich die Leute neugierig in unsere Richtung.

Eine Abteilung Soldaten war bereits an ihnen vorbeimarschiert und in unsere Richtung unterwegs, um die Ursache für den Tumult zu überprüfen. So nah an der Stadt schienen sie nicht übermäßig besorgt, denn keiner von ihnen hatte eine schussbereite Armbrust oder ein gezogenes Schwert in der Hand. Vielmehr schwenkten sie Knüppel und Diebesschlingen in den Händen. Das waren lange Stangen mit einer Drahtschlinge am Ende. Wenn man geschickt war, konnte man jemandem die Schlinge um den Hals legen. Dadurch konnte man einen Dieb oder Räuber aus der Distanz fangen und war gleichzeitig vor dessen Attacken sicher.

Oder man stellte einem Unruhestifter damit ein Bein, wenn er zu fliehen versuchte.

Langsam schälten wir uns aus der Dunkelheit und betraten den Schein der Stangenlampen, die hier das letzte Stück der Straße zum Tor beleuchteten.

Die Patrouille, die uns als erstes erkannte, blieb stocksteif stehen. Sie waren sich nicht sicher, was sie unternehmen sollten, obwohl sie ein Dutzend Köpfe zählte.

Doch allein Shadarr war so breit gebaut, wie zwei Männer, zudem auch größer als ein Pferd und so lang wie ein Wagen. Kmarr, der neben mir ging, machte die Sache nicht besser. Er überragte alles in der Umgebung – die meisten Häuser eingeschlossen.

Um sie nicht zu provozieren, hielten wir an und warteten. Schon häufiger waren wir mit Banditen oder Wegelagerern verwechselt worden, daher näherten wir uns einer Stadt normalerweise nur sehr, sehr vorsichtig.

Einen langen Augenblick standen wir uns – kaum zehn Schritte von einander entfernt – gegenüber. Keiner bewegte sich.

Dann entdeckten uns die wartenden Bürger. Bei unserem Anblick stieß eine Frau einen schrillen Schrei aus und drängte sich nach vorne in Richtung Tor.

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Ankunft gefährlicher Fremder, die auf Monstern ritten. Entsetzt deuteten die Leute, die uns entdeckten auf uns und flüchteten dann zum Tor. Wie eine Welle erfasste Panik die Menschen weiter vorne, die nicht sehen konnten, was vor sich ging und plötzlich versuchten alle gleichzeitig durch das Tor zu gelangen.

Die Wachen, aufgeschreckt durch das Verhalten der Leute, strömten aus dem Tor, um ihre Landsleute vor den möglichen Angreifern zu schützen, für die sie uns irrtümlich hielten.

Endlich erwachten die Soldaten der Patrouille vor uns aus ihrer Erstarrung. Sie ließen ihre Knüppel und Diebesstangen fallen und griffen nach ihren Schwertern und Armbrüsten, zögerten aber, näher zu kommen.

Wir ließen unsere Waffen wo sie waren und streckten die offenen Hände in einer Geste des Friedens aus.

„Niemand wünscht euch Schaden.“, erklärte Kmarr mit seiner tiefen, ruhigen Stimme: „Wir kommen in Frieden und mit Nachrichten vom Krieg aus dem Osten. Wir haben einen Passierschein, der unsere redlichen Absichten erklärt.“

Der Speerwächter, der die Patrouille anführte trat unsicher vor: „Dann zeigt her! Nur einer von euch. Du da.“ Er deutete auf mich: „Komm von Deinem Ungeheuer runter und bring mir das Schreiben.“

„Wenn sich seine Freunde bewegen, tötet sie.“, fügte er leise zu seinen Männern gewandt hinzu. Als ich die Worte hörte musste ich mir ein Grinsen verkneifen, während Kmarr langsam zu mir hinübertrat.

Er löste die Seile, mit der wir die Magana auf meinem Rücken festgebunden hatten. Dann hob er sie sanft herunter und hielt sie in seinen Armen. Sie wirkte winzig darin und friedlich.

Ich glitt ächzend von Shadarrs Rücken und nahm von Jiang den Passierschein entgegen. Ganz ruhig ging ich auf die Soldaten zu, so dass sie immer meine Hände und den Passierschein darin sehen konnten.

Sie wichen trotzdem ein paar Schritte zurück – was ich ihnen nicht verdenken konnte. Shadarr war eine riesenhafte Bestie und das verzerrte die Wahrnehmung auf mich, so dass ich erheblich kleiner wirkte, als ich war.

Die Soldaten, denen ich mich gegenübersah, waren alles kräftige Männer, trotzdem waren sie fast zwei Köpfe kleiner als ich.

„Ihr seid ein Kaltländer, oder?“, wollte der Speerwächter wissen.

„Ja. Entschuldigt unser überraschendes Auftauchen. Ich bin Drakkan Vael. Dies sind meine Gefährten Kmarr, Anaya und Jiang. Wir suchen Heilung für die Magana, die wir hierhergebracht haben, bequeme Betten und eine warme Mahlzeit.“, erklärte ich möglichst freundlich, damit es keine Missverständnisse gab: „Hier ist unser Passierschein.“

Der Offizier prüfte das Dokument lange und sorgfältig, was ich durchaus verstehen konnte. Die Armbrüste, die auf mich gerichtet waren, beunruhigten mich zwar ein wenig, aber ich ging davon aus, dass sie nicht so nervös waren, aus versehen auf mich zu schießen, sonst hätten sie es wohl schon getan.

