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1.3.7 Giovanni Bosco (1815–1888)

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Ähnlich, wie wir es später über den russisch-ukrainischen Pädagogen Makarenko (1. 3. 27) sagen werden, der zufälligerweise im Todesjahr Don Boscos geboren wurde, war die wirtschaftliche Ausgangslage der Familie Bosco trotz schwierigster allgemein gesellschaftlicher Zeiten nicht extrem arm. Eine kleine Landwirtschaft besorgte immerhin noch das zum Leben Notwendige, während der Napoleonische Krieg viele Familien in ärgste Armut gestürzt hatte. – Aber auch die Boscos blieben vom Ärgsten nicht verschont: Giovanni war noch keine zwei Jahre alt, als sein Vater an einer Lungenentzündung starb. Von da an standen die Mutter, der älteste schon heranwachsende Anton, Stiefsohn aus der ersten Ehe ihres Mannes, und die beiden jüngeren Kinder, Joseph und Giovanni, vor schweren wirtschaftlichen und familiären Problemen. Um Giovanni vor der Eifersucht des älteren Stiefbruders zu bewahren, schickte Mutter Margarete ihn mit 13 Jahren als Zugeh-Junge und Knecht in eine ihr vertraute Familie eines Nachbardorfes.

Giovanni ist hochbegabt. Er träumt in nächtlichen Visionen davon, Priester und Führer von verwahrlosten Jungen und Priester zu werden. Gelegentlich erhält er von Geistlichen der ländlichen Umgebung Unterricht, darf schließlich eine Schule besuchen, lernt zugleich Singen und Orgelspielen, Nähen und Zuschneiden, Pferdeputzen, Kellnern, Zaubern und vieles andere.

Schließlich wird er Seminarist und endlich Priester. Er verzichtet auf festes Gehalt und kirchliche Bestallung. Stattdessen kümmert er sich um nunmehr nicht mehr geträumte verwahrloste Jungen und wird – zunächst kirchlich und gesellschaftlich fast geächtet – Zug um Zug einer der großen Pädagogen seines Jahrhunderts. Bei der Würdigung Don Boscos ist allerdings zugegebenermaßen auf Vieles zu verzichten, was religiöse Begeisterung ihm auf dem Weg zur Heiligkeit schon zu Lebzeiten, dann aber auch posthum angedichtet hat. Jacques Schepens hat für den deutschsprachigen Raum einen hervorragenden entmystifizierenden Beitrag geleistet. Gerade deshalb reicht die Leuchtkraft von Don Boscos Wirken auch säkularisiert bis in unsere Zeit, stabilisiert durch die weltweite Wirksamkeit des von ihm gegründeten Ordens der Salesianer.

Historisch lässt sich die pädagogische Problemlage, der sich Don Bosco zuwandte, als die mit der ersten industriellen Revolution einhergehende Jugendverwahrlosung kennzeichnen. PÖGGELER (1987, S. 8f.) charakterisiert, wie und um wen sich Don Bosco kümmerte, „sobald er in Turin das Elend verwahrloster und verwilderter Jugendlicher gesehen hatte.“ Es handelte sich um „jene ‚Niemandskinder’, die vom Lande in die Stadt gekommen waren, von keiner Behörde, auch nicht von der Kirche, betreut wurden, – Strandgut der ersten Flutwelle der industriellen Revolution und Proletarisierung. Wenn diese Jugendlichen sich nicht durch Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienen konnten, taten sie es durch Raub und Diebstahl, solidarisiert in kleinen und großen Banden, welche gegen eine Umwelt anzukämpfen hatten, die durch Kapitalismus verlernt hatte, was Nächstenliebe und soziale Gerechtigkeit bedeuten“ (S. 8f.).

Für uns ist es heute relativ leicht, das gesellschaftliche Grundproblem jener Zeit trotz mehr als 150 Jahren Abstand zu verstehen. Haben wir doch auch aktuell mit Jugendproblemen und -gewalt zu tun, die auf ähnliche Erosionen von gesellschaftlich gewachsenen Zusammenhängen und zugleich auf den Verlust von Arbeitsmöglichkeiten und Zukunftsperspektiven für junge Menschen zurückzuführen sind. Vergleichbar sind die Herausforderungen, die auf Don Bosco treffen, auch mit denen, mit denen sich Makarenko im Zuge des 1. Weltkrieges und der russischen Revolution konfrontiert sah.

Nachfolgend sollen die anthropologischen, ethischen und sozialkritischen Grundannahmen skizziert werden, von denen aus Don Bosco seine Theorie und Praxis begründete:

Ein großer Theoretiker ist Don Bosco nicht: Sein hervorragend erfolgreiches Management für den Unterhalt der Jungendlichen und später seines Ordens, vor allem aber seine außerordentlich aktive persönliche Beteiligung am direkten Umgang und Erziehungsgeschehen lassen wenig Zeit zum Theoretisieren. Zugegebenermaßen ist er auch nicht eigentlich als Gebildeter anzusehen. Eher ist er Lehrer und Seelenführer, katechetischen und pastoralen, mystischen und wunderhaften Glaubensquellen selbst tief ergeben, mit hoher Erzähl- und viel Überzeugungskraft begabt (vgl. SCHEPENS 2000). Was ihm an freien Stunden und Minuten bleibt, setzt er in zahlreichen Briefen an die Jungen, an die Erzieher und an die Ordensoberen ein. Aus diesen Briefen lassen sich die Welt- und Gottessicht Don Boscos und eine implizite Erziehungstheorie erschließen.

