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1.5 Theorie

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In der Schöpfung hat Gott – nach Thomas – seine göttlichen Ideen realisiert. Die Welt ist für ihn daher ein Abbild Gottes und folglich insgesamt gut, weil Gott gut ist und nichts Schlechtes schaffen kann. Daraus ergibt sich für Thomas eine vollständige und heilige Ordnung des Seins. Diese Ordnung ist hierarchisch gestuft aufgebaut.

(1) Heilige Ordnung: Der Gedanke der heiligen Ordnung, in der sich die Welt befindet, beherrscht das gesamte Denken von Thomas. Im Universum ist nichts planlos oder chaotisch. Alles ist hingeordnet auf das höchste Ziel der Schöpfung, nämlich auf Gott. In der Hinordnung auf dieses Höchste gibt es dem Ziel nähere und fernere, höhere und niedrigere Positionen. Dadurch kommen in der Schöpfung Gradstufen und Maße, Gattungen und Arten zustande, die eine natürliche Ordnung schaffen.

Von Gott haben die Naturen, was sie als Naturen sind. Und sie sind darum nur insoweit fehlerhaft, als sie vom Planen des Meisters, der sie erdacht hat, abweichen. Diese Abweichung ist möglich, weil der Mensch über einen freien Willen verfügt (vgl. Thomas von Aquino 1985a, 276 f.). Wenn der Mensch seiner Vernunft folgt, die ihn ja den richtigen Weg erkennen lässt, ist er das edelste Wesen. Folgt er aber seiner Begierde und sündigt, dann wird er das wildeste Tier; denn in der menschlichen Natur steckt ein hohes Kraftpotenzial. Dieses muss in die rechten Bahnen geleitet werden. Das geschieht nach Thomas durch Gesetze und Strafandrohung; denn der Mensch neigt für ihn leicht zu Willkür und Begierde.

Der Mensch ist, wie Aristoteles schon formuliert hat, ein soziales Wesen und hat eine naturhafte Anlage zur Gemeinschaft (vgl. Thomas von Aquino 1985c, XCIX–CII). Vereinzelt wäre der Mensch dem Leben gar nicht gewachsen, da er nicht über die das Leben sichernden Instinkte verfügt wie ein Tier. Er muss sich mit seiner Vernunft helfen; das geschieht am besten in der Gemeinschaft aller Menschen, in der alle zur größtmöglichen Vollendung des Ganzen beitragen.

Das „Gemeinwohl“ geht deshalb für Thomas in jeder Weise dem Wohl des Individuums voraus und hat als Regel die göttliche Gerechtigkeit (vgl. a. a. O., CII–CVI). Der Einzelne hat sich der vorgegebenen Gemeinschaftsordnung in jedem Fall unterzuordnen. Dem gemeinsamen Ziel entspricht die gemeinsame (für alle gültige) Ordnung. Thomas akzeptiert die hierarchische Gesellschaftsordnung (Ständeordnung, Monarchie) seiner Zeit voll und ganz als Ausdruck göttlicher Ordnung. Persönlich neigt er dazu, diese statische menschliche Gesellschaft vor allem im Bild der mittelalterlichen Stadt als einer rational durchformten Ordnung verwirklicht zu sehen.

Aufgabe des Staates ist es nach Thomas, seine Bürger zu einem glücklichen und tugendhaften Leben zu führen. Der Staat hat nicht nur natürliche, sondern auch übernatürliche Aufgaben. So soll das religiöse Leben vom Staat gefördert werden, damit die Menschen ihr höchstes Ziel, nämlich die Glückseligkeit bei Gott, erreichen.

Aus diesen und weiteren anthropologischen und theologischen Grundannahmen leitet Thomas Theoreme für die „Soziale Arbeit“ ab: Die mittelalterliche Ständeordnung spiegelt für ihn die göttliche Ordnung wider. Sie ist zugleich eine Werteordnung und eine soziale Ordnung, ein Über- und Untereinander der Menschen in den Ständen, in die sie hineingeboren worden sind (vgl. Scherpner 1974, 23–42). Die obersten Stände sind in einer auf Gott bezogenen Ordnung für Thomas selbstverständlich die geistlichen Stände. Ihnen folgen die Stände der weltlichen Herrschaft. Sodann kommen die „bürgerlichen“ Stände. Und weit darunter die Armen. Die Armen sind für Thomas Menschen, die – weil sie nichts besitzen – mit den eigenen Händen für ihren Lebensunterhalt sorgen müssen. Unter der Schicht der Armen befindet sich noch die Schicht der Bedürftigen; das sind die Menschen, die nichts besitzen (Witwen, Waisen, „Krüppel“, Kranke, Alte usw.), dazu auch noch arbeitsunfähig sind und deshalb von Almosen (milden Gaben) leben müssen. Ganz außerhalb der Ordnung stehen die Ehrlosen; das sind Menschen, die gegen wichtige Gesetze der Gemeinschaft verstoßen haben (z. B. öffentliche Sünder wie Diebe, Ehebrecher, Mörder usw.); sie sind geächtet und heimatlos. Diese ökonomische, soziale und politische Ungleichheit der Menschen ist nach Thomas natürlich und ursprünglich von Gott so gewollt.

