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1.3.1 Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827)

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In einigen der nächsten Unterkapitel werden wir ausführen, dass und mit welcher Inhaltlichkeit der Begriff Sozialpädagogik vor der Mitte des 19. Jahrhunderts aufkommt (1.3.5 & 1.3.3). Zu dieser Zeit lebte Pestalozzi bereits nicht mehr. Trotzdem führen wir ihn als ersten Vertreter eines theoretischen Entwurfes der Sozialpädagogik in der Sozialen Arbeit an, weil seine Aussagen über die Erziehung des Menschen und die „Entwicklung des Menschengeschlechtes“ von hoher sozialpädagogischer Bedeutung sind.

Eine von Pestalozzis Grundideen ist die von der „Individualbestimmung“ des Menschen. Er ist der Auffassung, „dass jeder Einzelne von seinem Standort und mit seinen Gaben das letzte und höchste Ziel der Bildung erreichen könne, dass darin die Sicherheit des Lebens begründet sei, und dass sich hierin seine „Natur“ Bestimmung vollende“ (DELEKAT 1926, S. 117f.). Seine Naturbestimmung ist es, einen Beitrag zu leisten zur Entwicklung des Menschengeschlechtes. „Für Pestalozzi war der Mensch die Hauptsache, aber auch nicht der einzelne Mensch aus diesem oder jenem Grunde. Er hat die armen Kinder ... nicht deshalb lieb, weil sie bedürftig waren ... sondern deshalb, weil er in ihnen die unverdorbenen Repräsentanten der Menschheit sah. Denn seine Liebe ging, so absonderlich das klingen mag, auf das ganze Geschlecht. Und darin liegt nun das geheimnisvolle Rätsel, dass der Einzelne geliebt wird und doch merkt, dass etwas anderes gemeint ist“ (DELEKAT 1926, S. 59). Gemeint ist: mit dem einzelnen und durch ihn die Beförderung des Menschengeschlechtes in einen höheren Zustand der Sittlichkeit.

Pestalozzi geht von drei möglichen Zuständen aus, die den Menschen in sittlicher Hinsicht kennzeichnen: Im Kampf aller gegen alle sieht er den tierischen Zustand. Als die nächsthöhere Ebene betrachtet er den gesellschaftlichen Zustand, in welchem Gesetze den chaotischen Kampf aller gegen alle eindämmen. Grundlage dieser Art des Zusammenlebens ist der egoistische, wenn auch gegenseitige Vorteil von Begrenzung der jeweils anderen und ihrer einforderbaren Unterstützung. Als Zielvorstellung gilt der sittliche Zustand; in ihm wird es dem einzelnen möglich, aus freiem Selbstentscheid über das Naturhafte hinaus das zu tun, was aus sittlichen Gründen sein soll (vgl. RUSS 1963, S. 77f.).

Gesellschaftliche Zustände sind insofern in jedem einzelnen zu überwindende, vorläufige und sittlich unvollkommene Zustände. Damit bedeutet Erziehung des Menschen immer auch kritische Distanz zur gesellschaftlichen Realität. Man kann den Gedankengang Pestalozzis als durch und durch sozialpädagogisch betrachten: Die Erziehung des einzelnen zielt auf die Entwicklung der Menschheit durch fortgesetzte Behebung gesellschaftlicher Vorläufigkeiten und Unvollkommen-heiten.

Es gibt zwei weitere Argumentationslinien von eindeutig sozialpädagogischem Charakter. In beiden handelt es sich um eine Anwaltschaft für die Benachteiligten der Gesellschaft: In der Gedankenführung geht es um uneingeschränkte Beteiligung aller an emanzipatorischer Bildung und Befreiung von wirtschaftlicher Abhängigkeit. „Die Bedeutung, die Pestalozzi jedem individuellen Bildungsvorgang unabhängig von speziellen Behinderungen und gesellschaftlicher Benachteiligung beimisst, begleitet alle seine konkreten Erziehungsbemühungen; sei es, dass er in Neuhof sich intensiv um die Erziehung eines schwer geistig behinderten Mädchens kümmert (vgl. BESCHEL 1965, S. 52f.), sei es seine lebenslange Liebesmüh um die armen Kinder. Ihre Armut verstand er als besondere erziehliche Chance, ohne Vorstellungen von unnützem gesellschaftlichem Tand und Stand, die Bereitschaft zu wecken und Fertigkeiten zu üben, ein selbstbestimmtes und selbsterhaltendes Leben in Freiheit zu führen. Pestalozzis Postulat, jedem Menschen die Möglichkeit zu geben, durch nutzbringendes Tun sich selbst als wertvolles Mitglied der Gesellschaft fühlen zu können, hat für heutige Sonder- und Sozialpädagogik nichts an Aktualität eingebüßt“ (BUCHKREMER 1990, S. 61).

Der andere anwaltliche, ebenfalls sozialpädagogische Argumentationsstrang nimmt die in Schutz, die unter dem Druck der gesellschaftlichen Verhältnisse in Kriminalität und Schuld geraten.

Obwohl er selbst unzweifelhaft von größter Liebe zu Kindern erfüllt war, nimmt er in seiner Abhandlung „Über Gesetzgebung und Kindermord“ (1780) die ledigen Mütter in Schutz vor einseitiger Schuldzuweisung, wenn sie aus Verzweiflung wegen der drohenden gesellschaftlichen Vernichtung ihrer moralischen und wirtschaftlichen Existenz den schrecklichen Ausweg der Kindestötung wählen. Mutig und unwahrscheinlich modern wirkt seine Anklage der Mitschuld von Obrigkeit und Gesetzgebung.

Gemeinsam mit Heil- und Sonderpädagogik kann die Sozialpädagogik Pestalozzi als einen ersten Begründer ihrer Disziplin ansehen:

 Überzeugend bringt er das Spannungsverhältnis von individualer und sozialer Erziehung zur Synthese durch den Zielpunkt des sittlichen Zustandes von Einzelmensch und Menschengeschlecht.

 Anwaltlich verteidigt er die ungerecht Ausgestoßenen und damit an der Entwicklung ihrer Sittlichkeit Verhinderten.

 In philosophischer wie in praktischer Hinsicht übt er Kritik an Staat und Gesellschaft.

Handbuch Sozialpädagogik

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