Читать книгу Wind der Traumzeit - Christin Busch - Страница 10
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ОглавлениеNiklas’ Mund war trocken. Blinzelnd sah er auf. 22.45 Uhr zeigte das leuchtende Zifferblatt seines Weckers an. Fast war es ihm gelungen, einzuschlafen, doch dann hatte der Durst ihn doch noch davon abgehalten. Schlaftrunken tastete er nach der Mineralwasserflasche, die immer neben seinem Bett stand. Als er feststellte, dass sie leer war, schlug er missmutig die Decke zurück und schwang die Beine aus dem Bett. Er würde sich eben etwas aus der Küche holen müssen. Barfuss tappte er die Treppe hinunter. Er kam ohne Beleuchtung aus, denn durch die Glastür des Wohnzimmers fiel genügend Licht in die Diele. Er vernahm leise Stimmen und blieb neben der Tür stehen. Gleich darauf wurde ihm klar, dass es Tom war, der sich mit seiner Mutter unterhielt. Sie schienen regelrecht zu diskutieren. Wie gebannt stand er neben der angelehnten Tür und hörte zu. Er hatte nur wenig Mühe, dem Gespräch zu folgen. Seine Englischkenntnisse waren besser, als er seiner Mutter gegenüber zuzugeben bereit war, denn Small Talk mit »Mr. Tom« war das, wonach ihm am wenigsten der Sinn stand. Kurz darauf wurde er blass, als ihm klar wurde, dass dieser Mann seine Mutter eifrig zu überzeugen versuchte, mit ihm nach Australien zu gehen. Niklas nagte aufgeregt an seiner Unterlippe. Er bemerkte nicht einmal, dass seine Füße inzwischen eiskalt geworden waren. Plötzlich war er hellwach. Die leisere Stimme seiner Mutter war schlechter zu verstehen als die von Tom. Dennoch glaubte Niklas herauszuhören, dass sie nicht abgeneigt war, diesem Mann zu folgen. Wie konnte das sein? Dachte Mama wirklich, sie könnte ihn und Marie einfach wie Möbelstücke einpacken und in dieses fremde Land verfrachten? Ihm wurde heiß und kalt zugleich. Das würde er nicht mitmachen. Schule, Sport und all das … Oma und Opa … Alexander und Patrick … Alles, was wirklich wichtig war, befand sich hier in Deutschland. Er dachte nach. Und Papa. Der säße dann ganz allein hier in Hamburg. Niklas spähte vorsichtig ins Wohnzimmer. Seine Mutter saß neben diesem Mann. Er hatte einen Arm um sie gelegt, und ihr Kopf lag an seiner Schulter. Jetzt hob er auch noch ihr Kinn und küsste sie. Und sie küsste ihn zurück! Niklas verzog angewidert das Gesicht. Heiße Wut brodelte in ihm. Verdammt. War Mama vollkommen verrückt geworden?
Er fuhr plötzlich zusammen, als Kuno in der Küche unerwartet zu fiepen begann. Niklas sah den dunklen Schatten hinter dem Glaseinsatz der Küchentür und hörte das laute Schnüffeln des Hundes an der Türritze. Kuno hatte ihn offenbar gewittert und wollte seiner Freude darüber Ausdruck verleihen, dass er ihn zu so später Stunde noch zu Gesicht bekommen sollte. Lautlos hetzte Niklas immer zwei Treppenstufen auf einmal nehmend nach oben. Vor seiner Zimmertür hielt er inne und hörte gerade noch, dass seine Mutter in die Diele kam und sich zu Tom umdrehend sagte: »Ich glaub, der Hund muss noch mal raus.«
Niklas schlich ins Bad und schloss die Tür. Er füllte Leitungswasser in seinen Zahnputzbecher und trank ihn in einem Zug leer. Danach stellte er den Becher an seinen Platz und starrte sein Spiegelbild sekundenlang an. »Ich kapier’s nicht!«, flüsterte er. »Ich kapier diese grenzenlose Scheiße einfach nicht.«
Max bemühte sich, ruhig zu bleiben, als Niklas ihm am nächsten Tag aufgebracht von Tom erzählte. In seinen schlimmsten Befürchtungen hatte er nicht mehr damit gerechnet, dass dieser Mann noch eine wirkliche Rolle in Noras Leben oder gar im Leben seiner Kinder spielen würde. Und doch schien es so zu sein. Er versuchte sich und Niklas zu beruhigen, indem er ihn damit tröstete, dass es sich bestimmt nur um einen Anstandsbesuch handelte, bei dem er die kleine Sophie kennen lernen wollte. Doch Niklas berichtete ihm aufgelöst davon, wie viel Zeit Nora mit Tom verbrachte, und kam zum Schluss darauf zu sprechen, dass er gehört hatte, wie die beiden über ihre Pläne, nach Australien zu gehen, geredet hätten.
Nur mit Mühe gelang es Max, die Fassung zu wahren. Er war froh darüber, dass sein Sohn kurz darauf zum Judotraining aufbrechen musste und ihr Gespräch hier vorerst endete.
Allein mit sich, hatte er eine unruhige Wanderung durch seine Wohnung aufgenommen und war schließlich auf der Dachterrasse stehen geblieben. Nachdenklich sah er über die Dächer Hamburgs bis zum Michel und hörte dem gedämpft nach oben dringenden Lärm der Autos und S-Bahnen zu. Ein paar Baumkronen in der Straße zeigten erste grüne Knospen. Müde rieb er sich die Schläfen und fuhr sich durch das silbergraue Haar über den Ohren. Er wusste, dass er kein Recht mehr hatte, sich in Noras Leben einzumischen. Sie waren nun geschieden.
