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1.1.1 Kleine Mengenlehre von Zuordnungen

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Jede Gesellschaft ist ein Gesamtsystem aus Individuen und Gruppen, die hinsichtlich ihrer Bedürfnisse und Leistungen aufeinander bezogen sind. Die Regeln, nach denen der gesellschaftliche Austausch erfolgt, bestehen aus ungeschriebenen und geschriebenen Konventionen und Gesetzen. Ihre Einhaltung wird einerseits durch das subjektive Bedürfnis nach Gruppenzugehörigkeit bzw. Gruppenkonformität, andererseits durch die Organe staatlicher Macht gesichert. Gesellschaftswissenschaften, insbesondere die Soziologie, haben somit zwei Aufgaben: zum einen die Motive der sozialen Bedürfnisse, die Inhalte der sozialen Konsense und die sozialen Formen der gesellschaftlichen Güter und Interaktionen zu erforschen und zu reflektieren, zum anderen die Mittel, Methoden und Mandate gesellschaftlicher Macht zu untersuchen und ihren Anspruch auf Legitimität zu hinterfragen.

Nun gilt für jedes Gesellschaftssystem der Tatbestand, dass fortgesetzt eine Vielzahl von Individuen neu eingegliedert und eingeordnet werden muss. Der größte Anteil dieser Personen sind Kinder und Jugendliche, die auf die Regeln des gesellschaftlichen Kanons verpflichtet werden. Aber auch Erwachsene stellen z. B. als Einwanderer, Übersiedler, Arbeitsmigranten, als Asylbewerber und Flüchtlinge oder auch als Besatzer die verschiedenen Gesellschaften vor die Aufgabe der Eingliederung. Eine weitere Integrationsaufgabe erwächst den Gesellschaften für jene Gruppen, deren bisherige Funktionen im gesellschaftlichen Wandel verloren gehen und die daher durch neue Beziehungen vor dem Herausfallen aus dem sozialen Austausch bewahrt werden müssen. Zu denken ist hier im aktuellen Kontext z. B. an Senioren, Arbeitslose sowie Soldaten aus gewonnenen wie aus verlorenen Kriegen. Schließlich gibt es in Gesellschaften ausgegliederte, d. h. sanktionierte und kriminalisierte Personen, die für akzeptierte Formen der gesellschaftlichen Interaktion neu gewonnen werden müssen.– Zuletzt sollen genannt werden fremde Eroberer, auf deren Eingliederung die okkupierten Gesellschaften zwar nur geringen Einfluss haben; wollen jedoch die okkupierenden Gesellschaften nicht nur als Freibeuter und Barbaren angesehen werden, so geben sie – paradoxerweise – vor, ihre Interventionstruppen folgten einem Fundus von Menschenrechtskenntnissen und entsprechenden Verhaltenskompetenzen. Für diese Normen müssen dann vorab die Kommandozentralen und Kohorten vorbereitet sein, um im Sinne der Mission auch die Unterworfenen auf sie einzuschwören. (Nach diesem Schema spielen sich gegenwärtig die Kriegs- und Besatzungsverhältnisse im Irak, in Tschetschenien und in Afghanistan ab.)

Abgesehen von den Systemen militärischer Rekrutierung und wirtschaftlicher Werbung überlassen die meisten Gesellschaften den größten Teil ihrer Integrationsaufgaben der Erziehung. Dabei können die beauftragten Erziehungsinstanzen ihren Adressaten meist einen zeitlichen und ökonomischen Freiraum zur Verfügung stellen, in dessen Rahmen eine schrittweise Eingliederung der Individuen bis zur gänzlichen Erfüllung der gesellschaftlichen Erwartung angestrebt wird. Am deutlichsten wird dieses Moratorium bei Schul- und Ausbildungszeiten von Kindheits- und Jugendphasen. Aber auch andere Gruppen, z. B. Übersiedler und Einwanderer, erhalten über Schulungsangebote und -verpflichtungen (z. B. durch das deutsche Zuwanderungsgesetz 2005) die Zumutung und Chance der Einpassung. Hier erfüllen Sozialpädagogik und Sozialarbeit eng miteinander verbunden die konzeptionellen und praktischen Anforderungen der Gesellschaft.

Als Erziehungswissenschaft bezeichnen wir jenen Teil des Erziehungskomplexes, der die Erziehungswirklichkeit theoretisch und mit wissenschaftlicher Methodik untersucht. Als Teil von Gesellschaftswissenschaft hat sie vordergründig die Aufgabe, in Anbetracht der körperlichen, seelischen und sozialen Beschaffenheit der zu Erziehenden die Mittel und Wege zu ihrer Eingliederung in das gesellschaftliche Ganze zu erforschen. Hintergründig aber sind zugleich der Rechtsanspruch und die Anmaßung der Gesellschaften auf die Einfügung der Individuen sowie entgegengesetzt der Rechtsanspruch der Individuen, Gruppen, Kulturen und Subkulturen auf Autonomie Gegenstand ihrer Fragestellungen.

Praktische Sozialpädagogik und Sozialarbeit stellen neben Rehabilitation, Heil- und Sonderpädagogik Spezialwege hilfreicher Erziehung her. Sie versuchen, gesellschaftlich bedingte Eingliederungsprobleme zu beheben und das Überhandnehmen System auflösender Kräfte einzudämmen. Da im gesellschaftlichen Wandel die Problemgruppen relativ schnell wechseln, stehen Sozialpädagogik als Wissenschaft und Sozialarbeitswissenschaft vor immer neuen Fragestellungen nach den erziehungsrichtigen und menschgerechten Methoden ihrer Spezialaufgaben. Zugleich jedoch werden sie unter den immer neuen Hindernissen bei der Verwirklichung der Integrationsziele intensiv mit der Frage konfrontiert, woher Ziele und Methoden ihre Berechtigung nehmen und wieweit ihre Legitimation reicht. Es ist denkbar, dass Sozialarbeit und Sozialpädagogik aus der Erkenntnis der Grenzfälle des Systems das System selbst in Frage stellen.

