Читать книгу Handbuch Sozialpädagogik - Christian Wilhelm Huber - Страница 13
1.1.3 Sozialpädagogik als Teil der Subsidiären Intervention und deren Theorie
ОглавлениеWir blicken auf folgende Vorüberlegungen zurück: In einem ersten Herangehen wurden Sozialpädagogik und Sozialarbeit bezeichnet als Faktor mehrerer miteinander verbundener gesellschaftlicher, politischer sowie sozial- und erziehungswissenschaftlicher Bereiche. Im letzten Abschnitt verfolgten wir in historischen und aktuellen Bestimmungsversuchen eine inzwischen zur Ruhe gekommene Diskussion über Einheit und Differenz von Sozialpädagogik und Sozialarbeit und ihrer Einmündung in den Überbegriff „Soziale Arbeit“. Die hier anstehenden Erläuterungen unternehmen auf der Basis des bisher Festgestellten den Versuch, den spezifischen Anteil der Sozialen Arbeit im Verbund der Nachbardisziplinen auszumachen und zugleich durch den Vorschlag eines Begriffssystems Differenz und Kongruenz der verschiedenen Nachbardisziplinen wie Heil-, Sonder-, Behindertenpädagogik, Rehabilitation und Soziale Arbeit, letzte als Sozialpädagogik und Sozialarbeit, zu klären.
Dabei sind zur Bestimmung eines eindeutigen Begriffssystems zwei triviale Regeln zu beachten: Der Oberbegriff muss das Gemeinsame akzentuieren, die Unterbegriffe die Verschiedenheiten.
Bestimmung des Oberbegriffes: Subsidiäre Intervention
Gemeinsam für alle genannten Ansätze gilt, dass es sich bei ihnen um Praxis und Theorie sozialer Eingriffe handelt, die über den üblichen Radius von Erziehung und Integrationsangeboten hinausgehen. Sie resultieren aus besonderen Problemlagen der Adressaten und dienen dem Zweck, zugunsten der Betroffenen einzuschreiten. Damit sind sie alle als Interventionen zu bezeichnen, wobei wir mit dem DTV (1999, S. 318) unter Intervention „[lat. Dazwischenkunft] Vermittlung, Einmischung“ verstehen.
Zur Abgrenzung gegenüber prozess-, wechsel-, staats- oder börsenrechtlichen Interventionen bedarf es jedoch einer näheren Bestimmung: Grundsätzlich orientieren sich die von uns gemeinten Interventionen an den vorhandenen autonomen Wirkungsmöglichkeiten der Adressaten und ihrer Bezugsgruppen. Nur aushilfsweise unterstützen sie, wo herkömmliche und normale Bedingungen für ein gelingendes Leben nicht ausreichen oder nicht gegeben sind. Dabei verfolgen sie im Interesse der Betroffenen das Ziel deren größtmöglicher Unabhängigkeit, d. h. einer permanenten Abnahme bzw. der eigenen „Selbstabschaffung“ der Interventionen.
Damit lassen sich die von uns gemeinten Interventionen als subsidiär (helfend, unterstützend) bezeichnen. Sie entsprechen dem Subsidiaritätsprinzip, jenem gesellschaftspolitischen Grundsatz, wonach die jeweils übergeordneten Gemeinschaften und staatlichen Instanzen die Wirkungsmöglichkeiten der untergeordneten anerkennen müssen und nur die Aufgaben an sich ziehen sollen, die von diesen nicht erfüllt werden können. Auch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland folgt, ohne es explizit zu nennen, dem Subsidiaritätsprinzip.
Als zusätzlich Besonderes der von uns betrachteten Subsidiären Interventionen lässt sich das Emanzipatorische begreifen. Da auch bei sozialarbeiterischen und rehabilitativen Interventionen die Abhängigkeit der Adressaten finanziell, beratend oder therapeutisch gemindert und im Gegenzug ihre Autonomie und Selbsthilfe gefördert werden sollen, haben wir es stets mit emanzipatorischen Zielen zu tun. Somit kommen wir bei einer Zusammenfassung des bisher Gesagten zu folgender Definition:
Unter dem Oberbegriff der Subsidiären Intervention sind alle erziehlichen und integrativen Interventionen zu subsumieren, die (als heil-, sonder- und sozialpädagogisch, resozialisativ, rehabilitativ und sozialarbeiterisch verstanden) aus den Problemlagen von Adressaten resultieren und deren Ziel es ist, diese soweit wie möglich zu befähigen und zu stabilisieren, dass sie von solchen subsidiären Interventionen wieder unabhängig werden. Subsidiäre Intervention hat insofern immer auch edukative Züge, das heißt, sie sucht im Ursinne der Wörter „educare“ und „erziehen“ Menschen aus Abhängigkeiten „herauszuführen“ oder aus Unterwerfungen „heraufzuziehen“. Dabei hat die Rücknahme der Intervention in dem Maße zu erfolgen, wie die vom Adressaten angestrebte und für Leben und Würde als notwendig erachtete Selbsthilfe und Autonomie schrittweise erreicht werden. (Letztlich ist ja schon jeder „normale“ Erziehungsakt subsidiärer Natur, indem er die Zu-Erziehenden in die jeweils höhere Form von Selbstständigkeit entlässt.)
