Читать книгу Römische Prosodie und Metrik - Christian Zgoll - Страница 11

4. Quantitäten und Akzente

Оглавление

Der Blick auf „Metrik“ als „Meßkunst“ zeigt, daß für den richtigen Vortrag antiker Dichtung neben der Rekonstruktion der rhythmischen Struktur die Berücksichtigung von „Längen“ und „Kürzen“ ausschlaggebend ist. Das hängt mit einem ganz grundlegenden Merkmal des Griechischen und des Lateinischen zusammen. In beiden Sprachen kommt es wesentlich auf die korrekte Aussprachedauer einzelner Vokale und Silben an. Es handelt sich um vornehmlich quantitierende Sprachen. Im Gegensatz dazu ist beispielsweise das Deutsche eine akzentuierende Sprache; hier kommt es bei der Aussprache vor allem auf die richtige Wortbetonung an, und diese Betonung erzeugen wir vor allem durch einen Anstieg der Lautstärke, daneben auch noch durch eine höhere Tonlage45. Der Umstand, daß Griechisch und Latein quantitierende Sprachen sind, ist ein Glück; wenn wir das nicht wüßten und keine entsprechenden Hinweise von Grammatikern zu Aussprache und Metrik hätten, dann könnten wir nicht einmal mehr den Rhythmus der antiken Dichtung rekonstruieren.

Natürlich geht es in den alten Sprachen neben den Quantitäten auch noch um den richtigen Wortakzent. Anders als im Deutschen wird dieser nicht so sehr durch eine Steigerung der Tonstärke, sondern vor allem melodisch, also durch veränderte Tonhöhen erzeugt. Und natürlich achtet das Deutsche wiederum neben der korrekten Betonung auch auf die richtigen Quantitäten; aber in beiden Fällen ist die Gewichtung genau gespiegelt. Für Griechen und Römer waren die Quantitäten wichtig, der Akzent untergeordnet; für uns ist der Intensitätsakzent entscheidend, die Silbenquantitäten weniger wichtig46. Weil dieser Unterschied so grundlegend ist, soll noch etwas näher darauf eingegangen werden.

Es ist – ganz unabhängig von der Dichtung, also auch schon in Prosa! – ein völlig anderes Sprachempfinden, mit dem wir hier konfrontiert werden47. Landläufig interessiert meistens nur die Aussprache der Einzellaute (wurde Caesar „kaisar“ oder „tsäsar“ ausgesprochen? etc.), aber das ist nicht das entscheidend Trennende; viel fundamentaler ist der ganz andere Sprachrhythmus in einer quantitierenden als in unserer akzentuierenden Sprache. Wir können uns nur schwer vorstellen, wie wichtig eine richtig quantitierende Aussprache für die Römer war, und lernen lateinische Vokabeln nach unserem Akzentempfinden, nicht nach den Quantitätsregeln48. Wenn wir das lateinische Wort für „Rose“ aussprechen, ist für unser Sprachgefühl allein entscheidend, daß wir die erste Silbe betonen, und weil im Deutschen eine betonte offene Silbe lang ist, sprechen wir „Róse“ mit langem „o“, übertragen diese Aussprache auch auf die lateinische Vokabel und sprechen rōsa (mit langem „ō“). Korrekt ist aber rŏsa (mit kurzem „ŏ“)49. Es kümmert uns auch wenig, ob wir mālus oder mălus, ob wir ēst oder ĕst sagen, aber der Römer unterscheidet in der Aussprache genau zwischen mālus, dem Apfelbaum, und mălus, dem Bösewicht, sowie zwischen ĕst „er ist“ und ēst „er ißt“50.

Als Kuriosum seien hier vier Hexameterverse aus einer alten Metriklehre zitiert, die vor Augen führen, wie wichtig es ist, die Unterschiede in den Quantitäten zu kennen, und die zeigen, daß eine metrische Analyse für die Enträtselung des Inhalts entscheidende Hilfestellungen bieten kann51:


Deceptura viros pingit mala femina malas:

Malo tamen malo decerpere dulcia mala.

Cernis triste malum, fractum iam turbine malum?

Mala mali malo meruit mala maxima mundo.

Um die Männer zu täuschen schminkt die üble Frau ihre Wangen:

Ich will doch lieber vom Apfelbaum süße Äpfel pflücken.

Siehst du das traurige Übel, den durch Sturm schon gebrochenen Apfelbaum? Der Kiefer des Sünders hat durch einen Apfel der Welt größte Übel gebracht.

