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5 Selbstkritische Anmerkungen

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Zweck und Ziel dieses Buches führen dazu, dass es eher einem groben Holzschnitt als einer feinen Federzeichnung gleicht. Komplexes wird vereinfacht, Differenzierungen werden vernachlässigt, und Details werden weggelassen, um didaktische Absichten zu erfüllen und dem vorgegebenen Rahmen gerecht zu werden.

Über unsere Auswahl der Theorien kann man streiten. Der zur Verfügung stehende Buchumfang hat uns zu einer Auswahl gezwungen. Auf wichtige und interessante deutschsprachige Vertreter haben wir verzichten müssen, so etwa auf Friedrich E. Schleiermacher (1768–1834) und Karl H. Marx (1818–1883). Theorien zu sozialen Problemen und ihren Lösungen zum Beispiel aus England, Finnland, Frankreich, Italien, Norwegen, Polen, Russland, Schweden, Spanien, Ungarn usw. mussten wir weitgehend unberücksichtigt lassen (vgl. Puhl/Maas 1997; Hering/Waaldijk 2002; Erath 2011 u. a.), ganz zu schweigen von Theorien, Modellen, Ansätzen und Konzeptionen außerhalb Europas (vgl. Graham 2002; Turner 2011; Payne 2014; Healy 2014 u. a.). Angesichts der Globalisierung der sozialen Probleme wäre es hilfreich und notwendig, auch andere europäische und außereuropäische TheoretikerInnen mit ihren Theorien zur Sozialen Arbeit in eine solche Darstellung einzubeziehen (vgl. www.ifsw.org). Auch bei der Beschränkung auf deutschsprachige TheoretikerInnen konnten wir wichtige TheoretikerInnen der Sozialen Arbeit nicht berücksichtigen, zum Beispiel Max Weber (1864–1920), Aloys Fischer (1880–1937), Hans Pfaffenberger (1922–2012) und C. Wolfgang Müller (* 1928). Auch wurde aus dem gleichen Grund die Auswahl der TheoretikerInnen von Auflage zu Auflage dieses Buches immer wieder verändert. So kann ein Blick in ältere Ausgaben dieses Buches zusätzliche Theorien erschließen.

Unsere Auswahl spiegelt die Geschlechterproblematik in der Sozialen Arbeit wider: ein paar Autorinnen und fast nur Autoren von Theorien der Sozialen Arbeit. Auch in der Sozialen Arbeit gibt es einen Gender Bias: Männer nehmen die führenden Positionen in der Theoriebildung, in der Leitung der Praxis und auch in der Lehre/Ausbildung ein, während Frauen stärker die alltägliche Arbeit in der Praxis ausführen.