Das Menschenbild Don Boscos ist geprägt von einem „gemäßigten Optimismus“: „In jedem jungen Menschen, auch im unartigsten, gibt es einen Punkt, wo er dem Guten zugänglich ist, und die erste Pflicht des Erziehers ist es, diesen Punkt, diese empfängliche Seite des Herzens zu suchen und sie zu nutzen“ (nach FRITZ 1949, S. 98f.). Don Bosco bezieht hier eine bedeutende individualpädagogische Wertschätzung des Kindes und Jugendlichen in seine religions- und sozialpädagogische Konzeption ein.

Religiös ist Don Bosco von einer möglichen und realistischen Verbindung zwischen dem Himmelreich Gottes und dem irdischen Menschen überzeugt. In zahlreichen Träumen erscheint ihm die Mutter Gottes, Maria, aber auch andere Gestalten. Er wird gesendet, ermahnt, getröstet und gestärkt. Die Inhalte seiner Träume erzählt und deutet er auch den ihm Anvertrauten als Weisungen für das gemeinsame und individuelle irdische Leben.

Wenn auch das letzte Ziel dieses irdischen Lebens eine möglichst große Annäherung an die Heiligkeit ist, so zeugt Don Boscos irdische Option auch von einem großen Realitätssinn und der Anerkennung des menschlich kulturell zivilisatorischen Zusammenlebens:

Don Bosco ist bemüht, seinen Jugendlichen innerhalb der Internate eine kind- und jugendgerechte Umgebung zu schaffen: „Der Ort `par excellence´ ist der Spielhof. Der Stil, der dort herrschte, war eine Innovation in der Welt der zu Strenge neigenden Schulen und Heime im 19. Jahrhundert“ (SCHEPENS o. J. S. 23). Don Bosco sagt: „Man gewähre große Freiheit, nach Herzenslust zu springen, zu laufen und zu lärmen. Turnen, Musik, das Vortragen von Gedichten, kleine Bühnenstücke und Wanderungen sind sehr wirksame Mittel, Disziplin zu erreichen und Sittlichkeit und Gesundheit zu fördern“ (Tract 2, III nach SCHEPENS ebd.).

Mit dem gleichen Respekt, wie er das jugendliche Interesse an Spiel, Spaß und Sport ernst nimmt, vertritt er den Wert der Arbeit. Schon in den Anfängen seiner „offenen Jugendarbeit der freien Zusammenkünfte“ in seinem als Oratorium bezeichneten Spiel- und Bethof, kümmerte er sich um Arbeitsverträge für bestimmte Jugendliche. Im Zuge des Ausbaus seines Werkes trat ebenbürtig neben Grundschule und Gymnasium eine handwerkliche Schule. Werkstätten sowie landwirtschaftliche Anlagen waren selbstverständliche Teilbereiche des Lernens und Arbeitens innerhalb und an der Seite der Internate „längst bevor Kerschensteiner, Gaudig, Oestreich und andere Reformpädagogen ihre Versionen von Arbeitserziehung konzipierten (PÖGGELER 1987, S. 14).

Abschließend soll es um die Methoden Don Boscos gehen. Sie lassen sich mit fünf Akzenten charakterisieren, und zwar in Hinsicht auf

 die Erzieher,

 die Identifikation mit den zu Erziehenden,

 die Prävention des Bösen,

 die Prävention der Strafe,

 die Liebenswürdigkeit.

„Die Erziehungsmethode Don Boscos ist sehr eng an die Persönlichkeit der Erziehenden gebunden. Fast kann man sagen, dass diese Methode sich mit der Person des Erziehers identifiziert.“(SCHEPENS o. J., S. 19).

Don Bosco ist in der Zeit seiner aktiven Erziehungstätigkeit unentwegt bei seinen Jugendlichen, und das im vollsten Sinne des Wortes: Er spielt, treibt Sport, arbeitet, lehrt/ lernt, betet, jongliert, singt, spielt Theater mit ihnen. Diesen Umgang wünscht er bittend und beschwörend in seinen Briefen auch von seinen Mitarbeitern. In seinem Rombrief vom 10 Mai 1884 erinnert sich Don Bosco an das Leben im Oratorium: „Es war ein Bild voller Leben, voller Bewegung und voller Fröhlichkeit. Die einen liefen, andere sprangen, und wieder andere ermunterten zum Springen. Hier spielte man „Frosch“, dort Hindernislauf und Ball. An einer Stelle hatte sich eine Gruppe von Jungen versammelt und lauschte gespannt einem Priester, der eine Geschichte erzählte. An einer anderen Stelle spielte ein Kleriker mit den Jungen „Esel lauf!“ und „Handwerkerei“. Allerorts herrschte Lachen und Singen, und überall sah man Kleriker und Priester, umgeben von fröhlich scherzenden Jungen. Man spürte, dass zwischen den Jungen und den Oberen ganz große Herzlichkeit und sehr großes Vertrauen herrschte. Ich war begeistert von diesem Anblick.“ (zit. nach SCHEPENS o. J., S. 18)

