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1.3.6 Adolf Kolping (1813–1865)
ОглавлениеKolping wird 1813 als Kind einer Landarbeiterfamilie in Kerpen, einem Dorf bei Köln, geboren. Wegen der Armut seiner Eltern bleibt ihm ein höherer Bildungsweg verschlossen und er wird Schuhmacher. Von 1829–1837 übt er nach der Lehre seinen Beruf als Schustergeselle aus. Durch Unterstützung befreundeter Lehrer und Priester wird ihm die Möglichkeit zu neuem Schulbesuch und Abitur gegeben. Danach studiert er Theologie und kommt 1845 als Kaplan nach Elberfeld. Hier engagiert er sich in dem „Katholischen Gesellenverein“, der gerade von dem Lehrer Johann Gregor Breuer und einigen Handwerksgesellen gegründet worden war.
Diese Erstgründung wird für Kolping das Modell für sein Lebenswerk: Nach seinem Weggang von Elberfeld gründet er 1849 in Köln einen Ableger des Gesellenvereins, der als „Rheinischer Gesellenbund“ bald über Köln hinaus wirksam wird und sich 1851 in Mainz bei der Versammlung der deutschen Katholiken – umbenannt in „Katholischer Gesellenbund“ – dem Anschluss anderer Vereine öffnet. Beim Tode Kolpings existierten über 400 Ortsvereine mit 24.000 Mitgliedern. Diese waren nach Zielsetzung des Gesellenvereins vornehmlich junge Männer ab 18 Jahren, die dem Handwerkerstande bzw. der Fabrikarbeiter- oder frühen Facharbeiterschaft angehörten. Der Gesellenverein bot ihnen, den oft durch Arbeitsmigration isoliert von Herkunftsfamilien und Heimat lebenden Individuen, Räume, Bildungs- und Freizeitangebote zu einer solidarischen und familiären Gesellung als Schutz gegen Vereinzelung und Verwahrlosung.
Bei Kolping lesen sich die Beschreibung des Adressatenkreises und die gewünschte Atmosphäre des Umganges folgendermaßen: „Aus allem, was wir bisher mitgeteilt, geht hervor, welchem Stande und welchem Alter unsere Sorge gilt. Es ist der ledige Handwerkerstand, der Gesellenstand, der den Junggesellenstand gleichen Alters nicht ausschließt. Das Alter und die Umstände dieses Alters müssen bei der Zusammensetzung des Vereins durchaus berücksichtigt werden. Der Verein soll für die Mitglieder ein Familienhaus sein, in dem sie gewissermaßen ihre Familie, gleichgesinnte und gleichberechtigte Freunde, wiederfinden und mit ihnen in inniger, freundschaftlicher Weise zusammenleben, Freud und Leid gemeinschaftlich austauschen und in gemeinsamer Verbrüderung den Grund ihres künftigen Fortkommens legen, den begonnenen Bau ihres Lebensglückes weiter führen und nach Umständen vollenden sollen. Das Vereinsleben erfordert also eine große Vertraulichkeit der Mitglieder untereinander. Diese ist aber eine notwendige Bedingung seines geistigen Wachstums; eine Voraussetzung, ohne welche sein eigentlicher Zweck nicht erreicht wird“ (KOLPING 1921, S. 23).
Was macht den katholischen Priester Kolping zu einem großen Sozialpädagogen, dem wir neben einem bewundernswerten institutionellen und praxisorientierten Lebenswerk auch bedeutsame theoretische Ansätze verdanken?