Vierzig Jahre hat es gedauert, ehe sich deutsche VertreterInnen der Sozialen Arbeit angemessen mit der Sozialen Arbeit während der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland von 1933 bis 1945 befasst haben. Das Dritte Reich wurde aus der Geschichte der Sozialen Arbeit schlichtweg mit der These ausgeklammert: Die Entwicklung der Sozialen Arbeit wurde in Deutschland durch die Machtübernahme Hitlers 1933 jäh unterbrochen und setzte nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches 1945 wieder neu ein (vgl. Schmidt 1981, 44 f.; Schilling/Zeller 2012, 46). Den Wendepunkt vom Verschweigen zur offensiven Erforschung und selbstkritischen Auseinandersetzung markiert das Erscheinen des von Hans-Uwe Otto und Heinz Sünker herausgegebenen Sammelbandes „Soziale Arbeit und Faschismus“ im Jahre 1986. Die drei Fragen: „Wie wurde die Theorie der Sozialen Arbeit in die Einheitsideologie des Dritten Reiches eingewoben? Was trat an die Stelle der im engeren Sinne sozialpädagogischen Praxis? Wie verstrickten sich das Wohlfahrts-, Fürsorge- und Fürsorgeerziehungssystem und ihre ProtagonistInnen in den totalitären Staat?“ müssen beantwortet werden (vgl. Buchkremer 1995; Kappeler 2006; Amthor 2017). Soziale Arbeit gehörte in der Gestalt von „Volkspflege“ mit ihren Institutionen und Handlungsfeldern, Organisationsformen und Programmatiken zur nationalsozialistischen Gesellschaft (vgl. Sünker 1996, 511). Viele Millionen Deutsche haben Adolf Hitlers sozialrassistische Ideen – die eine lange europäische Tradition haben (vgl. Kappeler 1994; 1999) – und Programme übernommen. Zu den VertreterInnen der deutschen FürsorgerInnen, SozialpädagogInnen und SozialpolitikerInnen, die in der Zeit von 1932 bis 1945 sozial-rassistische Thesen mehr oder weniger stark vertreten haben, gehören Ernst Krieck (1882–1947), Hans Muthesius (1885–1977), Helene Wessel (1898–1969), Franz-Josef Wuermeling (1900–1986) und andere; und auch Christian Jasper Klumker, Alice Salomon, Herman Nohl, Gertrud Bäumer, Aloys Fischer und Hans Scherpner sind nicht frei davon (vgl. Wollenweber 1983a; Cogoy/Kluge/Meckler 1989; Kappeler 1999; 2000; 2006 u. a.). Wir haben Muthesius für dieses Buch ausgewählt, weil er vor und nach dem Dritten Reich eine hervorragende Rolle im „Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge“ gespielt und lange Zeit – auch international – als eine Leitfigur der deutschen Sozialen Arbeit gegolten hat. In diesem Buch berücksichtigen wir primär, wie sich Muthesius in Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit an die nationalsozialistische Rassenideologie angeschlossen hat; andere Aspekte seines Lebenswerkes und seiner Auffassungen müssen hier vernachlässigt werden (vgl. Orthbandt 1985; Schrapper 1993; Kappeler 2000; 2006 u. a.). Adolf Hitler (1889–1945) selbst als Vertreter einer sozial-rassistischen Theorie der Sozialen Arbeit anzuführen, bietet zu leicht die Möglichkeit, sich von sozialrassistischen Theorien und Taten in der Sozialen Arbeit zu distanzieren, sie einem „Unmenschen“ zuzuschreiben und die eigenen Neigungen zu verdrängen.

Fraglich ist es für uns, ob sich alle von uns ausgewählten AutorInnen überhaupt damit einverstanden erklärt hätten, als AutorIn einer Theorie der Sozialen Arbeit bezeichnet zu werden. Diese Frage muss zumeist unbeantwortet bleiben. Wir können nur darauf verweisen, dass es auch in anderen Wissenschaften üblich ist, AutorInnen in die eigene Theoriegeschichte einzubeziehen, die sich zu Lebzeiten nicht ausdrücklich zu dieser Wissenschaft bekannt haben und auch nicht bekennen konnten, weil es diese damals in der heutigen Gestalt noch nicht gegeben hat.

Wir sind uns bewusst, dass unser Unternehmen, 31 Theorien auf wenigen Seiten darzustellen, sehr couragiert ist, und unsere Darstellungen kritisch gesehen werden können. Die umfangreichen Publikationen beispielsweise von Smith, Rousseau, Pestalozzi, Wichern, Mollenhauer und anderen enthalten auch sich ausschließende Aussagen. Insofern können auch andere Darstellungen als unsere mit Quellenangaben belegt werden. Fehlende Kenntnisse und unzulängliche Rezeption unsererseits können bei der Materialfülle trotz unseres Bemühens um Sorgfalt und Genauigkeit zu verzerrten oder fehlerhaften Darstellungen geführt haben. Unsere ausführlichen Quellen- und Literaturangaben sollen auch der Überprüfung unserer Ausführungen dienen.

Nur selten werden von den AutorInnen alle Thesen in einem Werk systematisch zusammengefasst und zu einer in sich geschlossenen Theorie verbunden (vgl. Rössner 3.6). Häufig haben AutorInnen mehrere Werke geschrieben, in denen sie ihre Theorie(n) entwickeln; in den verschiedenen Werken behandeln sie nur verschiedene (Teil-) Aspekte ihrer Theorie (vgl. Thiersch 3.8). Manche Theorien kann man nur verstehen, wenn man die Gegenposition kennt, mit der sich die AutorInnen auseinandersetzen und die sie widerlegen möchten (vgl. Klumker 2.3 und Malthus 1.6). Bisweilen werden zudem von Werk zu Werk Positionen gründlich geändert (vgl. Mollenhauer 3.4). Mitunter werden frühere Thesen später durch neue Erkenntnisse ausgeweitet (vgl. Staub-Bernasconi 4.1).

