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I. Praeludium 1. Dichtung und Musik
ОглавлениеGenausowenig wie die Tempel und Statuen der Antike weiß waren, genausowenig waren die Gedichte des Altertums Gedichte. Die Tempel waren in Wirklichkeit bunt, und die Gedichte waren eigentlich Gesänge. Auch mit den „Dichtern“ hatte es eine eigene Bewandtnis: Sie waren in der Regel nicht nur Wortkünstler, sondern gleichzeitig Komponisten und Musiker, zuständig für Text und Vertonung und Aufführung1.
Der übliche Rahmen für unterhaltsame Gesänge mit oder ohne instrumentale Begleitung, vor allem, wenn sie sich um Liebe und Literatur, um Heldentum und mythische Geschichten drehten, war nach einem gemeinsamen Abendessen das fröhliche Beisammensein beim Wein, das Symposion – bei den Griechen genauso wie später bei den Römern2. Während iambische Verse in der Regel rezitiert wurden3, hat man Elegien beim Symposion entweder rezitiert oder unter instrumentaler Begleitung vorgesungen4. Kriegsgesänge im elegischen Versmaß konnten aber auch in der Öffentlichkeit angestimmt werden, genauso wie die griechische „Lieddichtung“, die sogenannte „Melik“5, nicht nur während eines Symposions von einem Sänger mit einer Leier als Instrument, sondern auch bei größeren öffentlichen Veranstaltungen und von einem ganzen Chor vorgetragen werden konnte6. Auch epische Dichtung war „vertont“, allerdings im Vergleich zur Lieddichtung, die mit einer erstaunlichen Vielfalt an metrischen Bauformen experimentiert7, in ihrer musikalischen Ausgestaltung wesentlich schlichter8.
Dies ist ein Aspekt, der beim Lesen antiker Lyrik meistens unberücksichtigt bleibt: Gedichte wurden in der überwiegenden Zahl der Fälle nicht rezitiert, sondern unter instrumentaler Begleitung vorgesungen. Das gilt für die Griechen wie später für die Römer, auch wenn dies in der Forschung im einzelnen umstritten bleibt. Daß in Rom zu Catulls Zeiten manche seiner Lieder vertont und auch gesungen wurden, ist eine Annahme, die sich immerhin auf einige Argumente stützen kann9. Was die Oden des Horaz angeht, so gibt es eine starke Fraktion, die sich gegen einen gesanglichen Vortrag ausspricht10, während andere mit mindestens ebenso guten Argumenten die Meinung vertreten, daß es sehr verwunderlich wäre, wenn sie nicht vertont und gesungen worden wären11. Für Horazens carmen saeculare, das Lied zu der von Kaiser Augustus initiierten nationalen „Jahrhundertfeier“ im Jahr 17 v. Chr. ist die Vertonung und musikalische Aufführung durch einen Chor aus Mädchen und Knaben jedenfalls sicher bezeugt12. Desgleichen gibt es keinen Grund, an der Nachricht Plinius’ des Jüngeren (um 100 n. Chr.) zu zweifeln, nach der seine Frau, sogar ohne spezielle Unterweisung durch einen Musiker, manche Gedichte ihres Mannes vertont und zur Kithara vorgesungen hat13. Solches gilt nicht nur für einen streng privaten Rahmen; nach einer anderen Stelle wurden Elfsilbler des Plinius von anderen nicht nur gelesen und abgeschrieben, sondern sogar vorgesungen und von Griechen, durch die Gedichte zum Lernen des Lateinischen animiert, mit Kithara- oder Lyra-Begleitung vorgetragen14. Und Gellius berichtet uns von einem Gastmahl, auf dem der Rhetoriklehrer Antonius Iulianus (ca. Mitte des 2. Jhdts. n. Chr.) Verse von älteren römischen Dichtern nicht vorgetragen, sondern vorgesungen hat15.
Daß wir heute diese musikalische Praxis normalerweise unbeachtet lassen, hat einen guten Grund: Obwohl wir viel über antike Musik wissen, wissen wir über ihre praktische Seite, also darüber, wie sie wirklich geklungen hat, so gut wie nichts.