Zugeordnet dem praktischen Feld der Subsidiären Intervention ist die Theorie der Subsidiären Intervention. Ihre Aufgabe ist es, für die verschiedenen Bereiche der Heil-, Sonder- und Sozialpädagogik, der Rehabilitation und der Sozialarbeit die gemeinsamen Fragen zu formulieren und zu klären. Als vorrangig erscheinen uns folgende Komplexe:
1 Differenzierende Einordnung der Unterbereiche Subsidiärer Intervention, d. h. terminologische und sachlogische Unterscheidung der Unterbereiche.
2 Bildung einer übergreifenden ethischen und sozialkritischen Argumentation für die Gesamtheit der Bereiche.
3 Aufdeckung des Legitimationsproblems hinsichtlich der Entscheidung über die Hilfsbedürftigkeit der Klienten sowie über die Wert- und Zielvorstellungen subsidiärer Interventionen und der maßgeblichen Beteiligung der Adressaten an deren Bestimmung.
ad 1: Einordnung der Sozialpädagogik bei der Bestimmung der Unterbereiche der Subsidiären Intervention und ihrer Theorie
Hinsichtlich der Unterscheidung der Unterbereiche der Subsidiären Intervention richten wir uns nach folgenden Regeln:
1 Beibehalten der Termini für bestehende Anteile, die einmalig in ihnen vertreten sind.
2 Abgrenzen voneinander.
3 Erzeugen von Wortevidenz, damit auch „Nicht-Eingeweihte“ von den Bezeichnungen her das Bezeichnete erfassen können.
4 Berücksichtigen anderer Vorschläge der terminologischen Diskussion, soweit möglich.
Zur Differenzierung möchten wir induktiv, und zwar dem üblichen Lebenslauf in unserer Gesellschaft folgend, die Lebenslagen benennen, in denen die verschiedenen Subsysteme von Erziehung und Subsidiärer Intervention greifen bzw. eingreifen:
Die meisten Kinder verbringen ihre frühe Kindheit vornehmlich in der Familie, manche – nach dem Modell der ehemaligen DDR heute mehr und mehr – zusätzlich in einer sozialpädagogischen „Krippe“. Danach erhalten viele einen Platz im sozialpädagogischen Kindergarten. Auf ihn folgt die Regelschule, oftmals noch zu selten abgestützt durch Koordination von Elternhaus, Lehrern und Jugendamt als Schulsozialarbeit, ergänzt durch sozialpädagogische Angebote in Zeiten, die nicht durch Unterricht bestimmt sind. (Der Bedarf nach dieser Ergänzung der Schule durch Soziale Arbeit nimmt durch die Zunahme an Ganztagsschulen erheblich zu. Dass hierbei der Vergleich des deutschen Bildungswesens mit dem anderer Staaten [PISA] beigetragen hat, ist bekannt.) Nach der Regelschulzeit folgt eine Berufsausbildung. Vor allem Jugendliche aus benachteiligten Lebenslagen benötigen hierzu häufig Unterstützung durch Soziale Arbeit.
Darüber hinaus gilt auch allgemein, dass die sozialpädagogischen Einrichtungen Krippe, Kindergarten, Berufsförderungswerk, manchmal und nötigerweise öfter auch die Schule, durch ein System der Beratung, der administrativen Assistenz und der ökonomischen Abstützung für ihre Adressaten begleitet werden. Ja, auch in Lebenslagen, die mit Schule, Ausbildung und Erziehung kaum etwas oder nichts zu tun haben, bedarf es der Abstützung von Individuen und Gruppen, damit diese nicht aus Existenz begründenden gesellschaftlichen Zusammenhängen herausfallen. Hier sei z. B. verwiesen auf die Antinomien von Arbeitsmarkt und Arbeitslosigkeit, von Wohnungsmarkt und Obdachlosigkeit, von Bürgerrechten und Ausländer-/ Flüchtlingsstatus. Die hier notwendigen Maßnahmen betrachten wir als Soziale Arbeit im Rahmen der Subsidiären Intervention. Hier tut sich ein Bereich auf, in dem v. a. „Coaching“ im Sinne Sozialer Arbeit zur notwendigen Professionalität gehört (4.4.1).
