Читать книгу Handbuch Sozialpädagogik - Christian Wilhelm Huber - Страница 30
1.3.8 Otto Willmann (1839–1920) (mit Carsten Müller)
ОглавлениеWillmann ist ebenfalls von der Einheit der Erziehung überzeugt. Insofern wendet er sich mit Bedenken dem pragmatischen Gebrauch des Wortes Sozialpädagogik als Akzentuierung des sozialen Elementes zu: „Die Sozialpädagogik ist daher nicht eine besondere Gestalt der Pädagogik, sondern ein Teil derselben, mit dem ihr zugehörigen Teil der Individualpädagogik eng verwachsen. Daher wäre streng genommen die Wortbildung unstatthaft“ (WILLMANN 1904a, S. 241).
Aber: „Wenn das Schlagwort ‚Sozialpädagogik’ in dem Sinne verstanden wird, dass es auf alle Sozialverbände als Augenmerk der Erziehung hinweist und die Gemeinschaftsnatur des werdenden Menschen nach allen diesen Richtungen in Erinnerung bringt, dann ist es mit Dank willkommen zu heißen“ (ebd., S. 245). Mit der bisher belegten Verwendung des Begriffes Sozialpädagogik beteiligt sich Willmann an der Auslegung der Spannung und Ergänzung von sozialer und individualer Erziehung. Soweit lässt auch sein Beitrag sich eindeutig als definitorisch ausmachen. Darüber hinaus bringt Willmann Magers Sicht der Sozialpädagogik neu zur Geltung, indem er die kontroverse Doppelbeziehung hervorhebt, in der die Sozialpädagogik steht: „Eine Sozialpädagogik tritt einerseits der Individualpädagogik, andererseits aber der Staatspädagogik gegenüber, und wenn dies mit der Absicht geschieht, beide zu ergänzen, so hat der Ausdruck einen wertvollen Erkenntnisgehalt“ (WILLMANN 1904b, S. 247). Bei Natorp (1. 3. 11), so werden wir sehen, kongruiert trotz seiner Kritik des gegenwärtigen Staates der sozialpädagogische Gehalt der Erziehung mit einem als ideal gedachten zukünftigen staatspädagogischen. Willmann deckt auf, dass das staatspädagogische Ziel qua se durchaus dem humanpädagogischen Anspruch von Individuum und Gemeinschaft widersprechen kann. Wie gesagt: Er vertritt die sozialkritische Einstellung Magers und nimmt dabei zugleich Aspekte der anthropologischen Dimension in den Blick.
Insgesamt werden für die wissenschaftliche Disziplin Sozialpädagogik wie für ihre Anwendungsbereiche drei wesentliche Zuständigkeiten umschrieben:
1 Als Sachwalter einer außerhistorisch vorgegebenen Wesensbeschaffenheit des Menschen hat sie diese auszulegen; diese Anschauung von der sittlichen Welt fasst das Geschehen in dieser wohl geschichtlich auf, sieht sie aber durch übergeschichtliche Gesetze und an bleibenden, in der Bestimmung des Menschen gegebenen Aufgaben orientiert. Mit anderen Worten: Trotz der Veränderbarkeit geschichtlich kultureller Bedingungen besitzt die Natur des Menschen Konstanz. An sie reicht der Wechsel der Meinungen und Sitten, der von der menschlichen Unvollkommenheit herrührt, nicht heran. Wenn jetzt und hier etwas anderes gilt als einst und anderwärts, so sind darin lediglich verschiedene Auffassungen des An-sich-Gültigen, nicht aber ein Wechsel und Wandel in diesem selbst zu erkennen. Willmann ist stark am theologischen Naturrecht orientiert und verweist auf den RÖMERBRIEF 2,14. Die Auslegung der Natur des Menschen, die auf die ewigen Gesetze gerichtete Deutung, ist die erste hermeneutische Aufgabe der Sozialpädagogik. Sie ist gewissermaßen vergleichbar der mythologischen Hermeneutik des Hermes selbst, wenn er den Sterblichen den Sinn der Unsterblichen auslegt. Implizit wird so die hermeneutische Methode zum Königsweg der Sozialpädagogik erwählt.Im Sinne unserer Dimensionen gehören die hier von Willmann aufgeworfenen Fragestellungen selbst zu den anthropologischen und ethischsozialkritischen; die ihnen adäquate wissenschaftliche Methode der Antwortsuche und -findung wäre dann, wie schon gesagt, hermeneutischer Art.
2 Aus der Verbindung von anthropologischer und historischer Perspektive erhält die Sozialpädagogik als Träger und Verwalter des historischen Erbes eine weitere Bestimmung. Ist das Überkommene auch dem Wandel unterworfen, so besitzt es doch Gültigkeit in seinen Bezügen zu den ewigen Leitbildern und Grundgesetzen menschlichen Lebens. Die Bausteine der Kultur: Sprache, Sitte, Religion, Philosophie, Kunst, Wissenschaft, „haben in gewissem Sinne ihr Dasein außer dem Individuum und vor demselben, wenngleich sie ihr Volldasein erst gewinnen, wenn sie in das individuelle Seelenleben eingerückt werden. Nur diese Ansicht vermag sie vor Verflüchtigung zu individuellen Zuständen zu bewahren und ihnen den Charakter sozialhistorischer Mächte zu geben“ (WILLMANN 1904, S. 314). Die Vererbung der Kulturgüter und die Überlieferung der geistigen Inhalte sind somit das Gebiet der Sozialpädagogik. Im Sinne unserer Vermessungslinien befinden wir uns mit diesen Themenstellungen in der historischen und vergleichenden Dimension.
3 Die entscheidend neue Aufgabe der Sozialpädagogik, die Willmann formuliert, besteht in ihrem spannungsgeladenen Verhältnis zur Staatspädagogik. Im Gegensatz zur Sozialdemokratie seiner Zeit, aber auch in Absetzung zu Natorp behauptet er den Vorrang der sozialen „Geglieder“ von Ehe, Familie, Kirche. Der Staat findet sie vor und stiftet sie nicht – er sieht sie fortwährend sich neu erzeugen und hat die Aufgabe, sie zu erkennen und zu bekräftigen. Den solcherart vorgefundenen Sozialformen verpflichtet Willmann die Sozialpädagogik. Er weist ihr die Aufgabe des Dammbaus zu gegenüber einer „Sozialethik, die das Individuum durch den allmächtigen Staat ergänzt und alle Leitlinien und Haltpunkte des Menschenlebens durch den Weltprozess4 weggespült hat“ (ebd., S. 309). Während also Sozialpädagogik den vorstaatlichen Sozialformen positiv verpflichtet ist, begegnet sie der Staatspädagogik mit kritischer Distanz. Hier sind früh sozialkritische Fragestellungen der Sozialpädagogik auf den Punkt gebracht.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Sozialpädagogik ist im Willmannschen Sinne mit der hermeneutischen und stets prozesshaften Aufgabe betraut, die soziale Natur des Menschen und seiner Gemeinschaften zu entdecken, ihr in ihren kulturellen Schöpfungen respektvoll zu begegnen und sie dabei zu vervollkommnen. Hierzu stehen ihr Pflicht und Recht der verändernden Kritik gegenüber staatlichen Organen zu, wenn diese die soziale und individuale Menschwerdung behindern.