Schließlich schien der Mann halbwegs befriedigt. Sichtlich entspannt gab er mir die Unterlagen zurück: „Danke, wie ihr ja sicherlich wisst, herrscht Krieg und da können wir nicht vorsichtig genug sein.“

„Natürlich. Wir sind ein solches Verhalten gewöhnt.“

„Das kann ich mir vorstellen.“, meinte er mit Blick auf unsere seltsame Gruppe.

Der Mann war von durchschnittlicher Größe und Statur und außer einer Narbe auf der linken Wange war wenig von ihm unter Helm und Rüstung zu erkennen.

„Willkommen in Kaltarra Reisende. Haltet Euch an die Gesetze der Stadt und genießt euren Aufenthalt.

Ich denke wir werden den Bewohnern entlang der Straße erklären müssen, dass ihr nicht zum Feind gehört, besonders wenn die Gerüchte über Monster und Dämonen stimmen.

Zwei meiner Männer begleiten euch zu eurer Herberge, damit es in der Stadt keinen Tumult gibt.“

Und damit Du weißt, wo wir zu finden sind, wenn es doch Ärger gibt, fügte ich in Gedanken hinzu, sagte aber nichts.

Ich kletterte wieder auf den Rücken von Shadarr, ehe wir unseren Weg fortsetzten. Zwei Wachen gingen uns voraus. Als die Leute erkannten, dass offensichtlich keine Gefahr bestand, wandelte sich ihre Angst in Neugier. Sie bestaunten unsere exotische Gruppe und vor allem Shadarr, dessen riesenhafte Gestalt sie am meisten beeindruckte. Sie tuschelten untereinander und spekulierten darüber, welche Art Monster er wohl darstellte.

Ich spürte, wie er sich stolz in Positur warf. Er reckte seinen Kopf weiter nach oben und grollte und knurrte hin und wieder bedrohlich.

Die beiden Soldaten, die vor uns her gingen sahen sich immer wieder nervös um, so als erwarteten sie jeden Augenblick, dass Shadarr sich auf sie stürzten würde. Wirklich gute Wachen hätte uns vorgehen lassen – mit gehörigem Abstand.

Kmarr trug unterdessen wieder die Magana. In seinen Armen wirkte sie winzig, fast wie eine Puppe. Er hatte sie in Felle und Decken gehüllt, so dass nur noch ihr Kopf herausragte. Hätte ich nicht gewusst, dass sie lebendig war, er hätte auch eine Statue tragen können.

Ich machte mir Sorgen um die Fremde, war aber zugleich froh, dass wir endlich Kaltarra erreicht hatten.

Ungehindert passierten wir das Tor, oder besser die Tore. Zwei paar Torflügel führten durch die Mauer hindurch. Der Weg dazwischen war abschüssig und wer dahinter Häuser und Straßen erwartete, musste sich auf eine Überraschung gefasst machen. Der Weg wandelte sich zu einem Tunnel, der tiefer unter die Erde führte.

Er war vier Mannslängen breit und zwei Mannslängen hoch. Gerade so, dass ich und Kmarr uns nicht die Köpfe stießen. In Abständen einer Seillänge hingen große, mit Öl gefüllte Schalen an Ketten von der Decke. Der Ruß den sie absonderten, hatte die Decke schwarz gefärbt. Ich musste mich immer wieder ducken, um nicht daran hängen zu bleiben.

Der Tunnel war nicht besonders lang, nur etwa eine Bogenschussweite. Dann öffnete er sich nach einem weiteren Tor zu einer breiten Plattform. Links und rechts von uns waren große Stallungen in den Fels geschlagen worden, in denen Wagen und Zugtiere untergebracht werden konnten, die die steilen und gewundenen Pfade der Stadt nicht bewältigen konnten. Hier wurde Ware aus allen Teilen der Welt auf kleine Karren und Wagen umgeladen. Träger liefen geschäftig hin und her, um kleinere Mengen auf ihren Rücken durch die Stadt zu befördern.

Der ganze Platz war ein Gewimmel aus Menschen, Tieren, Kisten, Kästen, Säcken und Wagen. Es wurde geschrieen, geflucht und gefeilscht. Gerüche von Gewürzen, Parfums, Schweiß und Leder, Feuer und Fellen mischte sich zu einer einzigartigen Note, wie auf einem südlichen Basar oder in einem Imperialen Hafen.

Nach den langen Tagen des Kampfes war es eine Wohltat endlich wieder so viele Menschen zu sehen, die ihren alltäglichen Geschäften nachgingen. Doch es gab auch hier Anzeichen des Krieges. Soldaten standen überall zwischen den Händlern herum. Sie beobachteten die Szenerie genau und warteten auf den kleinsten Anlass, einzuschreiten.

Viele Händler hatten bewaffnete Wachen angeheuert, die ebenfalls aufmerksam die Umgebung ihrer Schutzbefohlenen im Auge behielten.

Taschen wurden geöffnet, Fässer untersucht, Kisten ausgepackt. Alles wurde sorgfältig kontrolliert.

Während ich die Umgebung einen langen Augenblick betrachtete, gewann ich den Eindruck, dass deutlich mehr Waffen und Kriegsgerät zu den Handelswaren gehörten, als es sonst üblich war. Und trotz der offensichtlichen Anzeichen war es ziemlich friedlich.