(2) Gottes- und Nächstenliebe: Zwei göttliche Gebote, die nach Thomas als Einheit zu betrachten sind, sind in seinem Denken für jeden Menschen von allerhöchster Bedeutung; weil sie sich auf Gott als den Endzweck des Lebens beziehen, hat sich ihnen auch der menschliche Verstand zu unterwerfen:

a)Das Gebot der Gottesliebe: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen, aus deiner ganzen Seele und aus deiner ganzen Stärke.

b)Das Gebot der Nächstenliebe: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.

Beim Christen ist die Liebe zu Gott das Licht jeglichen Erkennens und – hinter allen Gründen, wie sie die inneren und äußeren Umstände dem Menschen vorlegen – die Regel für das gesamte Handeln. Nach Thomas schulden wir jedem Nächsten die Liebe, weil dieser uns Nächster ist sowohl nach dem natürlichen Ebenbild Gottes als auch nach der Fassenskraft für die Herrlichkeit (vgl. Thomas von Aquino 1985c, 200 ff.).

(3) Armut: Die Hinordnung des Menschen im Diesseits auf das Jenseits und die grundsätzliche Erwartung, dass das eigentliche Leben erst nach dem Tod beginnt, prägen die Auffassung von Thomas über die Arbeit und die Verpflichtung zur Arbeit. Vorrang im Leben der Gläubigen haben die Verehrung Gottes und das Bemühen um das Heil der Seele. Alles andere ist nachrangig, auch die Arbeit. Arbeit ist nicht in sich selbst wertvoll, sondern dient nur dem Erwerb des Lebensunterhalts. Die Verpflichtung zur Arbeit beruht eben auf der natürlichen Notwendigkeit, sich seinen Lebensunterhalt zu beschaffen. Da es ein natürliches Gesetz ist, dass der Mensch für seinen Lebensunterhalt sorgen muss, ist es für Thomas zugleich auch ein göttliches Gebot. Diese Verpflichtung gilt für alle, die nicht von eigenem Besitz oder der Unterstützung durch andere leben können. Die Arbeitspflicht gilt besonders für die Menschen, die überhaupt nichts besitzen, also für die Armen.

Die Arbeitsverpflichtung und die Wertschätzung der Arbeit als notwendiges Mittel, um sich zu ernähren, führen Thomas dazu, das Betteln aus Begierde nach einem müßigen Leben oder nach mühelosem Erwerb von Besitz zu verbieten. Berechtigt zum Betteln ist derjenige, der wirklich bedürftig ist und nicht mehr arbeiten kann oder dessen Arbeitseinkommen zum Lebensunterhalt nicht ausreicht. Thomas erlaubt das Betteln noch aus zwei weiteren Motiven: Betteln ist eine Möglichkeit für Christen, sich in Demut zu üben, da Bettler in der Öffentlichkeit missachtet werden. Betteln wird daher, wenn es aus religiösen Motiven heraus geschieht, erlaubt, zum Beispiel für die Büßer auf den Kreuzzügen und selbstverständlich auch für die Mitglieder der Bettelorden. Betteln ist außerdem erlaubt, wenn es wegen nützlicher Zwecke geschieht. Gemeint ist damit zum Beispiel das Betteln Einzelner oder von Gruppen für Einrichtungen des Gemeinwohls, wie bei Sammlungen für gemeinnützige Brücken oder Kirchbauten.

Für Thomas von Aquin erhalten Armut und Besitzlosigkeit vom Evangelium her eine besondere Bedeutung. Danach ist Armut sogar die Voraussetzung dafür, um überhaupt ins Himmelreich gelangen zu können:

„Selig die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich“ (Matthäus 5,3) und „Ein Reicher wird schwer in das Himmelreich hineingelangen. … Leichter kommt ein Kamel durch ein Nadelöhr hindurch als ein Reicher in das Reich Gottes hinein“ (Matthäus 19,23 f.). Die freiwillig um des Himmelreiches willen gewählte Armut ist eines der höchsten Ideale in der Lehre des Thomas von Aquin.

