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1.3.9 Samuel Augustus Barnett (1844–1913) und Henrietta Octavia Barnett geb. Rowland (1851–1936)

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Man kann das Szenario der europäischen Großstädte zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der heutigen Situation der Dritten Welt vergleichen. Armut und Arbeitslosigkeit zieht die Menschen in die aufwachsenden und sich aufblähenden industriellen Ballungsgebiete. Die Zuziehenden zwingt es in gettoartige Randbezirke. Ausbeuterische Arbeitsverhältnisse und Arbeitslosigkeit, unver-sicherte Arbeitsunfälle, unhygienische Abfall- und Fäkalienüberbordung, Kinder-reichtum und hohe Kindersterblichkeit, mangelnde medizinische Versorgung – sind Kennzeichen der Wohn- und Arbeitsverhältnisse der damals neuen industriellen Unterschicht. Zu ihnen kontrastieren die Lebensbedingungen der Wohlhabenden, deren Reichtum auf den unterschiedlichen und zugleich sich durchdringenden Grundlagen angestammten Besitzes, neuen Unternehmertums sowie kirchlich, politisch und bildungsmäßigen gesellschaftlichen Einflusses beruht.

Samuel Augustus Barnett ist Kind dieser Zeit. Er ist Sohn eines Gießerei-Unternehmers aus Bristol und genießt einen geordneten Bildungsgang, auf dem in Oxford Studien in Geschichte, Rechtwissenschaft und Theologie aufbauen. Nach seiner Ausbildung schlägt Barnett den Berufsweg des Seelsorgers ein. Dabei legt er seinen Schwerpunkt auf die wirtschaftliche, religiöse und bildungsmäßige Unterstützung der unterprivilegierten Arbeiter. Seine Klientel sowie seine christlichkaritative Ausgangsmotivation lassen sich vergleichen mit den Seelsorger- und „Menschensorger“-Kollegen Kolping (1.3.6) und Wichern (1.3.4), die mit einem Vorlauf von einigen Jahrzehnten die sozialen Verwerfungen in Deutschland zu steuern suchen, wie Barnett es in den 1870er Jahren in England unternimmt.

Ehe jedoch auf das bei aller Affinität auch spezielle Profil von Barnetts Arbeit eingegangen werden soll, ist das Augenmerk auf seine Frau Henrietta Octavia, geb. Rowland zu richten. Die beiden lernen sich im Rahmen freiwilliger sozialer Aktivitäten kennen. Nach nur kurzer Zeit heiratet Barnett 1873 die wie er selbst aus begütertem Hause stammende, sieben Jahre jüngere Henrietta. Diese hatte sich bis dahin als ehrenamtliche Hausbesucherin um bedürftige Familien und um Zuwendungen für diese aus privaten Spendenaufkommen bemüht. An der Seite ihres Mannes wirkt sie bei allen Initiativen als tatkräftige und sachkundige Expertin mit. Ihr spezielles Verdienst besteht darin, dass sie schon früh die Bildungs- und Sozialarbeit für Mädchen und Frauen in den Fokus der gemeinsamen Arbeit aufnimmt. Außerdem ist sie für das gemeinsame Oeuvre, vor allem für die zweibändige Biografie ihres gemeinsamen Lebens (1918) verantwortlich.

In circa 10 Jahren Pfarrersarbeit in der desolaten Wohnumgebung der Londoner Pfarre Whitechapel realisieren die Barnetts eine vorbildliche soziale Projektarbeit für und mit der gettoisierten Bevölkerung. Auf Anfrage von sozial engagierten Studenten der Universität Cambridge arbeitet Barnett gemeinsam mit ihnen an der Gründung eines ersten „Settlements“ und stiftet hiermit die Settlement-Bewegung. Er gewinnt Akademiker und Studierende, sich innerhalb des herunter gekommen Stadtteils Whitechapel nieder zu lassen (to settle). Die Gründer geben dem Zentrum den Namen „Toynbee Hall“ nach ihrem kurz zuvor verstorbenen Freund, den wirtschaftswissenschaftlichen und historischen Kritiker des ausufernden Frühkapitalismus, Arnold Toynbee (1852–1883). In dem Umfeld von Toynbee Hall werden die gemeinsamen Probleme des Wohnens, der Straßen, der Kinderbetreuung, der medizinischen Versorgung, der Bildung von beiden Bevölkerungsgruppen,– den schon vormals Einheimischen und den akademischen „Settlern“ –, in Angriff genommen. Barnetts emanzipatorisches Prinzip für beide Seiten der Bevölkerung ist die gegenseitige, im partnerschaftlichen Austausch stattfindende „interaktionelle Identifikation“ (vgl. BUCHKREMER 1977, 1. 3. 27). Mit seinen Mitarbeitern und Kollegen pflegt Barnett eine neuartige professionelle Identifikation, indem er jeden einzelnen von ihnen Woche für Woche zu einem Vieraugen-Gespräch bittet, in dem es um Wahrnehmung und Beurteilung der jeweils letzten Tage der Settlement-Arbeit geht. Wir finden hierin erste Formen von Coaching bzw. Supervision (4.4.1).

Gewiss waren auch die Barnetts ausgegangen von dem christlichen Gebot der Nächstenliebe und der in ihm geforderten moralischen Identifikation, wie sie sich im Anspruch Jesu manifestiert: „Was ihr einem der geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (MATTH. 25, 40). In Folge dieses Anspruchs identifiziert sich der Helfer mit dem Hilfsbedürftigen, weil er sich über ihn mit dem leidenden und richtenden Gottessohn identifizieren soll und kann. Die Identifikation erfolgt also über einen moralischen Impetus, der die Identifizierenden moraliter verbindet.–

Über die moralische Identifikation hinaus und gewissermaßen auch dagegen setzen die Barnetts mit dem Settlement-Prinzip nun aber zusätzlich und mit Priorität eine direkte Art der Identifikation mit den Problemträgern: Die „Settler“ werden selbst Betroffene derselben Probleme und identifizieren sich mit ihren Wohnnachbarn im Denken, Fühlen, Wollen und Handeln, weil sie Zug um Zug zu ihresgleichen werden. „Es ist eine Konzeption, in der Kooperation die Rolle der Mildtätigkeit übernimmt und Gerechtigkeit die Rolle der Nächstenliebe“, so äußert sich Barnett selbst (1906, nach C. W. MÜLLER 2006, S. 39).

Wikipedia (14. 02. 2009) bringt es weltanschaulich auf den Punkt, wenn über die umfangreichen Stellungnahmen und Veröffentlichungen der Barnetts konstatiert wird: „These include Practicable Socialism, which sets out their Christian Socialist beliefs.“ (Diese umfassen einen Praktischen Sozialismus, der von ihrem christlichsozialistischen Glauben ausging. Übers. v. Verf.)

1889 nahm Jane Addams Toynbee Hall in Augenschein. Sie muss von dem Werk der Barnetts zutiefst beeindruckt gewesen sein, denn noch im selben Jahr gründete sie in Chicago das nach dem Vorbesitzer des Hauses benannte „Hull House“ als amerikanisches Settlement. Wie sie der Settlement-Bewegung ihren eigenen Nachdruck in Theorie und Praxis gegeben hat, werden wir unter 1. 3. 14 behandeln.

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