Die Leute schienen jedoch etwas zu laut und es zu eilig zu haben. Eine gewisse Nervosität lag über der Stadt. Daher war es nicht verwunderlich, dass wir einiges an Aufsehen erregten. Die Leute wichen auch hier zurück und gaben eine Gasse frei, so dass wir den gegenüberliegenden Rand der Plattform erreichen konnten, von dem aus uns ein erster Blick auf Kaltarra möglich wurde.

Die Stadt lag in einem lang gezogenen Tal, das grob in West-Ost-Richtung verlief. Die steilen Talwände fielen von hier aus noch über fünfhundert Schritte bis zum Talboden ab, durch den sich der Irrkatt wand.

Zuvor noch ein kleiner Bach, war er inzwischen zu einem breiten reißenden Strom geworden voller Stromschnellen und Untiefen. Der schmale Talboden und die Wände links und rechts davon wurden von Wohnhäusern gesäumt. Wie Schachteln übereinander, standen und hingen sie an den Wänden. Mache der Gebäude waren in den Felsen getrieben, oder von innen aus ihm herausgeschlagen worden.

Fast alle hatten flache Dächer und Treppen, Leitern oder Stiege, die darüber hinweg führten und sie so mit den benachbarten Häusern verbanden. Diese hatten wiederum selbst Dächer, damit sie auch im tiefsten Winter passierbar blieben. Der größte Teil der Bauten stand auf beiden Seiten unter einem Überhang, von oben geschützt durch eine massive Felsendecke. In Jahrtausenden hatte der Irrkatt hier dieses riesige Tal geschaffen.

Einst war es eine Höhle gewesen, doch irgendwann, lange bevor der erste Mensch seinen Fuß auf den Boden gesetzt hatte, war die Decke eingestürzt. Stangenlampen erhellten überall die steilen Wege und Treppen, die sich durch die Stadt wanden. Es gab außer den Dächern kaum so große Freiflächen wie die Plattform auf der wir uns befanden. Alles war eng und gedrängt und doch genoss ich den Ausblick, den wir gerade hatten.

Das Beeindruckendste aber war die Nadel. Ein gewaltiger Felsen, der aus der Mitte des Flusses ragte und von dessen Wassern tosend umströmt wurde. Er mochte eine Bogenschussweite im Durchmesser betragen und ragte fast bis zur oberen Kante des Tals hinauf. Ganz oben lag die Festung Kaltarra, in der sich auch der Königspalast befand.

Die Wurfarme zahlloser Katapulte und Schleudern ragten über die Mauern der Festung, bereit den Bereich um die Stadtmauer mit ihren tödlichen Geschossen zu bestreichen.

Der ganze Felsen war durchzogen von Gängen und Tunneln. Steile Treppen und Rampen wanden sich um ihn herum, und Häuser bedeckten ihn fast so dicht wie Muscheln einen Schiffsrumpf.

In jeder Höhe und Richtung spannen sich Brücken von der Nadel zu den Seitenwänden des Tals.

Brücken auf Bögen, auf Pfeilern, Hängebrücken und einfache Seilkonstruktionen, Brücken aus Holz, Stein und sogar aus Eisen, Brücken mit hohen Geländern oder einfachen Mauern, bis Weilen sogar ohne seitlichen Schutz, manche verziert mit kostbaren Statuen, andere so einfach, dass man sie praktisch übersah.

Alles scheinbar ohne System und von einem Verrückten erdacht, so ermöglichte das Chaos den Bewohnern doch, schnell die andere Seite des Tals zu erreichen, ohne dazu erst zu den Flussbrücken am Talboden hinabsteigen zu müssen.

Weil Platz kostbar war, standen sogar Häuser auf den Brücken, teilweise so viele, dass man durch sie hindurch laufen musste, wenn man eine davon überqueren wollte, oder man lief über das Dach, weil das Haus praktisch unter der Brücke hing.

Seile mit Plattformen daran, die man als Seilbahnen bezeichnete, konnten Passagiere und Fracht sogar quer über das Tal von einer Seite zur anderen befördern, oder von einer Brücke zur nächsten, aber das war mir nicht geheuer, und so hatte ich bislang darauf verzichtet.

Es gab auch Aufzüge. Lange Seile oder Ketten, an denen man Dinge von oben nach unten transportieren konnte. Anfänglich war mir bei dem Gedanken sie zu benutzen auch nicht wohl gewesen, aber nach dem ich einmal drei Kerzenlängen vergeblich durch das Labyrinth an Straßen geirrt war, hatte ich die Vorzüge eines Aufzuges zu schätzen gelernt. So lange ich nicht daran dachte, dass ich gerade in der Luft über einem Abgrund hing, ging es eigentlich ganz gut.

Einer der Soldaten trat zu mir heran und riss mich aus meinen Gedanken: „Entschuldigt, Ihr wolltet zum Gasthaus Zum roten Baum, oder? Ich fürchte, ich weiß leider nicht, wo es ist.“

„Kein Problem. Anya? Kannst Du dem Mann erklären, wo das Gasthaus ist, in dem wir bleiben wollen?“

Sie steuerte ihr Nachtmahr vorwärts: „auf der Nordseite, auf der Ebene der Gold- und Silberschmiede.“

Der Soldat machte ein erstauntes Gesicht und antwortete sichtlich beeindruckt: „Ihr müsst sehr reich sein, wenn ihr euch da eine Unterkunft leisten könnt. Ich kann euch nur bis zum Eingang dieses Viertels begleiten, danach müssen euch die dortigen Wachen bis zur Herberge bringen. Werdet ihr erwartet?“

