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2.2 | Institutionalismus

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Ideengeschichtlich knüpft der Institutionalismus an die klassische liberale Volkswirtschaftstheorie an. Adam Smith (1723–1790) und John Stuart Mill (1806–1873) können als Vordenker gelten. Der Institutionalismus reicht jedoch über die Teildisziplin Internationaler Beziehungen hinaus, weil auch in anderen politikwissenschaftlichen Teildisziplinen die Wirksamkeit von Institutionen erforscht wird (Hall/Taylor 1996; March/Olsen 1989; North 1990; Steinmo/Thelen/Longstreth 1992). In den modernen Internationalen Beziehungen sind insbesondere Robert O. Keohane, Joseph S. Nye Jr., Lisa Martin, Kenneth Oye und Arthur A. Stein die wichtigsten Vertreter. In Deutschland wird diese Theorie vor allem von der Tübinger Schule um Volker Rittberger, Andreas Hasenclever, Michael Zürn und Bernhard Zangl sowie von Otto Keck vertreten.

Übereinstimmung der Grundannahmen

Interessenmix

Institutionalisten12 stimmen mit den Neorealisten darin überein, dass Staaten die wichtigsten Akteure in Internationalen Beziehungen sind und dass Anarchie ein wesentliches Merkmal des internationalen Systems ist. Sie teilen jedoch keineswegs die von Neorealisten daraus gezogenen Schlussfolgerungen, dass Staaten vorrangig nach Sicherheit und Überleben streben müssen und dass sie deshalb in einen unauflöslichen Konflikt miteinander geraten. Neben dem Streben nach Sicherheit vereint Staaten aus der Sicht der Institutionalisten auch das Interesse an Wohlstandsmehrung. Es kann vor allem dann erreicht werden, wenn sie miteinander kooperieren. Internationale Beziehungen werden also nicht vorrangig von Konflikten beherrscht, wie Neorealisten behaupten, sondern von einer Mischung aus gemeinsamen und trennenden Interessen. Größerer Wohlstand für alle Staaten ist dann zu erreichen, wenn es zu einer Spezialisierung und Arbeitsteilung zwischen Staaten kommt ( Kap. 5.1), aus der jeder einen absoluten Gewinn zieht (vgl. Abb. 2.1, rechts). Es muss allerdings sichergestellt werden, dass Staaten fair miteinander umgehen und nicht versuchen, sich gegenseitig zu übervorteilen. Dem stehen jedoch konkrete Kooperationshindernisse im Weg.

Überblick

Kooperationshindernisse

Betrug, Übervorteilung und Sorglosigkeit sind die Haupthindernisse, die Staaten davon abhalten, Vereinbarungen zu treffen und/oder einzuhalten. Um diese zu überwinden, muss sichergestellt sein, dass

alle Beteiligten einen Nutzen aus einer Kooperation ziehen, d. h. einen absoluten Gewinn (vgl. Abb. 2.1, rechts) erzielen;

alle Beteiligten die Regeln einhalten; wenn einem Staat aus der Regelverletzung Vorteile entstehen könnten, müssen Vorkehrungen für die Überwachung und nötigenfalls Bestrafung getroffen werden;

Vereinbarungen nicht dazu genutzt werden, sorglosen Umgang z. B. mit der gemeinsamen Sicherheit zu pflegen, weil die Risiken von den anderen Vereinbarungspartnern mitgetragen werden. Dieses Kooperationshindernis nennt man mit dem englischen Begriff moral hazard. Ein Beispiel: Ein Staat geht eine Allianz mit anderen ein, weil er militärischen Schutz gegenüber einem Nachbarstaat sucht. Mit dieser Allianz im Rücken fühlt er sich so sicher, dass er den Nachbarstaat ständig provoziert oder sogar selbst angreift. Seine Alliierten werden dadurch unbeabsichtigt in einen Konflikt hineingezogen.

Kooperationsanreize

Schatten der Zukunft

Mit Hilfe der Spieltheorie haben Institutionalisten herausgefunden, dass Akteure nur unter bestimmten Voraussetzungen versuchen, sich gegenseitig zu betrügen oder zu übervorteilen (Axelrod 1988; Oye 1986). Eine dieser Voraussetzungen ist, dass Kooperation nur einmalig stattfindet. Wenn Staaten aber mehrfach miteinander kooperieren, sinkt der Anreiz für einen Betrug, weil man damit rechnen muss, auch die andere Seite könnte die Kooperationsbeziehung zum eigenen Vorteil ausnutzen oder sogar ganz beenden. Auf dieses Weise wäre der durch Betrug erzielte Nutzen geringer als der durch mangelnde Kooperation entstandene Schaden. Übervorteilung und Betrug lohnen sich also dann nicht, wenn Staaten langfristig mit einander kooperieren. Über einer unbefristet angelegten Kooperationsbeziehung liegt also der »Schatten der Zukunft«. Die Beziehung ist so wertvoll, dass man sie nicht leichtfertig einem nur kurzfristig durch Betrug erzielbaren Nutzen opfert.