Geschieden – noch immer hatte er sich nicht an dieses Wort gewöhnen können. Es war für ihn gleichbedeutend mit Verlust, Versagen und Enttäuschung. Und doch hatte das Trennungsjahr dazu geführt, dass auch er sich mit seinem neuen Leben abgefunden hatte. Der gute Kontakt zu seinen Kindern hatte ihm dabei geholfen, und die Tatsache, dass er beruflich mittlerweile voll aufdrehen konnte – ohne das früher so oft aufgetretene schlechte Gewissen der Familie gegenüber –, verschaffte ihm viel Anerkennung, aus der er Zufriedenheit und Selbstbewusstsein zog. Bis auf wenige nicht ernst zu nehmende kurze Flirts hatte er aber noch keiner Frau die Gelegenheit gegeben, einen Platz in seinem Leben einzunehmen. Die Aufmerksamkeit junger Kolleginnen im Verlag schmeichelte ihm zwar, aber er war doch umsichtig genug, nie ganz die Frage aus seinem Kopf zu verdrängen, ob sie sich wirklich für ihn interessierten oder ob sie sich nicht aufgrund seiner Stellung im Verlag einfach nur Vorteile erhofften. Er nörgelte auch nicht — wie einige seiner Kollegen – darüber, dass er einen nicht unerheblichen monatlichen Betrag für den Unterhalt bezahlen musste. Er sah dies als normal und selbstverständlich an, als seinen Beitrag zum Leben seiner Familie. Seiner Familie. Er spürte, wie Wut in ihm aufstieg. Auch wenn Nora auf ihn keine Rücksicht mehr nehmen musste, sie hatte verdammt noch mal Rücksicht auf die Gefühle ihrer Kinder zu nehmen. Max beschloss in diesem Moment, sich ein Bild von dem Ganzen zu machen. Er zog seinen kleinen elektronischen Terminplaner aus der Brusttasche seines Oberhemds und überprüfte die Termine der nächsten Tage. Rasch blockierte er die wenigen Lücken, damit seine Sekretärin ihn nicht weiter würde verplanen können. Mit zusammengebissenen Zähnen steckte er seinen Organizer wieder ein. Niemals würde er seine Kinder an diesen Mann abtreten. Er verließ die Dachterrasse und ging in der Wohnung zu seinem Schreibtisch, um zu telefonieren. Gleich darauf ließ er sich einen Termin bei seinem Rechtsanwalt geben. Notfalls müsste er eben die Justiz bemühen, Nora daran zu hindern, womöglich seine Kinder außer Landes zu bringen.
Einige Tage später ließ das Läuten des Telefons Nora zusammenfahren. Sie hatte direkt neben dem Apparat gestanden und war damit beschäftigt gewesen, Ordnung in das wüste Sammelsurium von Jacken, Mützen, Halstüchern und Fleece-Pullovern zu bringen, das sich in schönster Regelmäßigkeit immer wieder in der Diele einfand. Sie hängte eine Jacke an die Garderobe und griff zum Hörer. »Bergmann.«
»Ja, hier auch.«
Nora konnte eine gewisse Nervosität nicht unterdrücken. »Hallo, Max.«
»Ich muss dich sprechen, Nora. Hast du morgen Abend Zeit?« Noras Herz schlug schneller. Sie ahnte, dass es etwas Unangenehmes war, und sie sehnte sich danach, dass endlich Ruhe einkehrte. »Worum geht es denn, Max?«
»Das würde ich lieber in Ruhe besprechen. Also, morgen Abend?«
»Ich werde meine Eltern anrufen und sie fragen, ob sie auf die Kinder aufpassen. Aber ich denke, es wird klappen.«
»Gut. Soll ich dich abholen oder wollen wir uns so um acht im Stromboli treffen?«
»Wir können uns dort treffen. Bis dann.«
Mit einem unbehaglichen Gefühl legte Nora das schnurlose Telefon auf dem Schuhschrank. Doch gleich daraufnahm sie es wieder in die Hand, um mit ihrer Mutter zu telefonieren. Danach konnte sie sich nicht mehr auf ihre Arbeit konzentrieren, also zog sie Sophie an, setzte sie in die Karre, nahm den Hund an die Leine und machte sich auf den Weg zu Toms Hotel. Eigentlich wollten sie sich erst in einer Stunde treffen, aber sie hatte kurzerhand beschlossen ihn abzuholen. Die frische, kalte Morgenluft würde ihr gut tun und ihr vielleicht zu einem klaren Kopf verhelfen. Doch nach wenigen Minuten fing Sophie an zu quengeln. Seit kurzer Zeit hatte sie die Fähigkeit entdeckt, selbstständig laufen zu können, wenn sie sich mit einer Hand an der Karre festhielt. Nun ließ sie es nur in äußerst wenigen Fällen zu, einfach in die Sportkarre verfrachtet zu werden … Viel lieber wollte sie selbst laufen. Nora seufzte, hob die Kleine aus ihrem Winterfußsack und stellte sie neben die Karre, wo sie sich sofort festhielt und daraufwartete, dass es losging. Natürlich waren sie jetzt so langsam, dass Tom ihnen nach einer Weile bereits entgegenkam. Sophie wurde ganz zappelig, als sie ihn sah. Lächelnd beugte er sich zu ihr hinunter, hob sie in die Luft und schwenkte sie herum. Mit ihr auf dem Arm kam er zu Nora auf die andere Seite der Karre und küsste sie zärtlich. Keiner von beiden beachtete den dunklen Mercedes, der vor dem Hoteleingang geparkt hatte und nun langsam vorüberfuhr.