Читать книгу Römische Prosodie und Metrik - Christian Zgoll - Страница 9
2. Rhythmik und Metrik
ОглавлениеAber wir wollen nicht klagen. Immerhin ist es den Philologen gelungen, wenigstens noch so etwas wie das Gerippe oder Grundgerüst dieser antiken Musikstücke zu rekonstruieren, und das ist ihre Rhythmik23. Diese Rhythmik ist mittlerweile gut erforscht und lebt unter einem anderen Namen und auf Schemata und Gesetzmäßigkeiten reduziert als eine Teildisziplin der Klassischen Philologie fort. Gemeint ist die Metrik24, die vermutlich die rhythmischen Realitäten konkreter musikalischer Vortragspraxis nicht identisch abbildet25, von diesen aber doch zumindest eine Ahnung zu vermitteln vermag. Mit dieser Metrik werden seit Generationen Schülerinnen und Schüler, Studentinnen und Studenten traktiert, die teilweise ihre liebe Müh’ und Not damit haben26. Warum? Schlicht deshalb, weil das alles erleichternde Substrat fehlt, nämlich die Musik. Dies gilt besonders für die kompliziertere griechische „Lieddichtung“. Cicero schreibt an einer Stelle (orat. 183):
Daß also in der Prosa ein gewisser Rhythmus vorhanden ist, das ist nicht schwer zu erkennen. … Aber bei den Versen liegt dies deutlicher zutage. Obwohl, entkleidet man einmal bestimmte Versmaße ihrer musikalischen Begleitung, erscheint die Rede wie Prosa, und dies ist gerade bei den besten jener Dichter der Fall, welche die Griechen ‘Lyriker’ nennen. Beraubt man sie der musikalischen Begleitung, dann bleibt fast nur noch nackte Prosa.
esse ergo in oratione numerum quendam non est difficile cognoscere; … sed in versibus res est apertior, quamquam etiam a modis quibusdam cantu remoto soluta esse videatur oratio maximeque id in optimo quoque eorum poetarum, qui λυρικख़ὶ a Graecis nominantur, quos cum cantu spoliaveris, nuda paene remanet oratio.
Keiner käme auf die Idee, beim zentralen Song „I am a man of constant sorrow“27 der durch Homers Odyssee inspirierten Filmproduktion O Brother, Where Art Thou?28 danach zu fragen, ob sich hier ein trochäischer Dimeter mit einem teilweise hypermetrischen iambischen Quaternar abwechselt. Die Musik sorgt dafür, daß der Sänger ganz von selbst und völlig natürlich im rhythmischen System bleibt, und genau diese Hilfestellung fehlt uns beim Lesen antiker Dichtung.
Aber wie gesagt: wir wollen nicht klagen, sondern uns daran freuen, daß uns von den antiken Gedichtgesängen wenigstens noch die Rhythmik erhalten geblieben ist. Und was gibt es da für eine Vielfalt! Rhythmen, die teilweise nach ihren tatsächlichen oder vermeintlichen „Erfindern“ oder doch hauptsächlichen Anwendern, den Dichterkomponisten selbst, benannt sind, wie die Sapphischen oder Alkäischen, die Archilochischen oder Asklepiadeischen Rhythmen und Strophenformen; bestimmten Gattungen zugeordnete Rhythmen wie das „elegische“ Distichon oder der „epische“ (daktylische) Hexameter; vermutlich kultischen Kontexten entsprungene Rhythmen wie der mit dem Garten- und Fruchtbarkeitsgott Priap assoziierte Priapeische Vers oder die dem Kybelekult zugehörigen Galliamben, um nur einige wenige zu nennen. Manche von diesen Rhythmen, wie etwa die daktylischen Hexameter, sind relativ frei gebaut und lassen von daher ein breiteres Spektrum verschiedener Variationsmöglichkeiten zu, andere wiederum, wie die äolischen Versmaße, sind strenger gebaut und weisen für jeden Vers normalerweise die gleiche Anzahl von Silben auf.