Außerhalb der institutionellen Regelsysteme von Erziehung, Schule und Ausbildung erstreckt sich ein umfangreiches Netzwerk im klassischen Sinne sozialpädagogischer Angebote mit einem geringeren Grad an Institutionalisierung und Formalisierung; denken wir z. B. an kirchliche, gewerkschaftliche, parteiliche oder kommunale Jugendarbeit, an Heime der Offenen Tür, an Kinder- und Jugendfreizeiten und dergleichen.
Das ganze Set der Subsidiären Intervention soll dazu beitragen, dass junge Menschen schließlich einmünden in einen Status der Erwachsenheit, in der der Einfluss von Erziehung, häufig auch der der Elternfamilie, abgelöst wird durch eine autonome Fortentwicklung.
Nun haben über das skizzierte hinaus viele Individuen aufgrund besonderer, leiblicher, geistiger und/ oder seelischer Eigenschaften zusätzliche Bedürfnisse, „special needs“, gegenüber dem Gesellschaftssystem, speziell der Erziehung, die von dem üblichen Angebot an Sozialer Arbeit nicht abgedeckt werden können. In gezielten Maßnahmen der Förderpädagogik z. B. werden durch Institutionen und spezielle pädagogische Methoden die Bedürfnisse von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Behinderungen zusätzlich beachtet und versorgt. Wünschenswerter Weise werden diese Hilfen flankierend, zeitlich vor aber auch im Rahmen der Normalschule sowie ihrer Ergänzung durch Soziale Arbeit gegeben. Eine neue Entwicklung stellt die vom deutschen Bundestag und Bundesrat erfolgte Ratifizierung (Dezember 2008) der UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen dar. Unter anderem ist „die Zielrichtung ein inklusives (alle Menschen einbeziehendes) Bildungssystem ohne Sondereinrichtungen für Menschen mit Behinderungen. Der Zwang zur Sonderschule muss weg.“
(http://www.eine-schule-fuer-alle.info/politik/bundesrepublik-deutschland/unkonventionratifiziert/, abgerufen am 2. 3. 2009)
In einigen Bereichen erzielen die behindertenspezifischen pädagogischen Methoden den Erfolg, dass die Behinderungen sich zurückbilden oder gänzlich verschwinden. Dies kann zum Beispiel für den Bereich der Sprachbehinderungen, für Haltungs- und Bewegungsschäden, aber auch für seelische Störungen der Ich-Identität gelten. In diesen Fällen kann Förderpädagogik den Charakter und die Bezeichnung von Heilpädagogik in Anspruch nehmen. Heilpädagogik lässt sich insofern als potenzieller Sonderfall von Förderpädagogik verstehen.
Nun gibt es außer Menschen mit Behinderungen noch andere Personengruppen, für die spezielle Pädagogiken nötig sind. Zu denken ist an Hochbegabten-Pädagogik, Kriminal-Pädagogik, Kranken-Pädagogik, an „Migranten-“ oder „Ausländer-Pädagogik“,– heute zu Recht, „Inländer“ einbeziehend in „Interkulturelle Pädagogik“ umbenannt,– schließlich auch an Altenpädagogik bzw. Gerontagogik. Wie auch immer sie genannt werden: Immer haben wir es mit subsidiären Interventionen zu tun, die die Lebensvollzüge so nahe wie möglich an gesellschaftliche Teilhabe und persönliche Selbstständigkeit heranführen sollen.
Als Nachtrag bleibt noch die Frage zu klären: Welche Positionen nehmen Rehabilitation und Resozialisation ein?
Für das „curriculum vitae“ von Menschen mit Behinderung verknüpfen sich Geflechte aus normal- und sozialpädagogischen sowie sozialarbeiterischen Angeboten und die flankierenden förderpädagogisch methodischen und institutionellen Ansätze. Das gesamte Arrangement lässt sich in diesem Falle als Rehabilitation bezeichnen. Dass Rehabilitation in bestimmten Fällen frühkindlichen Förderbedarfs bereits am Lebensanfang beginnen kann, versteht sich von selbst.