Wir besitzen Abbildungen und Beschreibungen vom Aufbau, sogar Originale antiker Instrumente. Zwei der wichtigsten Saiteninstrumente sind Lyra und Kithara16. Die Lyra (λύρα) hat eine Schildkrötenschale (später Holz) als Schallkörper, eine Resonanzdecke aus Ochsenhaut (später Holz), als Arme v.a. Antilopenhörner und wenige Saiten (4-7). Eingesetzt wurde sie nur zur Begleitung von Gesang, sie war kein Soloinstrument. Dagegen wurde die Kithara (κιθάρα), die einen größeren und eckigeren Schallkörper aus Holz aufweist, bespannt mit 5-12 Schafdarmsaiten, auch als konzertantes Soloinstrument genutzt17. Eines der wichtigsten Blasinstrumente war der Aulos (αὐλόॢ): er gehört zu den Rohrblattinstrumenten, war also keine „Flöte“, sondern einer Oboe ähnlich, in der Antike in der Regel mit Doppelrohrblatt. Das zylindrische oder leicht konische Rohr hat ursprünglich an der Oberseite vier Löcher, an der Unterseite ein Loch18.
Wir wissen einiges darüber, zu welchen Gelegenheiten und in welchem Umfang antike Musik zum Einsatz kam19. Vor allem bei herausragenden Anlässen, beispielsweise zu Lebenswenden wie Hochzeit, Siegesfeiern oder Begräbnissen, an besonderen Punkten im Jahreskreis wie zur Ernte, im Rahmen kultischer Zeremonien (vgl. den Dithyrambos als Kultlied für Dionysos, den Paian als Kultlied für Apollon), und, eng damit zusammenhängend, bei der Aufführung von Dramen. Neben dieser „Festmusik“ gab es freilich auch „Volkslieder“; wir wissen von Schiffer-, Jäger-, Handwerker-, Bauern-, Winzer-, Soldaten- und Hirtenliedern, ja selbst Wander- und Schlaflieder sind bezeugt. Überliefert ist vor allem noch die „gehobenere“ Musik im Alltagsleben, also gewissermaßen das in höheren Gesellschaftskreisen gepflegte „Kunstlied“ (Elegien, melische Dichtung).
Wir wissen vieles über die antike Musiktheorie (man erinnert sich vielleicht an die Tonsysteme mit den fremdartigen Namen wie „dorisch“, „phrygisch“ oder „mixolydisch“ aus dem Musikunterricht)20, wir haben Kenntnis von antiken Notationssystemen21, ja wir besitzen sogar Überreste antiker Notenzeilen22.
Aber wie diese Noten original-klanggetreu wiedergegeben werden müßten, dazu bräuchten wir wenigstens ein paar wenige auf Tonträgern gespeicherte Aufnahmen aus der Antike. Archäologen können mit hochspezialisierter Technik noch so geringe Farbreste auf antiken Monumenten aufspüren und für eine Rekonstruktion benutzen, aber den Gesang, den Alkaios an einem Abend vor rund 2600 Jahren in geselliger Runde auf Lesbos einmal angestimmt hat, diesen Gesang und seine instrumentale Begleitung wieder hörbar zu machen, das ist leider bislang auch der besten Technik noch nicht gelungen.
Was uns dadurch verlorengegangen ist, kann man vielleicht annähernd ermessen, wenn man einmal an ein beliebiges Textstück aus dem Libretto zu Mozarts Zauberflöte denkt, z.B. „Der Vógelfáenger bín ich já, stets lústig, héißa hópsassá!“ Der Rhythmus beim bloßen Vorlesen ist einer der monotonsten überhaupt und erweckt den nur mäßig espritvollen Text nicht unbedingt zu blühendem Leben – aber mit Mozarts Musik! Wenn die antiken „Dichtermusiker“ mitbekämen, wie verstümmelt ihre Kompositionen an modernen Schulen und Universitäten zur „Wiederaufführung“ gelangen … Zum Glück bekommen sie es nicht mit.