Seine praktischen Mittel und Methoden wirken sozialpädagogisch modern: Da ist zum einen sein Bemühen um die Bereitstellung von Räumen für die Gesellenarbeit. Schulen akzeptiert er nur als vorübergehende Notlösungen; Wohnraum- und Freizeitraumcharakter sollen die Häuser des Gesellenvereins haben. Das Theorem von der Raumbezogenheit der Sozialpädagogik (1.2.1) nimmt Kolping auf diese Weise handelnd vorweg: „Ohne Freude, ohne Erheiterung kann das Menschenherz nicht sein, am wenigsten in der Jugend; im Vereinsleben gebührt ihr eine wesentliche Stelle. Wie es völlig verkehrt wäre, den Verein bloß zur Unterhaltung, zum gemeinsamen Vergnügen herzurichten, so wäre es eben so verkehrt, wollte man der Erheiterung keinen Raum und nicht genug Raum gönnen. Wer eine ganze, lange Woche zwischen vier engen Wänden, meist in Schmutz und Staub gesessen, oft in einer Kameradschaft, die nichts weniger vermag, als ein Herz zu erfreuen, oft in einer Umgebung, die Tag aus, Tag ein mit Sorgen, Kummer und Not ringt, wer eine ganze Woche lang Luft und Licht entbehrte und der süßen Freude an Himmel und Land, an fröhlichen, heiteren Menschengesichtern beraubt war, der kann und soll auch am Sonntage, oder in einer freien Abendstunde Anspruch auf Erholung, auf anständige Erfreuung machen dürfen. ... Soviel es nur immer tunlich, sollen im Vereinslokale gemeinsame Feste und Erheiterungen stattfinden; oft die Gelegenheit ergriffen werden, mit Gesang, Scherz und Spiel eine Stunde auszufüllen“ (ebd., S. 30).
Neben dem Angebot des Raumes als sozialpädagogisches Prinzip und Methode gibt es in Kolpings Praxisbezug noch eine höchst moderne Attitüde: Sein Ansatz lässt sich als „erfahrungsbezogen“ bezeichnen, wie BELARDI (1975) die Jugendbildungsarbeit der 70er Jahre verstanden wissen will. KOLPING formuliert mehr als 100 Jahre vorher: „Man kann doch nur das mit Erfolg pflegen, bessern und erziehen, was man zunächst gründlich kennt, also müssen zunächst die Verhältnisse, die Bildungsstufe und Bildungsfähigkeit des Gesellen, dann seine wahrscheinliche Zukunft genau erwogen und gebührend berücksichtigt werden“ (nach KRACHT 1977, o. S.). Noch deutlicher heißt es an anderer Stelle: „Nützliche Kolloquien mit den Burschen werden … in das innere Leben dieser Klasse einführen und … den zu behandelnden Stoff an die Hand geben“ (ebd., o. S.).
Nun zu Kolpings theoretischem Konzept, dessentwegen wir ihn in die Riege der inzwischen klassischen Theoretiker aufgenommen haben:
Kolpings Theorie ist zutiefst metaphysisch-theologisch, letztlich damit metatheoretisch begründet. Er geht aus von der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Hiervon leitet er ab einen konsequenten Respekt vor dem Menschen, in seinem Arbeitsfeld vor seinen Gesellen als einzelne, die in die Freiheit ihrer Entscheidung und Selbstwerdung gestellt sind. Bildung begreift er als die je und je zunehmende aktive Entwicklung der Gottebenbildlichkeit. Sie wird gewährleistet im Dreiklang von Beten – Lernen – Arbeiten. Pointiert fügt er dabei dem „Ora et Labora!“ des Benedict von Nursia (480–547) das Lernen als dritten Ton des Akkords zu.
Zum Bildungsprozess, insbesondere zu dem fortwährenden Lernprozess, soll den Gesellen ein geeignetes Angebot gemacht werden. Dabei geht es Kolping nicht um reines Fachwissen – und auch nicht um Wissen im Sinne des humanistischen Bildungsideals. Ähnlich wie in der Reformpädagogik Kerschensteiners oder wie der nachfolgend in unserer Reihe aufgeführte Anton Heinen (1. 3. 18) will er das Lernen und Wissen mit den Lebenswelten seiner Gesellen verknüpfen; seine Methode der Erfahrungsbezogenheit findet insofern in der theoretischen Annahme des Eigenwertes dieser Lebenswelten ihre Entsprechung. Und Wissenschaft wird relativiert zum Hilfswerk für Wissen und Bildung. Alleinige Quelle des Wissens zu sein, mit dem Anspruch der Lösbarkeit aller Probleme, spricht Kolping der Wissenschaft ab. Für die Erziehung wird ihre Relativität in folgenden Sätzen deutlich: „Erziehung ist Leben und setzt Leben voraus; ... und wenn auch das Leben Gesetze hat und Sätze draus folgen, so sind alle diese Sätze und Gesetze, Regeln und Formeln das Leben noch nicht“. Oder: „Wenn wir auf deren (der Wissenschaft) Endurteil und zuverlässigen Bescheid warten wollen, bis wir die Grundlage für die rechte Erziehung finden, dann läuft die Menschheit noch eher auf allen vieren, und stürzt das Himmelsgewölbe ein, bevor wir mit einem einzigen Satz auf dem Reinen sind“ (ebd., o. S.).