Im Falle devianter Personen wird ein ähnlich komplexes Eingliederungsverfahren als Resozialisation benannt. Resozialisation kennzeichnet das Gesamt der subsidiären Unterstützung von Lebenslinien bei erschwerter Devianz; sie kann immer erst an einem fortgeschrittenen Punkt der Lebenslinie nach vorhergehender Abweichung ansetzen.
Zuständigkeiten und Methoden
Bis hier haben wir an Lebensphasen, individuellen Sonderbedürfnissen und Schicksalszusammenhängen orientierte Zuordnungen innerhalb der Subsidiären Intervention verfolgt. Zu klären bleibt, worin die unterschiedlichen professionellen Schwerpunkte für die verschiedenen Segmente bestehen.
Beginnen wir mit der Sozialarbeit in der Sozialen Arbeit. Allgemein verstehen wir als sozialarbeiterisch das jeweils besondere Angebot für einzelne Personen, Gruppen oder Gemeinwesen, das auf Abhilfe verschiedener Problemlagen wie Benachteiligung, Abhängigkeit und Unselbstständigkeit zielt. Sozialarbeit geht beispielsweise einem bestimmten Drogenabhängigen nach oder einem einzelnen in Resozialisationsschwierigkeiten befindlichen Klienten (case work). Sie versucht, die Resignation einer bestimmten Nachbarschaft in einer Obdachlosensiedlung zu durchbrechen (group work) oder den Gemeinsinn eines bestimmten Gemeinwesens Minderheiten gegenüber zu entwickeln (community work). Folglich steht ihr, außer gewissen finanziellen Möglichkeiten und staatlichen Regelungen und Zuständigkeiten, meist kein institutionelles Rahmenwerk zur Verfügung.
Allgemein: Sie kümmert sich um die Lage ihrer Adressaten, soweit diesen die gesellschaftliche Integration erschwert ist, relativ unabhängig von typischen Gemeinsamkeiten anthropologischer Bestimmung wie Geschlecht und Alter oder gesellschaftsnormierter Bestimmung wie Beruf, Stand und dergleichen, relativ abhängig jedoch von typischen Gemeinsamkeiten gesellschaftlicher Diskriminierung und Ausgrenzung wie Arbeitslosigkeit, Flucht, Obdachlosigkeit, HIV und Ähnlichem.
Sozialpädagogik in der Sozialen Arbeit dagegen befasst sich gerade mit Lebensproblemen, die einer Erschwerung allgemeiner und typischer Lebenssituationen im Zusammenhang mit Altersphasen entspringen und die deshalb im Rahmen der gesellschaftlichen Umstände einen gewissen Allgemeincharakter besitzen. In ihren historischen Anfängen nahm sie sich der Jugendlichen an, die durch Schwächung der Familien der Verwahrlosung ausgesetzt waren. Mit Kindergärten und vorschulischer Erziehung, mit Kinderhorten und Heimen der offenen Tür, mit Kinder- und Jugendfreizeiten, in den Häusern öffentlicher Erziehung, in Kinder- und Jugenddörfern sowie in Berufsbildungswerken antwortet sie Zug um Zug auf neue Zeitprobleme. Dabei fällt auf, dass sie es mit allgemeinen gesellschaftlichen Problemen zu tun hat, von denen zahlreiche Individuen gleicher Lebensphase wie Kinder, Jugendliche, Berufsanfänger, Eltern, Senioren ähnlich betroffen sind.