Fassen wir das Beschriebene in einige Statements:

Sozialpädagogik und Sozialarbeit sind ein Moment gesellschaftlicher Praxis.

Sie sind zuständig für die soziale Eingliederung von Individuen und Gruppen. Damit sind sie ein Polit-Faktor, wenn wir Politik nicht allein auf Parteien-, Ressort- und Staatspolitik reduzieren, sondern im aristotelischen Sinne als die Gesamtheit des nicht privaten Lebens verstehen.

Sozialpädagogik und Sozialarbeit sind ein Moment gesellschaftlicher Theorie.

Als wissenschaftliche Disziplin reflektieren sie die Eingliederung von Menschen, vor allem von Gruppen in gesellschaftliche Funktionen und Zusammenhänge hinsichtlich Ziel und Methode. Folglich sind sie ein Teilgebiet der Gesellschaftswissenschaft (vgl. RÖSSNER 1973, S. 28).

Sozialpädagogik und Sozialarbeit sind ein Teilbereich von Erziehung und Integration und somit sittlich fundiert.

Erziehliche Beeinflussung von Menschen ist dadurch charakterisiert, dass sie sittlich orientiert ist und ihre Objekte in den Zustand größerer Unabhängigkeit und Selbstbestimmung in Freiheit und Verantwortung befördern will. (Erziehung unterscheidet sich grundlegend von anderen sozialen Eingliederungsvorgängen wie Werbung, Drill, Dressur, die auf ökonomische oder machtmäßige Vorteile der Eingliedernden oder ihrer Auftraggeber, nicht jedoch der Einzugliedernden ausgerichtet sind.) Praktische Sozialpädagogik und Sozialarbeit sind am sozialen und personalen Wachstum ihrer Adressaten interessiert.

Sozialpädagogik und Sozialarbeit sind Teil der Erziehungswissenschaft.

Als Erziehungswissenschaft reflektieren sie und begründen ihre sittliche Fundierung und ihre erziehliche Zielsetzung. Darüber hinaus entwickeln und überprüfen sie mit wissenschaftlichen Methoden ihre praktischen Verfahren.

Sozialpädagogik und Sozialarbeit sind ein integrativer Bestandteil der Sozialen Arbeit.

Einen Hinweis hierzu gibt der Wortteil „Sozial“. Ausgehend von ihrer gesellschaftlichen Entstehung lässt sich Sozialpädagogik als Nothilfepädagogik bezeichnen, die z. B. „Lücken in der normalen Leistung der Familie“ (BÄUMER 1929, S. 3) füllt. Darüber hinaus füllt sie auch Lücken in anderen gesellschaftlich etablierten Erziehungssystemen wie Schule, Berufs-, Erwachsenen- und Freizeitbildung. Immer steht sie dabei in Kontexten von Alltagsbezügen und sozialen Lebenswelten. Ihre „Lebensweltorientierung“ (THIERSCH 2006) verlangt ihr ab, Bereiche pädagogischer Räume immer wieder zu erweitern oder auch zu verlassen, um mitzuhelfen, zugehörige Lebensräume ihrer Adressaten nach Bedarf, Würde und Prosozialität zu strukturieren und auf Dauer zu stellen. Dieses zentrale Anliegen der Sozialpädagogik kongruiert mit dem der Sozialarbeit. Auf die Verschmelzung von Sozialpädagogik und Sozialarbeit in der Sozialen Arbeit und gleichzeitig auf den Titel dieses Buches „Sozialpädagogik in der Sozialen Arbeit“ werden wir noch ausführlicher eingehen.

Soziale Arbeit ist Teil der „Subsidiären Intervention“, eines Systems ergänzender Lebens- und Erziehungshilfe.

Sozialpädagogisch/ sozialarbeiterische Praxis springt da ein, wo normale bis normierte Erziehungssysteme und/ oder gesellschaftliche „Normal“-Angebote hinsichtlich spezieller Bedarfe von Individuen oder Gruppen nicht ausreichen. Sozialpädagogische Erziehung ist und war von ihren Anfängen her ein Spezialfall hilfreicher Erziehung. Sie steht, wie fest gestellt, im Verbund der ebenfalls besonderen Eingliederungsansätze und sozialen Entwicklungshilfen der Sozialarbeit, aber auch mit den Zielen und Methoden der Heil- und Förderpädagogik bzw. der Sonder- und Behindertenpädagogik, der Rehabilitation und Resozialisation. Wir nennen diesen Verbund „Subsidiäre Intervention“.

Sozialpädagogik und Sozialarbeit sind insofern auch Teil der gemeinsamen Theorie der Subsidiären Intervention. Theoretische Sozialpädagogik hat es mit den ethischen und sozialkritischen Grundlagen ihrer Erziehungsrealität zu tun und mit den wissenschaftlich zu entwickelnden und zu vervollkommnenden Methoden der subsidiären Praxis. Damit ist sie mit zuständig für eine gemeinsame Theorie der Disziplinen, die als besondere Hilfssysteme die Subsidiäre Intervention ausmachen.

Handbuch Sozialpädagogik

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