Anaya antwortete an meiner Stelle: „Nein, dennoch wird es genug Zimmer für uns geben. Dessen bin ich mir sicher.“

„Ich will nicht anmaßend sein, aber ihr solltet zur Sicherheit einen Läufer schicken. Wir werden viele Ebenen passieren und drei Kerzenlängen unterwegs sein, ehe wir sie erreichen, da wir mit euren Reittieren einige Umwege machen müssen. Es wäre sicherer, wenn ein Läufer euch ankündigt. Sonst steht ihr am Ende vor der Herberge ohne Zimmer.“

„Die Überlegung ist klug.“, warf Jiang ein: „Wir werden es machen. Schickt den Läufer.“

„Es soll geschehen, wie ihr wünscht.“, erwiderte der Soldat mit einem Nicken. Ich reichte ihm ein paar Münzen und kurze Zeit später waren zwei Läufer unterwegs, um uns anzukündigen.

Nach kurzer Diskussion führten uns die beiden Soldaten den breitesten Weg zu unserer Linken hinunter, den auch einige der leichter beladenen Fuhrwerke nahmen. Denn trotz der Größe der Lagerhäuser war nicht genug Platz für alle Wagen und Zugtiere. Entlang der Straße, gab es zu beiden Seiten weitere Lagerhäuser. Hier herrschte ebenso viel Betrieb, wie oben auf dem Platz.

Wir mussten uns im Slalom zwischen Zugtieren, abgestellten Waren, Karren und schwitzenden Trägern bewegen, um überhaupt voran zu kommen. Immer wieder wurden wir von schimpfenden Händlern aufgehalten, die verlangten, dass wir das Ab- oder Beladen ihrer Waren abwarteten, ehe wir weiterzogen.

Selbst Kmarr und Shadarr konnten uns keinen schnelleren Weg bahnen.

Die meisten Händler hatten ein kleines Heer an Leibwächtern oder Söldnern bei sich, die sich sofort schützend um ihre Auftraggeber stellten, wenn wir ihnen zu nah kamen. Es blieb uns nichts anderes übrig, als uns wie alle anderen hindurch zu quälen.

Ich hatte das Gefühl, ewig in dem Gewimmel aus Menschen und Tieren gefangen zu sein. Daher war ich umso überraschter, als wir in eine kleinere Seitenstraße einbogen und plötzlich freie Bahn hatten.

Hier standen nur ein paar Fässer herum, auf denen eine Katze saß und uns verärgert ansah. Vermutlich hatte unser Auftauchen die Maus verscheucht, hinter der sie her war. Sie maunzte uns beleidigt an und huschte durch einen Spalt zwischen zwei Kisten davon. Ich musste unwillkürlich lächeln.

Zumindest im Augenblick war noch alles in Ordnung. Dämonen, Krieg und Morak spielten hier keine Rolle. Das Gefühl war seltsam beruhigend. Ich entspannte mich beinahe und ließ mich von Shadarr durch die Straßen tragen.

Zuerst war die Straße noch breit und gerade, doch dann wurde sie schmaler und der Weg wand sich in Schlangenlinien durch die Stadt, bis wir hintereinander reiten mussten, weil die Gasse inzwischen stellenweise so eng war, dass ich mit den Knien an den Hauswänden links und rechts entlang schabte.

Sie stieg wieder an und wir wechselten aus dem Bereich der Händler in ein Wohnviertel.

Hier änderte sich auch die exotische Geruchsmischung aus Schweiß, Tieren und Gewürzen und uns stieg der Duft von Essen und Kaminfeuer in die Nasen.

Mir lief das Wasser im Mund zusammen, denn außer dem kargen Reiseproviant hatte ich heute noch nichts zu mir genommen. Ich freute mich umso mehr auf eine üppige warme Mahlzeit im Gasthaus.

Die Soldaten vor uns bogen in eine andere Straße ab, die uns tiefer in das Wohngebiet führte. Es waren wenige Einwohner unterwegs und die wenigen, die uns sahen, flüchteten entsetzt in ihre Häuser, trotz der Soldaten, die uns begleiteten.

Ich wunderte mich ein wenig darüber, aber dann wechselten wir erneut in eine andere Straße, die erst anstieg bevor sie dann nach unten führte. Noch waren wir kein Stück näher an die Nadel gekommen und ich wusste, unser Ziel lag auf der anderen Seite.

Schließlich, nach einer gefühlten Ewigkeit betraten wir eine der Brücken. Es war ein einfacher Bogen, drei Seillängen lang und zwei Mannslängen breit. Das Geländer bestand aus einer schlichten Mauer ohne Verzierungen. An jedem Ende und in der Mitte standen zwei Stangenlampen deren flackernde und rußende Flammen tanzende Schatten vor uns auf die Brücke zeichneten.

Als wir die Mitte gerade überschritten hatten, traten uns vier Wachsoldaten – von der anderen Seite kommend – in den Weg: „Wohin wollt ihr?“

Einer der Soldaten, die uns begleiteten trat vor. „Jetzt komm aber Rolin. Du kennst uns doch.“

„Euch beide schon Nanin. Aber die da nicht.“, antwortete er mit einer Geste an uns gerichtet.

Nanin bedeutete uns zu warten, dann schritt er den Rest des Weges über die Brücke und besprach sich kurz mit den Wachen.

„Entschuldigt. Wir können unseren Weg fortsetzen, hier sind nur alle etwas nervös.“, erklärte Nanin in etwas verärgertem Tonfall.