Wir beschreiben die Theorien aus unserer Sicht und hoffen, dass wir dem Selbstverständnis der AutorInnen gerecht geworden sind. Bei der Darstellung der Theorien haben wir uns bemüht, möglichst nahe an der Sprache und den Denkfiguren der jeweiligen AutorInnen zu bleiben. Viele AutorInnen haben jedoch in ihrer Theorie eine eigene Sprachwelt geschaffen, neue Fachbegriffe entwickelt oder bekannten Begriffen einen neuen Inhalt gegeben; wie zum Beispiel bei „Lebenswelt“, „Konstruktivismus“, „Hilfe“ und „Profession“. Bei manchen Theorien wäre ein Glossar zum besseren Verständnis hilfreich.

Manche Titel für die Theorien und auch die Darstellungen der Theorien selbst geben die bei den Theorien real vorhandenen Wendungen, Widersprüche und Brüche nur unzureichend wieder. Wir haben aufgrund der Quellen und unter Zuhilfenahme der Sekundärliteratur versucht, ein durchgehendes Anliegen des/der AutorIn zu ermitteln und dafür eine dementsprechende Überschrift zu finden. Wir sind uns bewusst, dass eine Festlegung auf ein einziges, zentrales Thema den AutorInnen und ihren Anliegen nur bedingt gerecht wird.

Vor allem bei den neueren Theorien stehen wir vor der Herausforderung, dass diese oft in Zusammenarbeit von weit mehr als einer oder zwei Personen erstellt und weiterentwickelt werden. Hier haben wir versucht, prägende Hauptpersonen zu benennen und weitere relevante Beteiligte in ergänzenden Zitaten und Quellenangaben mit zu benennen.

Auf eine ausdrückliche kritische Kommentierung und Würdigung der einzelnen Theorien haben wir verzichtet. Das bedeutet nicht, dass wir die Theorien nicht kritisch sehen und reflektieren. Vorrangig ist es für uns, die AutorInnen mit ihren Theorien möglichst original zu Wort kommen zu lassen. Wenn wir die Bedeutung der einzelnen Theorien für die Soziale Arbeit (vgl. Punkt 6 im oben dargestellten Leitfaden) erörtern, dann gehen damit selbstverständlich unsere eigenen Sichtweisen und die Einschätzungen unseres Umfeldes mit ein. Wir haben zwar versucht, uns möglichst auf nachprüfbare Kriterien (wie z. B. Anzahl, Auflagenhöhe und Verbreitung der Publikationen, Beachtung in der Fachliteratur, Häufigkeit der Nennung in Literaturverzeichnissen usw.) zu stützen. Es liegen jedoch fast keine sozialwissenschaftlichen Anforderungen genügenden Erhebungen zur Rezeption und Wirkungsgeschichte von Theorien der Sozialen Arbeit in der Praxis und der Ausbildung vor. Unser Bemühen um eine möglichst originalgetreue Darstellung mit entsprechenden Zitaten bedeutet nicht, dass wir die vorgetragenen Thesen teilen. Wir sehen unsere Aufgabe darin, in diesem Studienbuch konzentriert eine Auswahl von Theorien der Sozialen Arbeit, die für die gegenwärtige Soziale Arbeit relevant sind, zu vermitteln. Die kritische Würdigung und Bewertung der einzelnen Theorien überlassen wir den LeserInnen (Anregungen dazu siehe Engelke/Spatscheck/Borrmann 2016, 316).

1Die Bezeichnung „Soziale Arbeit“ verwenden wir als Begriff, der die historischen und aktuellen Traditionen von Armenpflege, Fürsorge, Caritas, Diakonie, Jugendhilfe, Wohlfahrtspflege, Sozialarbeit und Sozialpädagogik umfasst. Aus sprachlichen Gründen benutzen wir gelegentlich Sozialarbeit synonym für Soziale Arbeit; insbesondere dann, wenn ein Adjektiv erforderlich ist, wählen wir sozialarbeiterisch. In der Sozialen Arbeit Tätige bezeichnen wir als SozialarbeiterInnen, beziehen dabei aber auch SozialpädagogInnen, GemeinwesenarbeiterInnen, FürsorgerInnen usw. mit ein.

2Bei der Darstellung des historischen Kontextes haben wir uns vornehmlich auf Zeitungsarchive und die Geschichtsbücher von Grundmann 1988, Kinder/Hilgemann 2005 u. a. gestützt.

Theorien der Sozialen Arbeit

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