Linkage

Eine weitere Kooperation fördernde Voraussetzung ist, dass Staaten nicht nur in einem Politikfeld zusammenarbeiten, sondern auf vielen. Je vielfältiger und dichter die wechselseitigen Beziehungen werden, d. h. je höher der Verflechtungsgrad steigt, desto schädlicher ist es, einen Betrugsversuch zu unternehmen. Die Verbindung von Interaktionen in verschiedenen Politikfeldern wird mit dem englischen Wort linkage bezeichnet. Je mehr linkage besteht, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit von Kooperation.

Die kooperationsfördernde Wirkung von linkage kann außerdem dadurch verstärkt werden, dass Staaten eine »wie du mir, so ich dir« Strategie anwenden. Sie besteht darin, dass jede Aktion eines Akteurs mit der gleichen Aktion des anderen Akteurs beantwortet wird. Betrug wird mit Betrug, Kooperation mit Kooperation beantwortet. Auf diese Weise können Staaten lernen, dass Betrug schadet und Kooperation lohnt.

Wirksame Selbstregierung

Kollektiv handeln

In ihren bahnbrechenden Studien fand Elinor Ostrom heraus, dass Individuen tatsächlich in der Lage sind, ohne staatliche Hilfe Lösungen zur Überwindung von Kooperationshindernissen zu finden. Bergbauern in der Schweiz verständigten sich beispielsweise gemeinsam auf Regeln, mit denen die Überweidung gemeinschaftlich genutzter Wiesen wirksam verhindert wurde; Fischer verständigten sich auf Übereinkünfte, mit denen die Überfischung von Meeren verhindert und der natürliche Bestand erhalten werden konnten; in Nepal gelang es den Bürgern, wirksame Regeln für den Wasserverbrauch zu vereinbaren, mit denen dem Wassermangel begegnet wurde. Diese und zahlreiche andere Beispiele, die Ostrom erforschte, zeigen, dass die Betroffenen vor Ort häufig in der Lage sind, ihre Kooperationsprobleme durch Übereinkünfte selbst zu lösen (Cox et al. 2009; Ostrom 1999; 2010a; b). Besonders wichtig ist: Sie sind dabei nicht auf eine übergeordnete Regierung d. h. einen Staat angewiesen. Gesellschaften können auch ohne Regierung kollektiv handeln. Für ihre Arbeiten erhielt Ostrom zusammen mit Oliver Williamson 2009 den Nobelpreis für Ökonomie.

Wenn es Bürgern in ihren lokalen Gemeinden gelingt, Kooperationshindernisse durch Selbstregierung wirksam zu überwinden, können Staaten dies in internationalen Beziehungen nicht auf ähnliche Art und Weise erreichen?13 Wenn dies gelingt, so die institutionalistische Denkschule, stellt Anarchie kein unüberwindliches Hindernis für Kooperation in den internationalen Beziehungen mehr dar. Es kommt lediglich darauf an, den Akteuren dabei zu helfen, die resultierenden Dilemmata zu lösen, d. h. die weiter oben erläuterten Kooperationshindernisse ( Überblick) zu überwinden.

Institutionen

Dies kann am besten dadurch erreicht werden, dass gemeinsame Regeln vereinbart und eingehalten werden. Solche Regeln werden »Institutionen« genannt. Institutionen bieten erhebliche Vorteile für Akteure. Der wichtigste Vorteil ist, dass die sogenannten Transaktionskosten gesenkt werden.

Exkurs

Transaktionskosten

Transaktionskosten sind ein Begriff aus den Wirtschaftswissenschaften. Sie entstehen, wenn zwei oder mehr Akteure ein Geschäft abschließen. Wer z. B. einen Handyvertrag mit einem Mobilfunkanbieter abschließt, muss glaubhaft machen, dass er die monatlichen Rechnungen bezahlen wird. Der Mobilfunkanbieter überprüft die Kreditwürdigkeit des Handykäufers jedoch nicht selbst, weil das sehr aufwendig wäre. Vielmehr nutzt er dafür z. B. die Schutzgemeinschaft für allgemeine Kreditsicherung (Schufa). Die Schufa sammelt Informationen über die Kreditwürdigkeit nahezu aller Bürger in Deutschland. Ihr Urteil zur Kreditwürdigkeit stellt sie Banken und Firmen gegen Gebühr zur Verfügung.