Zugewandt den generellen Problemen, wie sie aus gesellschaftlichen und anthropogenen Bedingungen und Bedarfen entstehen, hat Sozialpädagogik zahlreiche institutionalisierte Berufsfelder hervorgebracht. Denken wir z. B. an Heime, Kindergärten und Berufsbildungswerke: In ihnen findet die sozialpädagogische Arbeit des einzelnen Mitarbeiters schon bei Beginn sozialpädagogisch vorstrukturierte Bedingungen. Trotzdem bleibt auch Sozialpädagogik oft im Dilemma, dass sie als „Nothilfepädagogik“ im Sinne der zitierten G. Bäumer mit praktischen und theoretischen Provisorien akute Notstände zu steuern hat. Wo es ihr gelingt, durch organisierte Formen spezifische Arbeitsbereiche zu schaffen – im Sinne heutiger Sprachregelung: „sozialpädagogische Orte“ –, ist es durchaus üblich, dass diese stärker das Gesicht adressatenbezogener Segmentspädagogiken zeigen (Jugendheim, Altentreff, Kinder- und Familienfreizeiten, Elternbildung, Heim- und Internatserziehung usw.). Dabei kommt es vor, dass solche Felder ursprünglich sozialpädagogischer Arbeit in den Zustand normalpädagogischer Institutionalisierung gelangen und damit nur noch eingeschränkt dem Bereich Subsidiärer Intervention zuzurechnen sind. Ein solcher Prozess hat zurzeit für die Elementarerziehung seinen Abschluss gefunden. Geboren aus der Notlage der erziehungsgeschwächten Familie des frühen Kapitalismus, ist im Zuge der sozialpädagogischen Intervention inzwischen die öffentliche Erziehung des „Kindergarten-Kindes“ selbstverständlich geworden. Ihre damit erreichte „Normalität“ hat den Kindergarten mehr und mehr aus dem Nothilfestatus der Sozialpädagogik herausgelöst. Verspätet folgt dem die Gesellschaftspolitik mit gesetzlichen Verankerungen des Anrechts auf Kindergartenplätze. Ein ähnlicher Prozess findet zurzeit mit der Entwicklung von Krippen für Kleinkinder statt. Die inzwischen etablierte Disziplin „Pädagogik der frühen Kindheit“ zeigt ebenfalls die Tendenz der „Normalisierung“ dieses Zweiges der Erziehung an.
Im Gegensatz zur Sozialpädagogik ist die Heilpädagogik individualpädagogisch orientiert. Im Sinne der Wortevidenz sollte von Heilpädagogik nur da die Rede sein, wo eine physisch-biologische oder auch intellektuelle Schwäche mit pädagogischen Mitteln geheilt oder ihr zuvorgekommen werden soll. Als Modell denken wir an heilpädagogisches Turnen, an Legasthenikerförderung oder Sprachheilbehandlung. Dieser Wortgebrauch entspricht ältester heilpädagogischer Tradition, aber auch nicht so alten Beiträgen, wie dem von KLAUER (1970, S. 37f.). In diesem Fall ist die Heilpädagogik ein Sonderfall der Förderpädagogik bzw. ihre prophylaktische Entsprechung.
Ein weiterer und ebenfalls wesentlicher Bereich der Heilpädagogik ist die Heilung „beschädigter Identität“ im Sinne BITTNERS (1972), soweit sie mit pädagogischen Mitteln versucht werden kann. Fast alle Klienten Subsidiärer Intervention dürften neben ihren körperlich behindernden, seelisch abnormen oder soziokulturell benachteiligenden Bedingungen gleichzeitig an Verletzungen des Selbstwertgefühls leiden. Somit können sie alle auch Hilfe aus dem Bereich der Heilpädagogik erfahren.
Kasuistisches
Jede Adressatengruppe der Subsidiären Erziehung kann Objekt aller Unterbereiche sein. Dies soll an drei unterschiedlichen Beispielen verdeutlicht werden:
1. Fallbeispiel:
Ein von Verwahrlosung bedrohter Jugendlicher wird nach wiederholtem Schulschwänzen und einem Ladendiebstahl dem Jugendamt gemeldet. Die Begegnung mit der professionellen Betreuerin erfolgt vorwiegend ohne institutionelle Vorstrukturierung (Sozialarbeit). Die Sozialarbeiterin vermittelt, dass der Jugendliche mit Beginn der Ferien an einer Jugendfreizeit teilnimmt (Sozialpädagogik). Außerdem führt sie ihn einer Berufsaufbauklasse für Schüler ohne Hauptschulabschluss zum nachträglichen Erwerb des Abschlusses zu (Schul-/ Förderpädagogik). Hier findet gleichzeitig ein Lese-Rechtschreibtraining statt (Heilpädagogik). Nach Abschluss eines weiteren Schuljahres verschafft die Sozialarbeiterin dem Jugendlichen im Verbund mit dem Arbeitsamt eine Ausbildungsstelle. Ihn und die ausbildenden Personen betreut („coacht“) sie bei den entstehenden sozialen und arbeitsrechtlichen Problemen (Soziale Arbeit). Die berufliche Ausbildung wird durch Einzelbetreuung und Gruppenarbeit fachlich und erziehlich abgestützt (Sozialpädagogik). Alle Bemühungen, speziell aber eine Gruppentherapie, die von einer Erziehungsberatungsstelle unter Leitung eines Heilpädagogen angeboten wird, haben das Ziel, über die Vermittlung von Gefühlen sozialer Empathie und Akzeptiertheit die Ich-Identität des Jugendlichen zu stabilisieren (Heilpädagogik).