Ohne die Kenntnis der Gesetzmäßigkeiten des Versbaus hätten wir kaum einen Anhaltspunkt für die Unterscheidung und genaue Bestimmung der Wörter malas, malo, malum, mala und mali; im Hexameter ist aber die Aufteilung von langen und kurzen Silben genau festgelegt, so daß wir durch eine metrische Analyse in Vers 2 mālŏ („ich will lieber“52) genau unterscheiden können von mālō („vom Apfelbaum“), in Vers 3 mălum („Unheil“) von mālum („Apfelbaum“ im Akkusativ53) oder in Vers 4 mālă („Backe/Kiefer“) von mălă („Übel“).

Exkurs für Spezialisten zum Vers mala mali malo meruit mala maxima mundo:

Der lateinische Text läßt offen, ob der „Kiefer“ (mālă) Evas oder Adams gemeint ist. mala mali malo kann entweder bedeuten „der Kiefer des Sünders (= Adam) hat durch einen Apfel …“, oder „der Kiefer (sc. Evas) hat durch den Apfel des Satans …“ (oder: „durch den Sündenapfel“) größte Übel gebracht. Keine unbedeutende Frage: Wer wird nun hier für alle Übel der Welt schuldig gesprochen – Adam oder Eva? Obwohl man zunächst vermuten würde, daß nach mittelalterlichem Weltbild Eva die „Sünderin“ (Antitypos zu Maria), Adam nur der „Verführte“ ist, wird doch in zahlreichen Sprichwörtern tatsächlich Adam, der dann für den Menschen schlechthin steht, für die Misere verantwortlich gemacht, in Anlehnung an die schon von Paulus vorgenommene Gegenüberstellung vom „einen Menschen“, durch den die Sünde und damit der Tod in die Welt gekommen ist, und Christus, durch den der Welt die Erlösung vom Tod und das ewige Leben zuteil wurde (Röm 5,12-21)54. In diese Richtung gehen auch zahlreiche deutsche Sprichwörter wie „Adam mit Naschen hat verricht’, all das Uebel, das uns anficht“; „Adam’s Apfelbiss bringt uns den Tod gewiss“; „Adam’s Apfelmus macht uns allen viel Verdruss“55. Von der metrischen Analyse her spricht für eine solche Interpretation im übrigen auch die „Trithemimeres“ genannte Pause, die mala mali vom folgenden abtrennt und damit nahelegt, die beiden Wörter als zusammengehörige Einheit anzusehen56.

Es sind freilich nicht nur die Längen und Kürzen einzelner Vokale, die wir nicht richtig mitlernen und deshalb falsch aussprechen (z.B. bei amīcus oder rēx), sondern wir vernachlässigen die korrekten Zeiteinheiten bei jeder Silbe, und damit vernachlässigen wir im Satzzusammenhang natürlich auch insgesamt den für das Lateinische typischen Wort- und Satzrhythmus. So ist z.B. für unser akzentuierendes Sprachempfinden allein wichtig, daß das Wort indifferens auf der drittletzten Silbe betont werden muß, um es richtig auszusprechen: indífferens. Dabei wird jede Silbe in etwa gleich lang ausgesprochen, also (ta-tá-ta-ta). Für römische Ohren wäre das geradezu barbarisch; der Lateiner würde bei der Aussprache viel genauer darauf achten, daß nur die dritte Silbe kurz, alle anderen lang sind, und dabei die Aussprachedauer viel genauer befolgen: , langlang-kurz-lang (tam-tám-ta-tam). Das ergibt, wenn wir für jede Länge zwei und für jede Kürze einen Taktschlag (eine „More“) ansetzen, eine Aussprachelänge von insgesamt 7 Taktschlägen, im Gegensatz zum Deutschen mit nur 4 (!) Taktschlägen. Außerdem ergibt für die Römer die Aussprache dieses einen Wortes schon einen gewissen abwechslungsreichen, nämlich iambischen Rhythmus57, während der Deutsche alle vier Taktteile in ihrer Länge annähernd gleichwertig behandelt. Ein anderes Beispiel für einen trochäischen Rhythmus, den der Lateiner schon in der normalen Aussprache hört, der Deutsche hingegen weitgehend unberücksichtigt läßt, wäre interesse: , lang-kurz-lang-kurz (tam-ta-tám-ta); grob vereinfacht liest ein Deutscher dieses lateinische Verbum in etwa (tata-tá-ta). Näher am Lateinischen im Sprachduktus ist z.B. italienisch lentamente, wo bei der Aussprache durch Silbenlängung eine ähnlich quantitierende Aussprache erreicht wird („lennntamennnte“, )58, wie sie für das Lateinische üblich war.

Römische Prosodie und Metrik

Подняться наверх