Erziehung und Bildung sind einmalige, individuelle, letztlich eben Gott ebenbildliche Prozesse, die die Allgemeinheit, Abstraktheit und Unvollständigkeit wissenschaftlicher Begründungen und Erklärungen übersteigen.
Aber der Wert des individuellen Menschen geht bei Kolping nicht in einer Individuallage auf, sondern im Kontext des solidarischen und geselligen Miteinanders.
Wir haben aufgeführt, wie Kolping dem einzelnen Autonomie zugesteht bei Gestaltung und Entscheid über den eigenen Bildungsprozess, z. B. über die Teilnahme am Bildungsangebot, ja sogar über die Ausübung religiöser Pflichten (vgl. KOLPING 1921, S. 27ff.).
Dem entspricht für die Solidargruppen der Gesellenvereine deren Anerkenntnis als selbstständige Selbsthilfegruppen, für die Präses und Kurslehrer nur subsidiäre Raum-, Bildungs- und Freizeithilfe leisten. Dass die Anerkenntnis der Selbstständigkeit der Gesellen ernst gemeint war, zeigt das hohe Maß an Beteiligung an den Führungsgremien des Gesellenvereins. Und ähnlich wie Wichern wollte Kolping die Kraft der Selbsthilfe durch die Gründung vereinsinterner Kranken- und Sparkassen in Form von Solidargesellschaften auch auf wirtschaftliche Füße stellen.
Erstaunlich bis paradox wirkt in diesem Zusammenhang, dass die Statuten des Gesellenvereins eine politische Betätigung von Vereinsmitgliedern streng untersagen. War doch Kolping selbst durchaus ein politischer Mensch, wenn man hier Gesellschaftspraxis im aristotelischen Sinne versteht; dies nicht nur, indem er mit der Gründung des Gesellenvereins selbst ein Politikum schuf, sondern auch durch öffentliche Stellungnahmen, z. B. zu sozialen Fragen oder zum Verhältnis der Arbeitgeber zu den Arbeitnehmervereinigungen. Zur sozialen Frage lautet Kolpings Klartext, dass diese „nicht in Gnade und Barmherzigkeit sondern in Gerechtigkeit gelöst (werde). Das soziale Leben in allen seinen Verzweigungen ruht auf dem richtigen Recht und soll in den entsprechenden Gesetzen seinen wahren Schutz und seine Wehr finden“ (nach KRACHT 1977, o. S.).
„Bei einer Versammlung der Prominenz der sozialen Katholiken Frankreichs im Mai 1853 in St. Sulpice entwickelte Kolping seine Auffassung, der Unternehmer dürfe in den Arbeiterverbänden keinen Einfluss erhalten. Die Selbstständigkeit des Arbeiters, die er gerade fördern wollte, würde sonst schon im Ansatz erstickt“ (ebd., o. S.).
Trotz also Kolpings eigener, solcherart eindeutiger politischer Stellungnahmen auch im engeren Sinne der Gesellschaftspolitik, verbieten die Statuten seines Gesellenvereins politische Aktivitäten jedweder Art. Es ist bis heute dieser Widerspruch zwischen theoretischem, aber auch nachweislich realisierter Hochschätzung der Selbstständigkeit der Gesellen und ihrer Vereine dem Verbot ihrer politischen Betätigung nicht ganz nachvollziehbar. Soviel zum Solidarcharakter der von Kolping gewollten Gesellenvereinigungen sowie ihrer politischen Beschränkungen.
In Hinsicht auf eine im engeren Sinne ästhetische, emotionale, gefühl- und genussvolle Geselligkeit hat Kolping für seine Gesellenvereine ein sozial kommunikatives Konzept.