Die fortwährende Anwesenheit bzw. „Assistenz“ des Erziehers bei und mit seinen Jugendlichen ist der Kernpunkt der Verhinderung des Bösen. In den Satzungen Don Boscos heißt es prägnant: „Man achte darauf, dass die Jugendlichen immer mit etwas Vernünftigem beschäftigt seien. Sie sollen das Gefühl größter Freiheit haben, nach Herzenslust springen, laufen und schreien dürfen. Turnen, Musik, Deklamationen, Laienspiele und Fahrten helfen wirksam, Zucht, Tugend und Gesundheit zu fördern. Die einzige Grenze bei der Erholung bildet die Ehrbarkeit. Es gelte, was der große Jugendfreund Philipp Neri sagt: „Macht alles, was ihr wollt, ich bin es zufrieden, wenn ihr nur nichts Böses tut!“ (Constituzioni o. J. Turin, nach FRITZ 1949, S. 67).

Ganz schlicht und einfach bringt Don Bosco seine Präventivmethode auf den Punkt, wenn er sagt: „Man muss vor allem das gerne tun, was den Kindern Freude macht, dann werden diese auch gerne tun, was den Erziehern Freude macht“ (LE-MOYNE, Memorie biographiche; nach FRITZ 1949, S. 83).

Wer das Böse verhindert, braucht es nicht zu bestrafen. Das weiß Don Bosco, aber als Realist weiß er auch, dass es trotzdem geschieht. Und hier zeigt sich sowohl seine große Menschenfreundlichkeit als auch eine tiefblickende Psychologie. In den „Constituzioni“ (o. J. Turin) verfügt er: „Wo immer möglich, wird man nach einer anderen Lösung als nach einer Strafe suchen. Falls dennoch eine Strafe geboten scheint, achte man auf folgendes: Die Liebe seiner Zöglinge muss sich der Erzieher erwerben, will er gefürchtet sein. Dann bildet die ‚Entziehung des Wohlwollens bereits eine Strafe, die neuen Eifer weckt, ermutigt und doch nie entehrt. Ganz seltene Fälle ausgenommen, dürfen Tadel und Strafen niemals öffentlich erteilt werden, sondern stets unter vier Augen, fern von den Kameraden. … Körperliche Züchtigungen, welcher Art sie auch seien, aber auch das Knien in schmerzlicher Stellung, das Ohrenkneifen und ähnliches sind strengstens verpönt. Die Kinder werden dadurch gereizt, der Erzieher erniedrigt sich selber, und schließlich verbieten die Gesetze ein solches Vorgehen“ (nach FRITZ 1949, S. 71f.). Es passt nicht ganz zu dem großen Erzieher, dass er bei „sittlichen Vergehen“ an die Grenze seines Großmutes gelangt. In einem Brief an seine Ordensmitglieder formuliert er: „Nur bei einem sittlichen Vergehen muss der Obere unerbittlich sein. Besser wäre es immer noch, einen Unschuldigen aus dem Haus zu jagen, als einen Verführer zu behalten. (LEMOYNE, Memorie biographiche, hier nach FRITZ 1949, S. 86).

Abgesehen von dieser engen Angst des weitherzigen Pädagogen, die ohne Zweifel der pastoralen Sicht seiner Zeit geschuldet ist, lässt sich Don Bosco selbst und die von ihm vertretene Pädagogik mit dem Wort der „amorevolezza“ erfassen. Im Deutschen haben wir für dieses alte italienische Wort keine direkte Übersetzungsmöglichkeit, und es lässt sich vielleicht mit „Liebeswollen“ in Verwandtschaft mit Wohlwollen oder auch mit Liebenswürdigkeit übersetzen.

Don Bosco war selbst liebenswürdig zu seinen Jugendlichen, seinen Ordensmitgliedern, seinen Sponsoren. Er postuliert diese Liebenswürdigkeit als normale sozialpädagogische Umgangsform. Er möchte, dass anvertraute Menschen geliebt werden als Kinder Gottes, als wertvolle Individuen und soweit es sich um Jugendliche handelt, als Hoffnungsträger für bürgerliche Tüchtigkeit und mögliche Heiligkeit.

Sicher übersteigt Don Boscos eigene Liebenswürdigkeit die Fähigkeit und Askese der meisten (von uns) Pädagogen. Trotzdem ist seine Zumutung ein Vermächtnis. Wenn wir es ernst nehmen, erwächst aus ihm vieles an Fröhlichkeit bei Spiel und Spaß, an Respekt vor Anstrengung und Arbeit, an Lob, Geduld und Nachsicht für andere, an Prävention von Schädlichem und Bösem, an Wertschätzung für junge und alte Menschen.

Handbuch Sozialpädagogik

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