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2.3 | Liberalismus

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Ideengeschichtlich knüpft der Liberalismus an liberale Philosophen wie John Locke (1632–1704) oder Immanuel Kant (1724–1804) an. In wirtschaftswissenschaftlicher Hinsicht kann auch David Ricardo (1772–1823) als Vordenker gelten. Ungeachtet der einzelnen Varianten des Liberalismus teilen alle liberale Philosophen und Politikwissenschaftler einen Kerngedanken, der sie sowohl vom Neorealismus als auch vom Institutionalismus unterscheidet: Das Verhalten von Staaten hängt maßgeblich von einer Vielzahl innenpolitischer Faktoren ab, ohne deren Berücksichtigung es nicht verstanden werden kann (Peters 2007). Staaten können also nicht — wie Neorealisten und Institutionalisten annehmen — als eine Einheit, als einheitlicher Akteur, verstanden werden. Vielmehr werden Bedürfnisse von Individuen und Gruppen der Gesellschaft in einem Willensbildungsprozess zu Präferenzen eines Staates verarbeitet, die die Regierung dann nach außen vertritt (Moravcsik 2010).

Demokratischer Frieden

Aber welche innenpolitischen Faktoren kommen dabei in Betracht? Zwei Strömungen des Liberalismus geben darauf eine unterschiedliche Antwort. Die erste folgt Immanuel Kants Schrift »Zum Ewigen Frieden«, die Michael Doyle (1996) wieder aufgegriffen hat. Er gab damit den Anstoß zu einem großen und international weitverzweigten Forschungsprogramm Internationaler Beziehungen. Dessen zentrale Annahme ist, dass das nach außen gerichtete Verhalten von Staaten maßgeblich davon abhängt, ob das politische System eine Demokratie oder eine autoritär regierte Diktatur ist. Daraus wurde die Theorie des demokratischen Friedens entwickelt. Bruce Russett, und John R. Oneal gehören zu den wichtigsten Forschern auf diesem Feld. Für Deutschland sind vor allem die Arbeiten von Ernst O. Czempiel, Anna Geis, Harald Müller oder das Forschungsprojekt zur parlamentarischen Kontrolle von Streitkräften an der Universität Düsseldorf unter der Leitung von Hartwig Hummel und Stefan Marschall zu nennen. Wegen seiner grundsätzlichen Bedeutung für Internationale Beziehungen ist diesem Forschungszweig des Liberalismus ein eigenes Kapitel gewidmet ( Kap. 4), so dass hier nicht näher darauf eingegangen wird.

Einfluss innenpolitischer Akteure

Die zweite Strömung des Liberalismus wird maßgeblich von der Außenpolitikforschung geprägt (Hudson 2005; 2007). Das außenpolitische Verhalten von Staaten beruht dieser Strömung zufolge weniger auf Merkmalen des politischen Systems, sondern vor allem auf dem Einfluss innenpolitischer Akteure. In den modernen Internationalen Beziehungen vertreten vor allem Andrew Moravcsik, Robert D. Putnam oder Helen V. Milner diese Strömung. In Deutschland sind es insbesondere Helga Haftendorn, Hanns W. Maull und Wolfgang Muno.

Akteurstypen

Liberale Forscher beziehen eine breite Spanne von Akteurstypen in ihre Analysen mit ein. Dazu gehören sowohl staatliche als auch gesellschaftliche Akteure. Die staatlichen Akteure können weiter unterteilt werden in z. B. Exekutive und Legislative, Ministerien, Verwaltungseinrichtungen oder Behörden mit regionaler oder kommunaler Zuständigkeit. Die politischen Parteien und die Medien werden häufig als Akteurstyp begriffen, der zwischen Staat und Gesellschaft steht und beide Bereiche verbindet.