„Was ist denn los?“, wollte Anaya wissen: „Wir sind doch mitten in der Stadt. Am Tor hätte ich das ja noch verstanden, aber hier?“

Sie sah sich in alle Richtungen um, so als wollte sie sagen, dass hier nichts zu sehen war, das so gefährlich sein sollte, um die Soldaten derart nervös zu machen.

„So sieht es aus, aber wir haben tatsächlich hier seit einigen Tagen unsere ganz eigenen Probleme.“, entgegnete Nanin.

„Nicht!“, fuhr der andere Soldat dazwischen: „Du weißt doch, was Hauptmann Solden ausgegeben hat. Wir sollen keine Panik verbreiten.“

Nanin sah seinen Kameraden an, konnte aber nicht mehr antworten, weil wir in dem Moment den Tunnel betraten, den die Wachen uns anfänglich versperrt hatten.

Hier hallte es so laut von den Wänden wider, dass kein Wort zu verstehen war. Zudem mussten Kmarr und ich wieder unsere Köpfe einziehen, um nicht an die Decke zu stoßen. Es war heiß und stickig und roch intensiv nach Schwefel und Kohle. Vom Winter draußen spürte man hier drinnen nichts.

Kleine Seitengänge führten von unserem Weg ab. Von dort drang Rauch und Hitze zu uns herein. Dem Lärm nach befanden wir uns mitten in einer einzigen, riesigen Schmiede.

Mir fiel wieder ein, dass genau das der Fall war. Die Nadel war dem Ostwind ausgesetzt, der beinahe ständig pfeifend durch die Schlucht fegte. Die Luft heizte die Schmieden an, so dass die Essen heißer brannten als anderswo. Außerdem blies der Wind den Qualm fort, so dass es hier nicht so schlimm stank. Die Naurim machten es ebenso. Sie fingen den Ostwind durch große Öffnungen im Berg ein, um ihn dann durch lange Tunnel zu den Schmieden zu leiten. Ich hatte den leisen Verdacht, dass die Kalteaner daher die Idee hatten.

Für den Moment gab es keine Möglichkeit sich zu unterhalten, ohne sich gegenseitig ins Ohr zu brüllen. Die Nachmahre schnaubten und bellten heiser und auch mir drängte sich ein Bild der Unterwelt auf das ich einmal in einem Tempel gesehen hatte. So ähnlich wie hier musste es dort auch sein. Die Luft brannte in der Kehle und Schweiß lief mir über das Gesicht und den Rücken hinunter.

Zum Glück bogen wir um eine Ecke und stiegen die Treppe dort hinauf. Zwar wurde die Luft dadurch nicht besser, aber es wurde zumindest wieder leiser.

„Ich weiß Bescheid. Ich haben den Befehl auch verstanden Varin. Aber wenn sie es nicht von uns erfahren, dann von der erstbesten Schankmaid.“, gab Nanin mit lauter Stimme zurück.

„Ich halte meinen Mund lieber.“, erwiderte Varin mit deutlicher Skepsis in der Stimme: „Handel Du Dir ruhig Flusswachdienst ein. Ich werde nichts sagen.“

„Ja, werde ich. Und Du wirst mich nicht verpfeifen.“, rief Nanin ärgerlich zurück.

Wir waren inzwischen wider abgebogen und durchquerten gerade einen weiteren großen Tunnel, der plötzlich menschenleer war. Selbst ein Blinder konnte unseren Weg durch die Stadt verfolgen. Egal wo wir auftauchten, erregten wir Aufmerksamkeit.

„Wir wollen niemandem Schwierigkeiten bereiten. Es gibt keinen Grund eure Befehle zu missachten.“, mischte sich Kmarr schließlich in die Unterhaltung ein: „Wenn es wichtig für uns ist, werden wir es rechtzeitig erfahren.“

„Siehst Du?“, fuhr Varin seinen Kameraden nickend an: „Sogar sie verstehen die Befehle besser als Du.“

„Nur weil sie nicht wissen, worum es geht.“, schimpfte Nanin ebenso erregt.

Mittlerweile hatten wir eine Rampe erreicht, die unseren Tunnel mit einer Brücke unter uns verband, die uns endlich auf die andere Seite bringen würde. Ich schätzte, dass wir bereits zwei Kerzenlängen unterwegs waren und allmählich hatte ich mich am Anblick der Stadt satt gesehen. Ich wollte etwas zu Essen und ein weiches Bett. Morgen gab es noch immer genug zu sehen.

Es war kalt geworden, empfindlich kalt sogar, die Hitze des Tunnels hatte darüber hinweggetäuscht, dass wir Winter hatten und es Nacht geworden war. Ich schloss meinen Mantel erneut und schlug zusätzlich die Kapuze hoch. Auch die Anderen wickelten sich wieder in ihre Sachen ein.

Die Rampe war nur wenige Schritte lang, dann standen wir auf einer Brücke, die über uns an mächtigen Stahltauen in der Wand der Nadel befestigt war. Das Geländer bestand aus schlichten stählernen Seilen, die von den Haltetauen senkrecht nach unten verliefen. Mir war die Konstruktion nicht geheuer, aber sie schien stabil.

„Ich werde euch trotzdem sagen, welche Schwierigkeiten uns plagen. Der Rest der Stadt weiß ohnehin Bescheid. Der Befehl mag für uns Soldaten gelten, aber nicht für die Einwohner der Stadt.“

„Dann berichte uns. Wir werden Dich nicht verraten.“, warf Jiang in genervtem Tonfall ein.

