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1. 3. 20 Gertrud Bäumer (1873–1954)

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Bäumer kommt das Verdienst zu, dem Gedankengut sozialpädagogischer Theorie zu verstärkter politischer Wirksamkeit verholfen zu haben. Sie macht mit der politischen Verantwortung der Sozialpädagogik ernst – wie wir es vorbildlich bereits bei Klumker gesehen haben. Während der gesamten Weimarer Zeit (1919–1933) war sie politisch verantwortlich, und zwar als Ministerialrätin im Reichsinnenministerium, als Vorsitzende des interkonfessionellen Bundes deutscher Frauenvereine und als Reichstagsabgeordnete. Damit leistete Bäumer vor allem im Bereich sozialfürsorgerischer und -pädagogischer Gesetzesentwicklung und Administration Praktisches im Sinne der praktischen Dimension. Darüber hinaus sind es aber auch theoretisch systematische Leistungen, die sie für eine Berücksichtigung in diesem Rahmen qualifizieren.

Als Mitarbeiterin Nohls (1. 3. 22) zeichnet sie verantwortlich für wesentliche Teile des „Bandes V Sozialpädagogik“ in dem von NOHL/ PALLAT (1929) herausgegebenen „Handbuch der Pädagogik“.

Ihre Fähigkeit, Sozialpädagogik auf Praxis hin zu betreiben, zeigt sich in der Definition, die sie zu Beginn des obengenannten Handbuches gibt: „Im Aufbau dieses Buches ist der Begriff Sozialpädagogik in einem ganz besonderen Sinn gebraucht. Er bezeichnet nicht ein Prinzip, dem die gesamte Pädagogik, sowohl ihre Theorie wie ihre Methoden, wie ihre Anstalten und Werke – also vor allem die Schule – unterstellt ist, sondern einen Ausschnitt: alles was Erziehung, aber nicht Schule und nicht Familie ist. Sozialpädagogik bedeutet hier den Inbegriff der gesellschaftlichen und staatlichen Erziehungsfürsorge, sofern sie außerhalb der Schule liegt“ (BÄUMER 1929, S. 3).

Hatten Mager, Diesterweg, Natorp und Willmann im Ringen um die Spannung des Erzieherischen zwischen Individualität und Sozialität ihre Theorieansätze gesucht, so definiert Bäumer die sozialpädagogische Aufgabe von der praktischen, gesellschaftlichen und staatlichen Bedürfnislage her.

Damit findet eine Weichenstellung statt, mit der für lange Zeit die sozialpädagogische Diskussion um die seit Mager immer wieder behauptete gesamtgesellschaftliche Zuständigkeit abgekoppelt wurde.

Gertrud Bäumers definitorische Entscheidung trifft die Sozialpädagogik allerdings nicht ganz unvorbereitet. Mit Tews’ Augenmerk auf die institutionellen „Not- und Aushilfeinstitute“ (TEWS 1900, S. 15), durch Fischers Zuwendung zur Milieuproblematik der Erziehung und ihrer sozialpädagogischen Beantwortung (FISCHER 1932) war das Thema der sozialpädagogischen Subsidiarität für die Benachteiligten bereits schwerpunktmäßig artikuliert worden. In Nohls Auffassung einer politisch und sozialpädagogisch zu bewirkenden Wohlfahrt wird es ebenfalls und vor allem für die verwahrloste und kranke Jugend prononciert.

Bäumer steht in dieser Tradition und führt sie konsequent, allerdings zugleich einschränkend, fort. Nicht, dass sie damit den aus der prinzipiellen sozialpädagogischen Theorie und Anthropologie abgeleiteten Grundsätzen ihre Bedeutung nahm. Erhalten bleibt der Hintergrund der theoretischen Diskussion insofern, als ihre Ergebnisse als Leitlinien in die pragmatisch definierte Sozialpädagogik eingehen, ohne jedoch weiterhin der Sozialpädagogik selbst die Federführung einer pädagogischen Anthropologie und Ethik zuzugestehen.

Die pragmatische Sicht Bäumers tritt auch in ihrer historischen Betrachtung der sozialpädagogischen Entwicklung zu Tage; rein deskriptiv, damit aber auch akzeptierend und nicht wertend, wie wir es bei Tews gelesen haben, stellt sie fest: „Die öffentliche Erziehungsfürsorge entstand gewiss zunächst als Nothilfe ... Dann aber entwickelte sich auch auf diesen Gebieten erziehlicher Tätigkeit außerhalb der Schule ein neues System mit einem neuen Träger, dem normalerweise – und nicht nur ausnahmsweise – gewisse Leistungen in dem Ganzen der von Familie, Gesellschaft und Staat getragenen Bildung des Nachwuchses zufielen. Mit dieser Entwicklung änderten sich dann auch Auffassung, Wesen und Methode der sozialen Erziehungsfürsorge“ (BÄUMER 1929, S. 3f.).

Bäumer und ihre Koautoren im Band V des Handbuches benennen drei Zuflüsse, aus denen der Strom der Sozialpädagogik als dritter Erziehungsbereich neben Familie und Schule gespeist wird:

1 die sozialpädagogisch beeinflusste Reform des Familienrechtes durch das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz von 1922,

2 die fürsorgeerzieherische Nothilfe als Antwort auf die akuten Notlagen der Zeit mit ihrer Ausweitung zu prophylaktisch wirksamen Festangeboten der Säuglingsfürsorge, des Kindergartens und der Jugendpflege,

3 die Erziehungshilfe bei Fehlentwicklungen oder zu ihrer Verhinderung mit den Einrichtungen der heilpädagogischen Anstalten, den neu entstehenden Erziehungsberatungsstellen, den Fürsorgeerziehungsheimen sowie im Rahmen der Kriminalpädagogik.

Der Zuschnitt, den Bäumer der Sozialpädagogik gewissermaßen als feldbezogene Handlungswissenschaft „verpasst“, hätte durch Konzentration auf das Machbare einen Fortschritt für gesellschaftliche Praxis und Politik erbringen können. Leider konnte aufgrund der Ausschaltung Bäumers wie auch Nohls durch die Machthaber des Dritten Reiches nicht einmal das Erreichte gehalten werden. Wie ein Bulldozer ebnete die nationalsozialistische „Staatspädagogik“ die mit ihren klassischen Vertretern so auf kritischen und erneuernden Abstand bedacht gewesene Sozialpädagogik ein.

Handbuch Sozialpädagogik

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