Читать книгу Erwachsene mit Autismus begleiten - Christiane Arens-Wiebel - Страница 9
2.1 Das Ende der Schulzeit
ОглавлениеIn Deutschland ist die Schulpflicht einschließlich der Anzahl der Schulbesuchsjahre aufgrund der Kulturhoheit der Länder in den einzelnen Landesverfassungen geregelt. Jede/jeder autistische Schüler*in geht neun bis zwölf Jahre in die Schule, wird integrativ bzw. inklusiv beschult oder besucht eine Förderschule bzw. eine Tagesbildungsstätte. Dabei gibt es unterschiedliche Konzepte für die Abschlussjahre und den Übergang in einen (vor-)beruflichen Bereich. In den Abschlussjahrgängen ist es wichtig, den/die Schüler*in auf das Leben nach der Schulzeit vorzubereiten. Schwerpunkte der Förderung des/der Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen sind die Vermittlung von sozialen, lebenspraktischen und berufsbezogenen Kompetenzen sowie die Stärkung der Ich-Identität. Die Inhalte und Ziele des Unterrichts sollten sich an den Fähigkeiten, Bedürfnissen und Interessen des/der jeweiligen Schüler*in auf der Grundlage des Lehrplans orientieren. Vorhandene Fertigkeiten werden aufgegriffen und vertieft. Inhalte und Ziele des Unterrichts richten sich an die Anforderungen des Erwachsenenlebens in den Bereichen Arbeiten, Wohnen, Freizeitgestaltung und soziales Leben. Hierzu gehören Einzelfähigkeiten wie z. B. das Lesen von Fahrplänen, Rechnen mit Geld, einkaufen, saubermachen, Wäsche pflegen sowie Themen wie Kennenlernen verschiedener Wohnformen, Öffentlichkeit (Behörden), Gesundheitsfürsorge, Ernährung und der Umgang mit Medien. Der Lehrplan hängt dabei von der besuchten Schulform ab, also ob sich der junge Mensch bspw. in einer Schule für Körperbehinderte, einer Tagesbildungsstätte oder in einer integrativen oder inklusiven Schule befindet. Die letzten Schuljahre bilden eine wichtige Grundlage für den weiteren Weg des jungen Menschen. In dieser Zeit können intellektuelle Fähigkeiten, Selbstständigkeitsfertigkeiten sowie Verhaltensverbesserungen erreicht werden. Mit deren Hilfe wird eine positive Integration in eine Einrichtung der Berufsorientierung und Arbeit wahrscheinlicher.
»Schülerinnen und Schüler mit Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung werden zieldifferent unterrichtet. Sie erwerben im Kompetenzbereich ›vorberufliche Bildung‹ grundlegende Kompetenzen in verschiedenen Arbeitsfeldern, um ihnen auf dieser Basis Entscheidungen zur Aufnahme einer Arbeitstätigkeit zu ermöglichen. Die Konfrontation mit betrieblichen Abläufen auf der Ebene beruflicher Realitäten (Betriebspraktika), die Auseinandersetzung mit den Themen Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie die persönliche Berufswegeplanung sind zentrale Inhalte im Sekundarbereich II. Die Förderschulen führen berufsorientierende Maßnahmen entsprechend den Fördermöglichkeiten und dem Unterstützungsbedarf ihrer Schülerinnen und Schüler durch und gestalten die schuleigenen Berufsorientierungskonzepte mit einem großen Spielraum für individuelle Anpassungen. Ein mit Kooperationspartnern gemeinsam entwickeltes Berufsorientierungskonzept, das die Bedürfnisse und Leistungsmöglichkeiten der Schülerinnen und Schüler einbezieht, sorgt für authentische und vielfältige Anwendungssituationen im Berufsalltag« (Musterkonzeption Berufs- und Studienorientierung mit Handreichungen, Niedersächsisches Kultusministerium 2017, S. 22).
Um selbst einschätzen zu können, über welche Fähigkeiten ein junger Mensch mit Beeinträchtigung verfügt, lässt sich bspw. die Fähigkeitssammlung aus dem Ordner »Gut leben« (4. Auflage, 2017, Hrsg. Lebenshilfe) nutzen. Hier gibt es Fragen in Leichter Sprache, die folgende Bereiche betreffen: Aussehen, kochen und essen, Gesundheit, Sicherheit, Aufgaben und Arbeiten, Kontakte, Selbstorganisation, Umgang mit Geld und Behörden.
Beispiel aus dem Thema »Aufgaben und Arbeiten«
Ich kann an Aufgaben dranbleiben, bis sie fertig sind.
Ich kann mir selbst etwas vornehmen und es auch machen.
Ich erkenne Fehler – bei mir und bei anderen.