Organisationsgrad und Strategiefähigkeit

Gesellschaftliche Akteure sind in erster Linie Interessengruppen und Lobbyisten, die sich nach Organisationsgrad und Strategiefähigkeit unterscheiden. Der Organisationsgrad gibt an, zu welchem Anteil eine gesellschaftliche Gruppe, z. B. Arbeitnehmer oder Arbeitgeber, in einer Interessengruppe organisiert ist. Strategiefähigkeit beschreibt die Durchsetzungsfähigkeit einer Interessengruppe im politischen Willensbildungsprozess (Streeck 1992; Thelen 2012). Zu den gesellschaftlichen Akteuren gehören zudem weitere Verbände und Vereine, die am Willensbildungsprozess teilnehmen, sowie soziale Bewegungen und schließlich die öffentliche Meinung.

Willensbildung

Andrew Moravcsik vertrat die These, dass Regierungen in ihrer Außenpolitik jeweils diejenige Position verträten, die sich im innenpolitischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess durchsetzen konnte (Moravcsik 1993; 1997). In seinen empirischen Arbeiten zeigte er, wie die jeweils durchsetzungsfähigsten Interessen die Regierungen der größeren europäischen Staaten dazu brachten, die Europäischen Gemeinschaften zu gründen und die europäische Integration bis hin zur Bildung der Europäischen Union durch Vertragsreformen zu vertiefen (Moravcsik 1991; 1998; Moravcsik/Nicolaidis 1999). Er sah allerdings keine Möglichkeit, diese Durchsetzungsfähigkeit allgemein zu bestimmen. Sie müsse vielmehr für jede außenpolitische Einzelfrage empirisch festgestellt werden.

Spektrum von Positionen

Um allgemeine theoretische Aussagen jenseits des Einzelfalls zu ermöglichen, ordnete Robert Putnam (1988) die Positionen von Staaten auf einem gemeinsamen räumlichen Spektrum an. Er wollte zwei Fragen beantworten:

1. Kommt zwischen Staaten Kooperation zustande oder nicht?

2. Wenn eine Kooperation zustande kommt, welcher Staat setzt sich mit seinem Standpunkt eher durch?

Abb. 2.2 | Distanz als Kooperationshindernis


Quelle: Putnam (1988).

Winset und Overlap

Kooperationshindernis Distanz

In Abbildung 2.2 verhandeln die Staaten A und B miteinander, um eine Kooperationsvereinbarung abzuschließen. Die Distanz zwischen den beiden Idealpositionen von A und B ist das räumliche Spektrum, von dem bereits die Rede war. Regierungen legen fest, wie weit sie bereit sind, der jeweils anderen Seiten entgegenzukommen, d. h. von ihren eigenen Idealvorstellungen abzurücken. Die Spanne der möglichen Konzessionen eines Staates auf diesem Spektrum wird Winset genannt. Die maximal möglichen Konzessionen sind durch die eckigen Klammern und die Bezeichnung Amax bzw. Bmax gekennzeichnet. Dabei sind zwei denkbare Möglichkeiten zu unterscheiden: Situation X (schwarze Klammern und Doppelpfeile) und Situation Y (blaue Klammern und Doppelpfeile). In der Situation X sind Staat A und Staat B nur in geringem Umfang konzessionsbereit. Daher verfügen sie nur über ein kleines Winset Ax bzw. Winset Bx. Beide Winsets überschneiden sich nicht. Dies bedeutet, dass zwischen A und B keine Übereinkunft, d. h. keine Kooperation möglich ist, weil ihre Positionen zu weit auseinanderliegen. Diese große Distanz ist das entscheidende Kooperationshindernis. Putnams erste Frage kann in der Situation X mit »nein« beantwortet werden.

Definitionen

Winset und Overlap

Unter Winset versteht man die Spanne der Konzessionen, die ein Staat gegenüber anderen Staaten machen kann. Sie wird begrenzt durch die Notwendigkeit, internationale Übereinkünfte innenpolitisch ratifizieren zu müssen.

Ein Overlap ist der Bereich, in dem sich die Winsets von Staaten überschneiden. Dieser Bereich bildet die Gesamtmenge gemeinsamer Positionen.