Diese Gebühren sind wichtige Transaktionskosten beim Abschluss etwa eines Handyvertrages, um zu unserem Beispiel zurückzukommen. Sie sind weitaus geringer, als wenn Mobilfunkanbieter die Kreditwürdigkeit jedes einzelnen Kunden selbst überprüfen müssten. In diesem Fall würden die Kosten für Handyverträge in erheblichem Maße steigen. Viele Bürger könnten sich keine Handys mehr leisten. Transaktionskosten wurden also dadurch gesenkt, dass man die Beurteilung von Kreditwürdigkeit gewissermaßen in eine Hand — die Schufa — gelegt hat. Auf diese Weise werden Handyverträge für weit mehr Kunden bezahlbar als ohne Schufa. Sowohl Handykäufer als auch Mobilfunkanbieter profitieren deshalb davon, dass sehr viel mehr Geschäfte abgeschlossen werden, weil Transaktionskosten ge senkt wurden. Zusammengerechnet bilden diese Vorteile auf beiden Seiten den Wohlfahrtsgewinn aus der Kooperation.

Transaktionskosten fallen natürlich auch in internationalen Beziehungen an. Man denke z. B. daran, dass die eigene Währung umgetauscht werden muss, wenn man im Ausland einkaufen will, weil sie dort nicht als Zahlungsmittel für Transaktionen akzeptiert wird. Die Umtauschgebühren stellen also Transaktionskosten dar. Wer sie nicht bezahlen möchte, kann im Ausland nicht einkaufen. Hinzu kommt, dass die Berechnung von Umtauschkursen aufwendig ist. Dies erschwert den Preisvergleich von Waren, die nicht in der eigenen Währung ausgezeichnet sind. Auch diese Mühen können als Transaktionskosten bezeichnet werden. Auch hier gilt: Wenn Bürger die Übernahme von Transaktionskosten scheuen, kommt kein Geschäft zustande. Der Kunde bekommt keine Ware, der Verkäufer kein Geld; weniger Geschäft bedeutet einen Wohlfahrtsverlust für alle.

Die gemeinsame Währung Euro ist z. B. vor allem deshalb wohlstandsfördernd, weil die Transaktionskosten für Geschäfte im gesamten Euroraum erheblich gesenkt werden. Man muss weder Geld in eine andere Währung umtauschen und dafür Gebühren entrichten, noch entsteht ein Aufwand beim Preisvergleich. Vielmehr besteht Preistransparenz.

Internationale Organisationen

In internationalen Beziehungen wird die Überwachung der Regeleinhaltung oftmals in die Hände von internationalen Organisationen gelegt. Sie überwachen, ob Staaten vereinbarte Regeln einhalten oder nicht. So prüft z. B. die Internationale Energieagentur (IAEO), ob Staaten die aus dem Vertrag über die Nicht-Verbreitung von Kernwaffen (Kernwaffensperrvertrag) resultierenden Verpflichtungen erfüllen; das Sekretariat der United Nations Framework Convention on Climate Change (UNFCCC) sammelt und veröffentlicht Informationen, in welchem Maße die Vertragspartner die Auflagen des Kyoto-Protokolls erfüllen; die Europäische Kommission ist beauftragt, die Einhaltung der Verträge durch die Mitgliedstaaten zu überwachen. Dadurch, dass internationale Organisationen mit der Überwachung betraut sind, werden Transaktionskosten erheblich gesenkt, denn andernfalls müssten alle Vertragsstaaten jeden anderen Vertragsstaat selbst überwachen – eine sehr teure Angelegenheit.

Zusammenfassung

Institutionalismus

Institutionen verändern das Verhalten von Staaten in Richtung Kooperation dadurch, dass sie deren Kosten-Nutzen-Kalkül verändern. Die Kosten von Kooperation werden geringer und ihr Nutzen steigt. Auf diese Weise helfen Institutionen Staaten dabei, Kooperationshindernisse zu überwinden. Daher wird die kooperationshemmende Wirkung der Anarchie in internationalen Beziehungen beschränkt. Institutionen wirken jedoch nur kooperationsfördernd, wenn eine Mischung von gemeinsamen und trennenden Interessen besteht. Wenn Staaten keine gemeinsamen Interessen haben, also keine Interessenüberschneidung besteht, spricht man von Nullsummen-Situationen. In diesen Situationen ist der Gewinn eines Akteurs der Verlust eines anderen Akteurs mit gleichem Betrag. Kooperation wird verhindert.

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