Ich kann einen Zeitplan machen und mich daran halten.
Ich kann nach Hilfe fragen.
Ich kann mich für eine neue Arbeit bewerben.
Ich kann gut mit anderen zusammenarbeiten.
Ich kann Anweisungen der Chefin/des Chefs folgen.
Ich kann mir Anweisungen merken.
Der/die Schüler*in kann hier ankreuzen »ich kann’s« oder »ich will’s lernen«. Sicherlich ist eine Unterstützung durch eine Lehrkraft oder ein Elternteil notwendig, um die Fragen korrekt zu beantworten. Bspw. ist bei der Antwort »ich kann gut mit anderen zusammenarbeiten« eine wichtige Frage, was im Einzelnen ›gut‹ ausmacht – hier ist eine gezielte Bestimmung des Begriffs »gut zusammenarbeiten« notwendig.
Gut zusammenarbeiten könnte für eine Person bedeuten ( Abb. 1):
Ich arbeite an meinem Arbeitsplatz.
Ich arbeite leise.
Wenn ich die anderen als zu laut empfinde, trage ich einen Gehörschutz.
Ich fasse die anderen nicht an.
Ich versuche freundlich zu sein.
Ich halte mich an die vorgegebenen Zeiten (z. B. für eine Pause).
Ich versuche ruhig zu bleiben, wenn etwas schwierig ist.
Abb. 1: Gut arbeiten (METACOM Symbole © Annette Kitzinger)
Über die Selbsteinschätzung des/der Schüler*in hinaus ist in jedem Fall eine umfassende Beobachtung ratsam, wie diese bspw. beim TTAP (TEACCH Transition Assessment Profile, Mesibov et al. 2017; Kap. 3.4) vorgeschlagen wird. Dies ist ein Verfahren zur förderdiagnostischen Untersuchung von Jugendlichen und Erwachsenen mit einer Autismus-Spektrum-Störung und einer leichten bis starken intellektuellen Beeinträchtigung. Das TTAP wurde konzipiert, um den Übergang junger Menschen in das Erwachsenenleben zu planen. Hierfür werden gezielte Beobachtungen im Kontakt zu dem Menschen mit Autismus dokumentiert, aber auch Bezugspersonen aus den Bereichen Schule, Arbeit und Wohnen interviewt, um einen möglichst umfassenden Kenntnisstand über die Fähigkeiten des jungen Menschen zu erheben. Das Verfahren ist in sechs Bereiche aufgeteilt: berufliche Fertigkeiten, Eigenständigkeit, Kompetenzen zur Freizeitgestaltung, Arbeitsverhalten, funktionale Kommunikation und zwischenmenschliches Verhalten. Nach Durchführung der Aufgaben und Vermerk der Ergebnisse in vorgefertigten Rastern soll verschriftlicht werden, welche Stärken und Schwächen der junge Mensch hat und wie Strukturierungshilfen ermöglicht werden können, um bspw. selbstständige Fertigkeiten zu erreichen. Ein Beispiel ist Wäsche waschen: Wie sortiere ich meine Wäsche, wie befülle ich die Waschmaschine, welches Programm wähle ich aus? Es geht dann auch darum, Empfehlungen für Förderprogramme für zu Hause oder in der Schule, am Ausbildungsplatz oder im Bereich des Wohnens zu geben.
Marvin ist ein 22-jähriger junger Mann mit Autismus und einer leichten Lernbehinderung. Er hat die Schulzeit, inklusiv beschult, ohne Abschluss beendet und lebt in einer Wohneinrichtung. Bei der Erfassung seiner Fähigkeiten durch das TTAP (im Rahmen der Autismustherapie) fällt auf, dass er vieles kann, wenn es direkt vor ihn gestellt wird, bspw. etwas sortieren, Fehler erkennen oder eine schriftliche Aufgabe bewältigen. Was ihm jedoch sehr schwerfällt ist, diese Aufgaben in Anwesenheit weiterer Personen zu erledigen. Außerdem schafft er selten den Übergang zwischen zwei Aktionen, d. h. etwas aufzuräumen und im Anschluss eine weitere Aufgabe zu beginnen. Schwierig ist für ihn auch, bei einer neuen Anforderung den nächsten Schritt anzugehen, sowie um Hilfe zu bitten, wenn er mit etwas nicht weiterkommt. Das größte Problem ist allerdings, dass er zu den meisten Tätigkeiten nicht motiviert ist, sondern sich am liebsten in sein Zimmer zurückzieht und sich mit Videospielen beschäftigt. Daher liegt die Verwirklichung des Ziels, ihn an einen Arbeitsplatz zu vermitteln, in weiter Ferne.