In der Situation Y sind Staat A und Staat B dagegen sehr konzessionsbereit. Sie verfügen über große Winsets, die bis zu den Klammern Ay-max und By-max reichen. Dabei wird deutlich, dass sich die beiden Winsets Ay und By in der Zone des Overlap überschneiden. In ihr ist eine Übereinkunft – eine Kooperation zwischen A und B – möglich. In der Situation Y lautet die Antwort auf Putnams erste Frage deshalb »ja«. Allgemein kann festgehalten werden: Große Winsets erhöhen die Wahrscheinlichkeit von internationaler Kooperation, kleine Winsets verringern die Kooperationswahrscheinlichkeit.

Ratifikation

Warum sind in internationalen Beziehungen teils Situation X teils Situation Y zu beobachten? Die Antwort des Liberalismus: Die Konzessionsbereitschaft von Regierungen hängt von der Innenpolitik ab. Regierungen sind darauf angewiesen, dass ihre Übereinkünfte mit anderen Staaten »zu Hause« auf Zustimmung stoßen. In Demokratien ist diese Zustimmung oftmals sogar in einem formalen Sinn erforderlich, denn die Legislativen müssen die internationalen Übereinkünfte (Verträge) der Regierungen (Exekutiven) »ratifizieren«, d. h. mit Mehrheit bestätigen. Aber auch in Diktaturen gibt es meistens politische Gremien, die ihre Zustimmung zu internationalen Übereinkünften erteilen müssen. Wenn eine Regierung in den internationalen Verhandlungen zu weitgehende Konzessionen gemacht hat, wird das Verhandlungsergebnis zu Hause nicht ratifiziert. Die Übereinkunft kann nicht in Kraft treten. Aus diesem Grund müssen Regierungen entweder antizipieren oder durch Befragen der Akteure, die der Ratifikation zustimmen müssen, ermitteln, wie konzessionsbereit sie in Verhandlungen sein können. Mit anderen Worten: Die Größe eines Winsets wird von denjenigen innenpolitischen Akteuren festgesetzt, deren Zustimmung zur Ratifikation einer internationalen Übereinkunft notwendig ist.

Stärke kleiner Winsets

Damit kann auch die zweite Frage von Putnam beantwortet werden: Kommt es zwischen Staaten zu Überschneidungen der Winsets, so wird sich derjenige Staat überwiegend mit seiner Position durchsetzen, der das kleinere Winset hat. Staaten mit großen Winsets müssen dagegen weiter gehende Konzessionen machen als Staaten mit kleinen Winsets. In diesem Fall sind die Winsets unterschiedlich breit. Wenn sie jedoch gleich breit sind, so setzt sich keine Seite stärker durch als die andere.

Minimale Mehrheitskoalition

Um die Größe der Winsets genau bestimmen zu können, benutzen liberale Denker die Theorie der minimal notwendigen Mehrheitskoalition von William Riker (Riker 1962). Sie besagt, dass Akteure Koalitionen bilden, die aus der Anzahl von Akteuren besteht, die minimal notwendig ist, um eine Mehrheit zu bilden.14 Diese Theorie wird auf die Darstellung in Abbildung 2.2 übertragen, indem man die Akteure gemäß ihrer Konzessionsbereitschaft auf dem räumlichen Spektrum anordnet. Der konzessionsbereiteste Akteur des Staates A wird am nahesten zu Staat B platziert, der zweit-konzessionsbereiteste links daneben usw. Hat man alle Akteure gemäß ihrer Konzessionsbereitschaft auf diesem Spektrum eingetragen, so kann man denjenigen Akteur ermitteln, dessen Zustimmung gerade noch erforderlich ist, damit eine notwendige Mehrheit für die vereinbarte Übereinkunft zustande kommt. Dieser Akteur verfügt über die zur minimalen Mehrheitsbildung letzte notwendige Stimme und ist daher der Dreh- und Angelpunkt (englisch: pivot). Seine Position auf dem Spektrum entspricht genau der Position Amax des Winsets von Staat A. Links von Amax kommen zwar weitere Mehrheiten zustande, die jedoch nicht mehr nur minimal, sondern größer als unbedingt erforderlich sind. Dasselbe Verfahren zur Winset-Bestimmung kann man für Staat B benutzen.