(4) Unterstützung der Armen: Diese Bewertung der Armut und der Armen macht es verständlich, dass Thomas sich nicht ausdrücklich und direkt mit der Lebenssituation der Armen befasst. Die Abschaffung der Armut und der Armen ist für ihn kein Thema und kann es aufgrund seiner Grundannahmen auch nicht sein. Gewissermaßen über einen Umweg werden sie jedoch Gegenstand auch seines Denkens: über seine These von der religiös-ethischen Verpflichtung, barmherzig zu sein, Gutes zu tun und Almosen zu geben (vgl. Thomas von Aquino 1985c, 150–166). Im Mittelpunkt dieser These stehen die Geber, also die Habenden, und nicht die Empfänger der Gaben, die Bedürftigen. Die Bedürftigen erfüllen lediglich eine wichtige Funktion beim Bemühen der Reichen, sich mit Gott zu verbinden, ihm zu dienen und so für ihr eigenes Seelenheil zu sorgen. Über die Empfänger/Bedürftigen sagt Thomas nur aus, dass sie als Berechtigung zum Betteln auch wirklich in Not sein müssen und sich nicht selbst ernähren können. Er fordert in seinem Sinne radikal-konsequent, dass auch den öffentlichen Sündern und Staatsfeinden geholfen werden muss, wenn sie in äußerster Not sind, damit auch sie nicht verhungern oder verdursten.

Thomas befasst sich auch mit der Frage: „Ist es einem erlaubt, wegen eines Notstands zu stehlen?“ Für Thomas werden die Dinge, die jemand im Überfluss hat, aus dem natürlichen Recht dem Unterhalt der Armen geschuldet:

„Es ist der Hungernden Brot, das du zurückhältst … Falls die Not so augenscheinlich und drängend ist, dass offenkundig ist, der Not des Augenblicks müsse mit den Dingen, die einem gerade zur Hand sind, abgeholfen werden, nimm an, es droht der Person Gefahr und anders kann nicht geholfen werden, dann kann einer erlaubter Weise mit fremden Dingen seiner Not zu Hilfe kommen, sei es, dass sie offen, sei es, dass sie geheim weggenommen werden. Im eigentlichen Sinn hat das auch nicht das Wesen von Diebstahl oder Raub“ (a. a. O., 320 f.).

Aus demselben Grund ist es auch Dritten erlaubt, etwas vom überflüssigen fremden Gut anderer Menschen zu nehmen und es als Almosen zu geben. Natürlich darf der Notleidende diese Hilfe nur annehmen, wenn ihm anders nicht geholfen werden kann. Wenn es allerdings ohne Gefahr geschehen kann, muss zunächst das Einverständnis des Besitzers eingeholt werden, und erst dann ist für den Armen, der in äußerster Not ist, zu sorgen.

(5) Gebot zum Almosengeben: Alle Menschen, die im Überfluss leben, sind verpflichtet, von ihrem Reichtum den Bedürftigen abzugeben. Das allgemeine Gebot zum Almosengeben leitet Thomas aus dem Gebot der Nächstenliebe und der Barmherzigkeit, die den Menschen antreibt, fremdem Elend zu Hilfe zu kommen, ab.

„Da die Nächstenliebe unter Gebot steht, so muss notwendig alles unter Gebot fallen, ohne das die Liebe zum Nächsten nicht gewahrt werden kann. Zur Nächstenliebe gehört aber, dass wir dem Nächsten nicht bloß das Gut wollen, sondern es auch wirklich tun … Dazu aber, dass wir jemandes Gut wollen und wirken, wird erfordert, dass wir seiner Not zu Hilfe kommen, was durch die Spendung von Almosen geschieht. Und deswegen steht das Almosenspenden unter Gebot“ (a. a. O. 1985c, 162 f.).

Auf Seiten des Gebenden ist das Almosengeben nur dann geboten, wenn ihm das überflüssig ist, was als Almosen verwendet werden soll.

Vorab ist es für Thomas geboten und erlaubt, dass jeder für sich und die Seinen in ausreichendem Maße sorgt. Man schuldet nicht, Almosen von dem zu geben, was schlechthin zum Leben und standesgemäß notwendig ist; es sei denn im Falle für das Gemeinwohl. Wer von dem etwas gibt, was als notwendig für seine standesgemäße Lebensführung gilt, handelt verdienstvoll, da keine Verpflichtung dazu besteht (vgl. a. a. O., 165). Der Umfang des zu gebenden Almosens richtet sich also ausschließlich nach der Lebenssituation des Gebers, nicht nach der Notlage des Empfängers. Wirklich verdienstvoll ist das Geben aber nur dann, wenn es aus der rechten Gesinnung erfolgt. Ohne den Glauben an Jesus Christus und die Liebe zum Nächsten fehlt der helfenden Handlung Wesentliches. Auf Seiten des Empfängers ist es für Thomas erforderlich, dass der Empfänger äußerste Not leidet. Es ist aber nach Thomas ein Fehler, so reichlich zu geben, dass der Empfänger Überfluss bekommt.