Wie dieses Beispiel zeigt, erfolgen erziehliche Bemühungen unter erschwerten Bedingungen meist als konzertierte Aktion aus mehreren Teildisziplinen der Subsidiären Intervention. Wie erkennbar geschieht dies im „Sozialraum“ (1. 3. 36).
2. Fallbeispiel:
Eine 40-jährige, alleinerziehende Mutter zweier Kinder (11;2 J. m/ 9;1 J. w.) erleidet durch einen Verkehrsunfall eine Querschnittslähmung. Ein Sozialarbeiter kümmert sich um die von den Großeltern aufgenommen Kinder, er sichert die finanziellen Belange, informiert die Schule, besorgt eine Familienpflegerin und kümmert sich um die Ermöglichung eines konstanten Kontaktes zwischen Mutter, Kindern und Großeltern (Sozialarbeit). Nach einem halbjährigen Krankenhausaufenthalt mit anschließender Rekonvaleszenz erhält die behinderte Mutter durch Vermittlung des Arbeitsamtes einen Platz in einem Rehabilitationszentrum. Die hotelmäßige Unterbringung, das Freizeitangebot, die Besuche der Großeltern und Kinder, die Pflege alter und die Anknüpfung neuer Sozialkontakte werden sozialpädagogisch unterstützt (Soziale Arbeit). Durch eine spezielle Heilgymnastik werden sekundäre, aus der Behinderung folgende, körperliche Schäden angegangen. Bei der Patientin wird die Motivation aufgebaut, diese Übungen auch schließlich ohne Anleitung auszuführen (Heilpädagogik). Gleichzeitig werden ihr neue Sportarten beigebracht, die trotz der Behinderung ausgeübt werden können (Förderpädagogik). In Lehrgängen wird eine Umschulung unter Berücksichtigung der eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten vermittelt (Berufsausbildung mit förderpädagogischer Assistenz). In Einzelberatung und in therapeutisch betreuten Gruppengesprächen wird versucht, die verletzte Identität der Klientin unter Bearbeitung ihres Behindertenschicksales wieder zu stabilisieren (Heilpädagogik/ Psychotherapie). Im Verbund von SozialarbeiterIn und FamilienpflegerIn wird die Rückkehr in die Familie ermöglicht und der Übergang in eine behinderungsgerechte Arbeitsstelle erleichtert (Soziale Arbeit). Auch die Kinder erhalten eine gruppenpädagogische Unterstützung, in der auch die neue familiäre Situation bearbeitet werden kann (Heilpädagogik).
Diese gesamte konzertierte Aktion subsidiärer Maßnahmen lässt sich vom Prozess wie vom Ergebnis her als Rehabilitation bezeichnen.
3. Fallbeispiel:
Gehen wir von den subsidiären Aktivitäten aus, die zur Wiedereingliederung eines Sexualstraftäters unternommen werden. Es handelt sich um einen 30-jährigen Mann, der nach wiederholten exhibitionistischen Handlungen gegenüber Kindern mit einer Freiheitsstrafe belegt wurde. Der für die spätere Bewährungshilfe vorgesehene Sozialarbeiter nimmt Kontakt mit dem Herkunftsmilieu des Delinquenten auf. Er erhebt eine Anamnese und versucht darüber hinaus in ersten Gesprächen eine seelische Entlastung der Angehörigen des Täters zu bewirken (Soziale Arbeit/ Heilpädagogik). Im Strafvollzug schließt sich der Strafgefangene einer Freizeitgruppe an (Soziale Arbeit). In einer Einzelbetreuung wird der Informationsrückstand des Klienten hinsichtlich sexueller Themen erwachsenengerecht und unter Berücksichtigung der sexuellen Abweichung aufgearbeitet. Zugleich sollen durch gruppentherapeutische Angebote soziale und sexuelle Gehemmtheiten abgebaut werden. Dem Klienten wird geholfen, ein Gefühl sozialer Vollwertigkeit aufzubauen (Psychotherapie/ Heilpädagogik). Die Übernahme einer neuen Arbeitsstelle und der Übergang in die Freiheit werden durch den Sozialarbeiter bzw. Bewährungshelfer begleitet und erleichtert (Sozialarbeit/ Bewährungshilfe).
Eine solche konzertierte Aktion subsidiärer Maßnahmen lässt sich vom Vorgang wie vom Ziel her als Resozialisation bezeichnen.