„Wie ihr wünscht. Seit Morak unsere Grenzen überschritten hat, gibt es hier in der Stadt ei...“

Plötzlich zuckte er einmal und dann brach er würgend zusammen. Ein Pfeil war so tief in seinen Rücken eingedrungen, dass die Spitze vorne aus seiner Brust ragte. Mehr konnte ich nicht erkennen, für den Rest ging alles viel zu schnell.

„Knochenjäger! Verflucht!“, schrie Varin entsetzt: „In Deckung!“

„Wir müssen von der Brücke!“, rief ich den anderen zu, während ich meinen Schild vom Rücken riss.

Gerade noch rechtzeitig, schon bohrte sich ein Pfeil hinein.

Shadarr sprang in einem riesigen Satz vorwärts und fegte dabei gleich auch noch Varin von den Füßen. Anaya und Jiang waren mir auf ihren Nachtmahren dicht auf den Fersen.

Kmarr bettete die Magana in einen Arm, dann bückte er sich nach Varin und warf ihn sich auf die Schulter. Scheinbar mühelos trug er das Gewicht von beiden.

Shadarr galoppierte in weiten Sprüngen vorwärts, wenn es darauf ankam, konnte kaum jemand mit der Geschwindigkeit eines Kargat mithalten.

Vor mir fiel ein Mann von einem Pfeil getroffen mitten auf der Brücke um. Shadarr setzte über seine Leiche hinweg und erreichte sicher die andere Seite. Eine Frau kauerte sich hinter ein Fass und blickte angstvoll nach oben in den Himmel, sie sah uns überhaupt nicht kommen. Kurz bevor ich sie erreichte zuckte sie plötzlich und sackte dann in sich zusammen. Ein Pfeil hatte ihren Schädel an das Fass genagelt.

Ich sprang von Shadarrs Rücken und blieb auf der Straße stehen. Der Schild machte es unnötig, in Deckung zu gehen.

„Was geht hier vor? Ist es das, wovor die Soldaten uns warnen wollten?“, wollte Anaya wissen, die neben mir von ihrem Nachtmahr glitt.

„Keine Ahnung.“, gab ich ratlos zurück.

Leute rannten auf der Suche nach Deckung verwirrt umher. Doch sie hatten wenig Glück. Pfeile sausten aus der Dunkelheit heran und forderten weitere Opfer.

„Knochenjäger!“

„Da oben!“

Wir folgten den Rufen und blickten nach oben. Und tatsächlich, auf den Dächern der Häuser hoch über uns und auch auf den Häusern auf einigen der Brücken, standen bleiche, hagere Gestalten mit langen Bögen die auf jeden schossen, der sich bewegte.

„Bringt euch in Sicherheit!“

„Rennt um euer Leben!“

Kopflose Panik breitete sich überall um uns herum aus.

Im flackernden Licht der Stangenlampen, konnte ich die seltsamen Schützen nicht genau erkennen, aber sie waren in staubfarbene Mäntel gekleidet und auch ihre Bögen und das Wenige ihrer Kleidung darunter waren von dieser Farbe. Hätten sie sich nicht bewegt, sie hätten ebenso gut marmorne Statuen sein können.

Rings um uns herum ertönten ängstliche Schreie. Menschen rannten kopflos umher. Flüchteten ohne auf uns zu achten an uns vorbei in die Tunnel der Nadel. Auf den Brücken war die Situation noch verzweifelter.

In unserem Sichtfeld rannten die Leute so schnell sie konnten davon, doch die Pfeile der unheimlichen Schützen waren schneller. Es gab kaum Deckung und sie verfehlten fast nie ihr Ziel, auch wenn es hundert Schritte oder mehr entfernt war.

Anaya rannte geduckt zu der toten Frau hinüber, während ich Jiang Deckung gab, die begonnen hatte, hastig Symbole mit einem Pinsel in grüner Tinte auf den gepflasterten Boden zu zeichnen.

„Sie benutzen Pfeile aus Knochen.“, bemerkte Anaya überrascht, als sie die Leiche untersuchte.

Jiang fluchte und wischte einige Symbole weg: „Besorg mir Einen.“, kommandierte sie.

Kurzerhand riss Anaya den Pfeil aus dem Schädel der Frau heraus und reichte ihn Jiang. Diese brach ihn mit einiger Anstrengung entzwei und warf die Spitze auf die andere Seite der Symbole, die sie gezeichnet hatte. Keinen Moment zu früh, schon prallte ein Geschoss auf die unsichtbare Mauer, die von den Zeichen aus in die Höhe ragte.

Sofort begab ich mich mit Anaya in den Schutz der Barriere. Shadarr war in der Dunkelheit verschwunden, sobald ich von seinem Rücken geglitten war. Die Nachtmahre drängten sich zu uns und schnaubten ärgerlich. Ich musste sie mit Gewalt davon abhalten, die Leiche der toten Frau anzuknabbern.

Nur Kmarr war noch wenige Schritte von uns entfernt, als er plötzlich stolperte. Gerade noch so konnte er sich mit einer Hand abfangen, aber Varin rutschte dabei von seiner Schulter.

Der Soldat rollte ein paar Schritte herum, dann sprang er auf und rannte neben Kmarr zu uns hinüber.

„Bist Du in Ordnung?“, fragte ich Kmarr besorgt.

„Mir geht es gut, aber die Magana ist getroffen worden.“, erwiderte er mit düsterer Miene.

