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1. 3. 11 Paul Natorp (1854–1924) (mit Carsten Müller)
ОглавлениеNoch vor wenigen Jahren galt der Marburger Neukantianer Paul Natorp als vergessener Sozialpädagoge. Mittlerweile ist das Desinteresse an diesem Klassiker verschwunden. Heute darf gesagt werden: Wer sich mit Theoriebildung und Theoriegeschichte der Sozialpädagogik beschäftigt, wird kaum an Natorps Beiträgen vorbeikommen (vgl. z. B. JEGELKA 1992, NIEMEYER 1998, SCHRÖER 1999, HENSELER 2000, MÜLLER 2005, DOLLINGER 2006). Gemäß unseren vier Dimensionen liegt bei Natorp ein Schwerpunkt in der theoretisch-definitorischen Dimension.
Mit seiner Monografie „Sozialpädagogik. Theorie der Willenbildung auf Grundlage der Gemeinschaft“ aus dem Jahr 1899 (hier: 1974) legt Natorp eine erste umfassende philosophisch-systematische Grundlegung der Sozialpädagogik als Wissenschaft vor. Wie Natorp bereits zuvor in seinen Schriften „Religion innerhalb der Grenzen der Humanität.– Ein Kapitel zur Grundlegung der Sozialpädagogik“ (1894, hier: 1908) und „Platos Staat und die Idee der Sozialpädagogik“ (1895) aus einerseits religiös-humaner, andererseits staatlich-politischer Sicht gezeigt hat, kreist seine Grundlegung um das Verhältnis von Erziehung bzw. Bildung und Gemeinschaft. Eine zentrale Aussage lautet: „Der Mensch wird zum Menschen allein durch menschliche Gemeinschaft“ (NATORP 1974, S. 90). Damit findet Sozialpädagogik ihren Sinn und ihre Aufgabe: „Der Mensch bildet sich nur in menschlicher Gemeinschaft. Umgekehrt besteht und entwickelt sich eine menschliche Gemeinschaft allein durch die menschliche Bildung ihrer Glieder ... Die notwendige Wechselwirkung der Begriffe Bildung und Gemeinschaft in Erinnerung zu halten, soll der Ausdruck ‚Sozialpädagogik’ uns dienen“ (NATORP 1895, S. 140). Vereinfachend darf gesagt werden: Sozialpädagogik nach Natorp ist Erziehung bzw. Bildung in, durch und für Gemeinschaft.
Dabei ist wichtig, den Begriff Gemeinschaft nicht verkürzt zu verstehen oder gar totalitär zu missdeuten. Nach Natorp stellen Individualität und Gemeinschaft – als Bewusstseinsgemeinschaft – keine Gegensätze dar. Vielmehr denkt er: „Der Begriff der Sozialpädagogik besagt also die grundsätzliche Anerkennung, dass ebenso die Erziehung des Individuums in jeder wesentlichen Richtung sozial bedingt sei, wie andererseits eine menschliche Gestaltung sozialen Lebens fundamental bedingt ist durch eine ihm gemäße Erziehung der Individuen, die an ihm teilnehmen sollen. ... Die sozialen Bedingungen der Bildung also und die Bildungsbedingungen des sozialen Lebens, das ist das Thema dieser Wissenschaft. Und dies betrachten wir nicht als zwei von einander trennbare Aufgaben, sondern als einzige. Denn die Gemeinschaft besteht nur im Verein der Individuen, und dieser Verein wiederum nur im Bewusstsein der Einzelglieder“ (NATORP 1974, S. 98). Gewissermaßen will Natorp – wie bereits zuvor Mager – den Dualismus zwischen individueller Menschenbildung und kollektiver Erziehung überwinden. Den Begriff Sozialpädagogik verwendet er dabei monistisch, d. h. er dient nicht nur zur Hervorhebung und Betonung des sozialen Aspektes jedweder Erziehung, sondern vielmehr als Beleg der Einheit der Erziehung unter dem Primat des Sozialen.
Ein Missverständnis gilt es in der Auseinandersetzung mit Natorp zu vermeiden: Gemeinschaft im Sinne Natorps ist eine regulative Idee und kein Faktum (vgl. NA-TORP 1907). Dementsprechend darf Gemeinschaft nicht mit den vorhandenen Gesellschaften oder gar dem existierenden Staat verwechselt werden. Vielmehr sind Staat und die vorhandenen Gesellschaftsformen keine absoluten Größen, sondern können und müssen unter Rückgriff auf die Idee der Gemeinschaft kritisiert werden: Die Sozialpädagogik, so schreibt Natorp (ebd., S. 608), hat es gewagt, an den vorhandenen Gemeinschaften, so wie sie sind, einschneidende Kritik zu üben, den gegebenen sozialen Zustand lediglich als Durchgang zu betrachten zwischen vergangenen sozialen Ordnungen, die längst unhaltbar geworden sind, und kommenden, die erst von ferne sich ankündigen, und hat dann die ganze Arbeit der Erziehung auf diese kritische Stellung zu den gegebenen sozialen Ordnungen orientieren wollen“. So gesehen wird auch bei Natorp gemäß unseren vier Dimensionen die kritische Dimension der Sozialpädagogik zu einer zentralen Aufgabe erhoben.
Bleibt zu ergänzen, dass Natorps Denken in einer ethischen Auffassung des Sozialismus wurzelt. Er strebt um 1900 über die Klassengrenzen seiner Zeit hinweg etwa mittels freier Selbsterziehung im Gemeindeleben der Erwachsenen, also mittels Erwachsenenbildung, einen „Sozialismus der Bildung“ (NATORP 1895, S. 171) an. Denn er ist der Auffassung: „Der letzte Grund aller socialen Gefahr liegt nicht in der Dissonanz der Besitz-, sondern der Bildungsgegensätze. Alle sociale Reform muss an diesem Punkte einsetzen“ (NATORP 1896, S. 647). Hierin spricht sich eine durch und durch sozialpädagogische Haltung aus: Die Überwindung sozialer Missstände ist auch gemäß Natorp eine vordringlich pädagogische Herausforderung. Damit ist aber auch eine bis heute fortbestehende Problematik auf den Punkt gebracht, welche die politische Einschätzung der Sozialen Arbeit schwierig macht: Kann Soziale Arbeit soziale Missstände wirklich beheben oder dient sie lediglich dazu, falsche gesellschaftliche Verhältnisse etwa durch Reformen zu beschwichtigen und damit grundlegende Veränderungen zu verhindern?