Eine große Nähe zu der von Dänemark ausgehenden Volkshochschulbewegung ist unverkennbar3. Die dänische Volkshochschule verstand sich nämlich – und darin gleicht ihr Kolpings Bildungswerk – als eine Bewegung, die gerichtet ist gegen „die schwarze Schule“, „die Schule des Todes“ – wie Nattermann die humanistische Schule nennt (vgl. KOLPING 1921, S. 10f.). „In seiner Vorrede zu der ‚Großen Mythologie’, … rollte Grundtvig das Problem der Volksbildung im Gegensatz zur Gelehrtenschule auf. ‚Das gelehrte Studium wird besonders bei den eigentlichen Buchgelehrten in falsche Bahnen führen, wenn ihm keine Volksbildung gegenübersteht, die es zwingt, das Leben der Gegenwart und den Augenblick in Betracht zu ziehen, gleichwie die Volksbildung bald zu einer oberflächlichen Politur ausarten wird, wenn das gelehrte Studium ihr nicht immer wieder neuen Geist zuführt.’ Diese Volksbildungsarbeit soll eine selbstständige, in sich geschlossene Bildung vermitteln. Eine Lebensschule soll sie sein, um nützliche Bürger heranzuziehen. Wurde auch der Elementarunterricht in den meisten Volkshochschulen fortgesetzt, um die Schulkenntnisse aufzufrischen und zu erweitern, so sollte jedoch das Ziel der Schule dadurch erreicht werden, dass die Persönlichkeitsausgestaltung in jedem Schüler angeregt und diese mit den nationalen Gemeinschaftsgedanken erfüllt würde. Alles Wissen sollte innerlich verarbeitet werden zum Aufbau einer festen Weltanschauung in jedem Schüler“ (GRUNTVIG zitiert nach Kolping ebd., S. 11).
Ebenso hätte Kolping reden oder schreiben können. Er tut es expressis verbis, wenn er den Gesellenverein zum „Ausbau zur ‚Volksschule’“ bestimmt (vgl. KOLPING 1921, S. 33ff.): Auch er ist bemüht, das Gemüthafte und Ästhetische in seiner Bildungsarbeit als Musik, Kunst(handwerk), Glaubenslehre und Feier gleichberechtigt neben die fachliche Wissensvermittlung zu stellen. Das Volkstümliche behält so Geltung und Wert.
Und doch wird auch dieses nicht volkstümelnd abgegrenzt, sondern wie der einzelne im solidarischen Miteinander, so das lokal, volkstümlich und national Besondere aufgehoben in einem Weltzusammenhang, der für Kolping katholisch ist. Authentisch liest sich das so: „Wogegen wir nur aus allen Kräften uns erklären müssten, wäre das Betonen einer bestimmten Nationalität im Vereine, und zwar in dem Sinne, dass dadurch das allgemeine brüderliche Band gelockert oder endlich gar zerrissen würde. Wir respektieren jedes gute Recht, aber das erste Recht bleibt uns der gemeinsame Glaube, der weit über alle Nationalitäten geht, und die gemeinsame katholische Liebe, die keinen Unterschied der Stämme und Völkerschaften kennt“ (nach KRACHT 1977, o. S.).
Fassen wir zusammen:
Kolping ist als Sozialpädagoge anzusehen in erster Linie, weil er, dem „Stande“ der (Jung-)Gesellen zugewandt, für Menschen einer bestimmten Lebenslage Volkserziehung – im Sinne Magers (1.3.5) die relative, deshalb zugleich „wirkliche“ Pädagogik der Sozialpädagogik – praktiziert, organisiert und gelehrt hat.
Sein theoretisches Konzept garantiert den Eigenwert des Einzellebens und der Einzelbildung, eine Vorwegnahme Nohlscher (1. 3. 22) Gedanken. Er sucht diesem Einzelleben Sinn zu geben in Solidarität, Verantwortung und Geselligkeit innerhalb selbstbewusster, sozialer Einbindungen. Diese wiederum entgrenzen sich in einer als katholisch verstandenen Weltgemeinschaft, „die keinen Unterschied der Stämme und Völkerschaften kennt“ (s. o.).
Kolping denkt in moderner Weise für das Individuum emanzipativ, für die Solidargemeinschaft subsidiär, bildungsmäßig wissenschaftskritisch ganzheitlich. Gesellschaftspolitisch äußert er sich selbst durchaus kritisch, verbietet jedoch – paradoxerweise – seinem Gesellenverein politische Aktivität.
Trotzdem: Kolping ist ein außerordentlich großer Sozialpädagoge, der eine überzeugende Theorie mit einer überzeugenden Praxis eigener Sozialpädagogik vor Ort, einer wirksamen Öffentlichkeitsarbeit als Autor und Redner verband und dazu ein großes, auf Solidarität ausgerichtetes institutionelles Netz von Gesellen- und Kolpinghäusern flocht und hinterließ.