Anayas Kopf flog herum und sie kam sofort hinüber. Sie bückte sich zu der Magana hinunter und untersuchte die Wunde. Der Pfeil steckte in der linken Seite, drei fingerbreit unterhalb des Schlüsselbeins.

„Die Verletzung ist ernst, aber sie wird es überleben.“ Wir müssen sie sofort in Sicherheit bringen. Ich brauche heißes Wasser und saubere Tücher. Beides werden wir hier nicht finden.“

Sie machte sich daran, die Verletzung notdürftig zu versorgen, damit kein größerer Schaden entstand.

„Was sind das für Wesen?“, wollte Jiang unterdes von Varin wissen ohne aufzusehen.

Ehe Dieser antworten konnte, ertönte ein grauenhafter Schrei von einer Treppe über uns, dann landete ein menschlicher Körper unmittelbar neben mir auf dem Boden.

„Rede Mann!“, herrschte ich ihn an.

„Wi...wir nennen sie Knochenjäger, weil sie bleich gekleidet sind und ihre Pfeile aus menschlichen Knochen machen.“, antwortete er ängstlich: „Sie tauchen plötzlich auf, schießen auf jeden, der sich bewegt und verschwinden dann wieder, ehe die Wache reagieren kann.“

„Ihr habt noch nie einen gefangen?“, wollte Anaya ungläubig wissen, während sie sich weiter um die Verletzte kümmerte.

„Nein, jedes Mal sind sie weg, als ob sie sich in Luft auflösen würden.“, entgegnete Varin mit noch immer zittriger Stimme.

„Ihr habt nichts gefunden? Es bleibt nichts zurück?“, fragte Jiang ärgerlich: „Schlampig.“

„Ich weiß es nicht. Ich bin nur ein einfacher Soldat. Die Meister vom Ersten Orden untersuchen die Sache. Wenn jemand etwas weiß, dann sie.“, gab er verschüchtert zurück.

„Lass ihn in Ruhe Jiang.“, brummte Kmarr beruhigend: „Er kann nichts dafür.“

Sie wandte sich schnaubend ab und beobachtete die Schützen. Der Beschuss hatte praktisch aufgehört, da die Menschen entweder tot oder in Deckung gegangen waren. Von überall her ertönten jetzt die schweren Stiefel der Soldaten. Die Hälfte trug schwere Schilde, die anderen Bögen. Doch sie versuchten nicht, die Bogenschützen zu erreichen, sondern warteten nur ab.

Sie tauchten an den Kreuzungen der Gassen auf und versperrten sämtliche Wege und Durchgänge.

„Sie versperren ihnen die Fluchtwege.“, kommentierte ich das Geschehen.

„Das wird nichts nutzen.“, bemerkte Varin: „Die Schützen laufen nicht weg. Sie lösen sich einfach auf.“ Zornig blickte er in Richtung Brücke, auf der der Leichnam von Nanin lag: „Immer wenn wir sie fast erreicht haben, verschwinden sie einfach.“, bemerkte er bitter.

Und tatsächlich, wie auf das Stichwort verschwand einer nach dem anderen. Einen Augenblick war er noch da, dann war die Stelle an der der Bogenschütze, den ich gerade beobachtet hatte verschwunden.

Genauso schnell wie der Spuk gekommen war, war er wieder vorbei.

Ratlos sahen wir uns an, während wir auf eine Patrouille aus Soldaten warteten, die sich uns mit schnellen Schritten näherte.

Varin trat vor und erklärte ihnen unsere Anwesenheit. Die Soldaten waren nervös, ließen uns aber passieren, nachdem sie ihm versprochen hatten, sich um Nanin zu kümmern.

Wir führten unsere Reittiere damit Anaya die Gelegenheit erhielt, jeden Pfeil einzusammeln, an dem wir vorbeikamen. Außerdem hatte sie Kmarr ermahnt, die Magana möglichst vorsichtig zu tragen, damit die Wunde sie nicht mehr belastete, als unbedingt nötig.

Von überall ertönten Schreie und Klagelaute der Angehörigen, die den Verlust ihrer Liebsten beklagten. Doch auch zornige Stimmen waren zu hören, die nach Gerechtigkeit riefen und die Soldaten als unfähige Trottel beschimpften.

Ich konnte es ihnen nachfühlen. Ohne den Schild und Jiangs Magie hätten wir ebenfalls zu den Opfern gehören können. Versucht hatten es die unheimlichen Schützen mehrfach.

‚Shadarr?’

Ich konzentrierte mich, um ihn zu erspüren. Er war nicht weit von uns entfernt auf dem Dach eines Hauses.

‚Knochenmänner schnell’, antwortete er verärgert.

‚Komm zurück, ehe jemand glaubt, Du wärst mit ihnen im Bunde.’

Shadarr knurrte unzufrieden, aber ich spürte, wie er sich auf den Weg zu uns machte.

Wir waren inzwischen in eine Seitenstraße abgebogen, Varin führte uns noch immer zielstrebig voran. Ich hatte vollkommen die Orientierung verloren. Außer, dass wir die Nordseite der Stadt erreicht hatten, war mir nicht klar, wo genau wir inzwischen steckten.

Mein Orientierungssinn war an sich hervorragend, doch in dieser Stadt fühlte ich mich hilflos. Das ständige auf und ab, links und rechts, über Dächer, durch Keller, in den Felsen hinein, aus einem Tunnel wieder heraus, ohne wirkliche Anhaltspunkte, machte es hoffnungslos, sich auch nur den Weg zu merken.