„Da der Wohltäter die Ursache und eine Art von Urheit für den Genuß von Wohltat ist, so ist derjenige, welcher die Wohltat hat, dem, der sie leistet, zu Dank verpflichtet“ (a. a. O., 432). Beim Empfang des Bußsakramentes ist das Almosengeben neben dem Beten und Fasten eine Möglichkeit für die Sünder, durch eigenes sittliches Bemühen die zeitlichen (nicht ewigen) Strafen für die begangenen Sünden auszugleichen. Das Almosengeben ermöglicht also reichen SünderInnen die Rückkehr auf den Weg zu Gottes Reich.

Dass sich die Geber Verdienste erwerben können, das ist es, was die Notleidenden als Empfänger der Almosen für die mittelalterliche Gesellschaftsordnung wertvoll macht. Sie sind für das Heil der reichen Sünder unentbehrlich, gehören zur heiligen Ordnung hinzu und leben in dieser Schöpfung, die auf das Jenseits, auf Gott, hin geordnet ist. Not und Armut werden religiös-ethisch gesehen und nicht ökonomisch-gesellschaftlich. Angesichts der wichtigen gesellschaftlichen Funktion der Bedürftigen und der theologischen Wertschätzung der Armut gab es für Thomas keinen Grund, die Gesellschaftsordnung zu ändern oder in seiner Theorie gar die Abschaffung der Armut und der Armen zu fordern. Thomas befasst sich nur nebenbei mit der Lebenssituation der Notleidenden. Ihn interessiert die Handlung. Unter diesem Blickwinkel untersucht er auch die Barmherzigkeit und die Wohltätigkeit. Die Barmherzigkeit ist für ihn „eine Mitleide in unserem Herzen mit fremdem Elend; es treibt uns an, zu Hilfe zu kommen, falls wir nur können … Die Barmherzigkeit ist eine gewisse Traurigkeit über das zutage tretende verderbliche oder betrübende Übel.“ Und Wohltätigkeit ist nach Thomas eine Wirkung der Freundschaft oder der Liebe; sie folgt aus dem Wesen der Liebe, durch die das „Höherstehende zur Fürsorge für das Tieferstehende“ bewegt wird (vgl. a. a. O., 151–161).

(6) Werke der Barmherzigkeit: Auf biblischer Grundlage entwickelt Thomas eine von der körperlich-seelischen Natur des Menschen ausgehende Systematik für die Handlungen und unterscheidet als Almosengattungen die sieben leiblichen und die sieben geistlichen Werke der Barmherzigkeit. Es sind allgemeine menschliche und zu allen Zeiten wiederkehrende existenzielle Nöte und Mängel, die Thomas als menschliche Defekte ansieht. Diese Mängel lassen sich durch die sieben leiblichen und sieben geistlichen Werke der Barmherzigkeit beheben. Die sieben körperlichen Defekte sind: Hunger, Durst, Nacktheit, Obdachlosigkeit, Krankheit, Gefangenschaft und Unbeerdigtsein (vgl. Matthäus 5,1–2; 25,31–46). Ihnen entsprechen die sieben leiblichen Werke der Barmherzigkeit: Hungrige speisen, Durstigen zu trinken geben, Nackte bekleiden, Fremde ins Haus aufnehmen, Kranke besuchen und pflegen, Gefangene trösten und die Toten bestatten. Die sieben geistigen Werke der Barmherzigkeit sind: den Unwissenden lehren, den Zweifelnden beraten, den Traurigen trösten, den Sünder bessern, dem Beleidiger nachlassen, die Lästigen und Schwierigen ertragen und für alle beten. Aufgabe der barmherzigen Werke ist es, die Bedürfnisse der Bedürftigen zu befriedigen. Die Gründe für den Mangel und ihre Beseitigung interessieren Thomas nicht. Er denkt nicht daran, den Bedürftigen nachhaltig und ein für alle Mal aus seiner Notsituation hinauszuführen. Helfen ist für Thomas momentan und individuell ausgerichtet (vgl. Thomas von Aquino 1985c, 161).

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