Dreh- und Angelpunkt

Aufgrund dieser Überlegungen kann man die Antwort auf Putnams zweite Frage weiter präzisieren: Wenn zwischen den Winsets ein Overlap besteht, so wird sich derjenige Akteur mit seiner Position durchsetzen, der den Dreh- und Angelpunkt bildet, weil seine Stimme den Ausschlag dafür gibt, dass eine Mehrheit zustande kommt (Milner 1997).

Einfluss der Exekutiven

Können sich also Regierungen (Exekutiven) mit ihren eigenen Positionen gar nicht durchsetzen, sondern sind vollkommen abhängig vom Akteur des Dreh- und Angelpunktes? Die Antwort ist »nein«. Regierungen führen die Verhandlungen mit anderen Staaten und entscheiden, ob sie eine Übereinkunft abschließen wollen oder nicht. Dies bedeutet: Auch die Exekutive muss der Größe und der Platzierung des Winsets auf dem Spektrum von Abbildung 2.2 zustimmen und kann deshalb zum Dreh- und Angelpunkt werden, denn auch ihre Zustimmung ist erforderlich, damit die Ratifizierung erfolgt. Ist die Konzessionsbereitschaft der minimalen Mehrheitskoalition der Legislative größer als die der Exekutive, so bildet die Position der Exekutive den Dreh- und Angelpunkt. In diesem Fall setzt sich die Position der Exekutive durch, wenn eine Kooperation zustande kommt. Die konzessionsbereitere Legislative kann keinen Einfluss auf die zwischenstaatliche Übereinkunft mehr ausüben. Dies bedeutet, dass die minimale Mehrheitskoalition der Legislative nur dann Einfluss auf die Übereinkunft zwischen Staaten ausübt, wenn sie weniger kooperationsbereit ist als die Exekutive (Meunier 2000; Milner 1997).

Helen V. Milner und Peter Rosendorff (Milner 1997) haben diese Modellbildung des Liberalismus weiter verfeinert. Sie weisen noch auf die Bedeutung von Interessengruppen hin sowie auf das, was passiert, wenn nicht alle beteiligten Akteure über das gleiche Maß an Informationen verfügen. Diese sehr wichtigen Überlegungen können hier jedoch nicht weiter ausgeführt werden.

Zusammenfassung

Liberalismus

Staaten sind keine einheitlichen Akteure. Ihre Außenpolitik hängt maßgeblich davon ab, welche Bedürfnisse von Individuen und Gruppen in der Gesellschaft vertreten werden. Diese Bedürfnisse werden durch einen Willensbildungsprozess zu staatlichen Präferenzen verarbeitet. Die Regierung vertritt diese Präferenzen nach außen. Ob es zwischen Staaten zu Kooperation oder Konflikt kommt, hängt deshalb davon ab, wie groß die Distanz zwischen den staatlichen Präferenzen ist und ob diese sich überschneiden oder nicht. Große Winsets erhöhen die Wahrscheinlichkeit internationaler Kooperation, kleine Winsets verringern diese Wahrscheinlichkeit.

Wenn eine Kooperation zustande kommt, setzen sich Staaten mit kleinen Winsets gegen Staaten mit großen Winsets durch. Größe und Lage der Winsets auf einem Spektrum hängen von demjenigen Akteur ab, dessen Zustimmung zu einer notwendigen Mehrheit gerade noch notwendig ist. Dieser Akteur bildet den Dreh- und Angelpunkt auf dem Spektrum. Seine Position bestimmt maßgeblich den Inhalt einer zwischenstaatlichen Übereinkunft.

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