Glücklicherweise dauerte es nur noch ein Viertel einer Kerzenlänge, bis wir unser Ziel erreichten. Eine zwei Mannslängen hohe Mauer aus weiß gekalktem Stein, die von langen kunstvoll verzierten Eisenspitzen gekrönt wurde.

Vor uns lag ein Tor an dessen Eingang vier Wachsoldaten in blaugoldener Uniform standen. Sie trugen Kettenhemden und konische Helme mit goldener Gravur. Drei von ihnen waren mit Speeren und runden Schilden bewaffnet, der Vierte hatte einen Amtsstab in der Hand mit dem er jedem Ankömmling vor der Nase herumwedelte. Ein paar durften passieren, manche wies er ab oder sorgte für Begleitung durch eine Wache. Vor allem Dienstboten kamen in den Genuss dieser Behandlung. Die Reichen und offensichtlich wichtige Persönlichkeiten wurden dagegen sogar mit einer leichten Verbeugung durchgelassen.

Als die Soldaten unser Kommen bemerkten, wurden sie doch etwas nervös. Shadarr, der kaum zehn Schritte von ihnen entfernt plötzlich von einem Dach eines der Häuser an der Straße sprang, trug nicht gerade zu ihrer Beruhigung bei. Sie richteten die Speere in unsere Richtung aus und riefen nach Verstärkung.

‚Toll. Kannst Du nicht mal ganz normal mit uns reisen?’, wollte ich von Shadarr wissen. Meine Verärgerung ließ ich dabei deutlich in meine Stimme fließen.

‚Steinhöhlen überall. Wege unsinnig. Shadarrs Weg schneller’, antwortete er ruhig.

Als ich neben ihn trat, konnte ich sehen, dass er einen Fetzen Stoff im Maul hielt.

‚Woher ist das denn?’, wollte ich neugierig wissen. Normalerweise trug er nichts in seinem Maul herum, dass sich nicht wenigstens fressen ließ.

‚Knochenmänner schnell, aber nicht schnell genug für Shadarr’, erwiderte er grollend.

‚Gut gemacht. Ich nehme das, wenn Du nichts dagegen hast’, entgegnete ich und nahm ihm das Stück Leder aus dem Maul.

Es fühlte sich merkwürdig an. Gerne hätte ich es mir genauer angesehen, allerdings war dies kaum der richtige Zeitpunkt.

Die Wachen sahen uns nervös an. Doch Varin war schon an uns vorbei und zu den Männern getreten. Sie entspannten sich auch dann nicht merklich, als er ihnen erklärt hatte wer wir waren und wohin wir wollten. Statt uns durchzulassen, hielten sie uns auf, und beäugten uns weiterhin misstrauisch.

„Der Zutritt zum Viertel der Gold- und Juwelenschmiede von Kaltarra ist streng beschränkt. Wenn ihr passieren wollt, weist nach, dass ihr dazu berechtigt seid. Ihr stammt nicht aus Kaltarra. Habt ihr eine Einladung?“, wollte er Soldat mit dem Amtsstab wissen.

„Wir sind...“, begann ich, kam aber nicht weiter, denn Anaya viel mir ins Wort: „Wir sind auf dem Weg zur Herberge und wir haben keine Einladung, aber wir haben das hier.“ Damit öffnete sie einen Beutel, in dem eine handvoll Rubine lag, die wir dem Arkanisten in dem verlassenen Dorf abgenommen hatten, wo unsere Reise nach Kalteon begonnen hatte. Ich hatte die Steine schon fast vergessen.

„Ihr wollt also Käufer finden? Was ist mit den anderen in Eurer Gesellschaft? Dieses riesige Biest hier ist eine Gefahr für die Einwohner. Das kann ich unmöglich einlassen.“

Shadarr knurrte böse.

„Ich versichere Euch, dass Shadarr keine Gefahr für die Bewohner darstellt, so lange ihn niemand bedroht.“, erwiderte Anaya ruhig: „Und im Übrigen versteht er euch recht gut. Ihr solltet also vorsichtig mit dem sein, was ihr sagt.“

Der Soldat wirkte überrascht, hatte sich aber gut unter Kontrolle: „Das sagt ihr, aber woher soll ich wissen, dass ihr die Wahrheit sprecht?“

„Euer Einwand ist berechtigt, aber das Gasthaus Zum roten Baum wird dafür sorgen, dass er keine Schwierigkeiten macht. Ihr wisst, dass sie für alle ihre Gäste bürgen, die dort wohnen.“

„Ich wüsste nicht dass das auch für Tiere gilt.“, bemerkte der Soldat Kopfschüttelnd.

„Kargat sind aber keine Tiere. Sie sind ebenso intelligent wie Ihr oder ich.“, gab Anaya vehement zurück.

In Eurem Fall sogar intelligenter dachte ich, behielt meine Meinung aber sicherheitshalber für mich.

Der Soldat überlegte einen Augenblick, dann nickte er schließlich: „Ich bin zwar nicht glücklich darüber, aber ich will Euren Worten Glauben schenken. Ihr alle seid für ihn verantwortlich. Sorgt dafür, dass es kein Unbill gibt und ihr dürft passieren. Ich schicke zur Sicherheit einen Soldaten mit, der euch den Weg weist.“

Varin verabschiedete sich um bei seinem Kommandanten Bericht über den Tod seines Kameraden zu erstatten und wir machten uns auf den Weg zu unserer Herberge.

Die sieben Siegel der Dakyr - Band 2 - Kaltarra

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