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Hamburg schien an diesem Frühlingstag zu vollkommen neuem Leben zu erwachen. Die Erleichterung der Menschen war spürbar. Alle schienen sich über einen blauen Himmel zu freuen, an dem nur ein paar weiße Schönwetterwolken dahintrieben, und über das helle Strahlen der Sonne, die sich nun eifrig darum bemühte, das erste Grün in den Beeten und Parkanlagen hervorzulocken. Nach beinahe einer ganzen Woche trüben Nieselwetters war endlich das Grau-in-Grau der vergangenen Tage verschwunden, und die Menschen konnten aufatmen.

Hafenarbeiter saßen auf Mauern und Gerüsten in der Mittagssonne und aßen ihre Brote oder rauchten genüsslich eine Zigarette, die wettergegerbten Gesichter der Sonne zugewandt. Liebespaare saßen Händchen haltend in den Straßencafés und hatten nur Augen füreinander, Mütter mit Kleinkindern hatten plötzlich wieder die Muße, in Ruhe zu warten, wenn ihre Sprösslinge zehn Schritte vor- und zwanzig Schritte zurückliefen, um die Welt zu entdecken. Im trüben Regenwetter der letzten Woche hatten dieselben Kinder in Regencapes verpackt in der Karre gesessen, während ihre Mütter eilig durch den Regen gehetzt waren. Selbst die Autofahrer, die sich durch den zähen Hamburger Verkehr quälen mussten, schienen heute gelassener. Nora Bergmann beobachtete zufrieden ihren Hirtenhund, dessen Fell ebenfalls zum ersten Mal seit einer ganzen Woche wieder im Sonnenlicht glänzte. Er umschnüffelte ausgiebig einen dicken Baum, um schließlich an ausgewählter Stelle sein Bein zu heben. Nora hatte eben ihre kleine Tochter Sophie bei einer Freundin abgegeben, die sich erboten hatte, an diesem Nachmittag ein paar Stunden auf sie aufzupassen. Ihre beiden größeren Kinder Niklas und Marie würden das Wochenende bei ihrem Vater Max verbringen. Nora verspürte eine ständig ansteigende Unruhe, während sie an die kommenden Stunden dachte. Zu Hause angelangt, lief sie sofort nach oben ins Schlafzimmer und begann zu überlegen, was sie anziehen sollte.

Etwa drei Stunden später trat sie nervös von einem Fuß auf den anderen, während ihre Augen die Fluganzeigetafel im Hamburger Flughafen studierten. Kurz darauf entdeckte sie die Maschine, die sie gesucht hatte. Ihr Herz schlug bei dem Gedanken, dass dieses Flugzeug Tom nach Deutschland beziehungsweise von Frankfurt nach Hamburg brachte, unwillkürlich schneller. Sie sah auf ihre Armbanduhr und seufzte, denn sie war viel zu früh dran. Aber nachdem sie Sophie bei ihrer Freundin gelassen hatte, hatte sie nichts mehr zu Hause gehalten. Es war ihr so vorgekommen, als hätte sie etwa hundertmal in den Spiegel geschaut, sich gekämmt, ihr Aussehen überprüft und sich dabei gefragt, ob sie sich wohl sehr verändert hatte, seit sie Tom das letzte Mal in Australien gesehen hatte.

Nora schlenderte langsam an den Schaltern der unterschiedlichen Fluggesellschaften und Autovermietungen vorüber, ohne sich jedoch wirklich für irgendetwas zu interessieren. Ihre Gedanken schweiften in die Vergangenheit, zurück zu Tom, den sie vor anderthalb Jahren am Flughafen in Sydney hinter sich gelassen hatte. Sie erinnerte sich plötzlich wieder ganz deutlich an den Schmerz in ihrem Inneren, den sie damals verspürt hatte, als das große Flugzeug abgehoben und sie mit sich genommen hatte – nach Hause zu ihrem Mann und ihren beiden Kindern, zu ihrem fest gefügten Leben in Hamburg, in dem es keinen Platz für Dr. Tom Morrison gab, so sehr sie sich das auch gewünscht hätte. Schließlich hatte er allein ihr mit seiner Liebe nach dem schweren Unfall in Australien ins Leben zurückgeholfen, hatte in ihr Gefühle geweckt, die so tief gingen, wie sie es sich nie hatte vorstellen können. Darüber hinaus hatte sie sich nicht nur in ihn, sondern auch in sein Land verliebt. Doch nach ihrer Rückkehr in die Hamburger Normalität hütete sie diese Empfindungen wie einen geheimen Schatz in ihrem Herzen, denn nie hatte sie auch nur mit dem Gedanken gespielt, ihre Ehe und ihr Familienleben zu zerstören.

Nora seufzte und blieb vor dem Schaufenster eines Travelshops stehen. Alles war dann doch auseinander gebrochen, als sie zu Hause die Schwangerschaft festgestellt hatte. Sie hob das Kinn und atmete tief durch. Sophie. Toms Tochter. Mittlerweile war sie überglücklich, die Kleine zu haben. Sie gehörte genauso wie Niklas und Marie zu ihrem Leben. Und wider Erwarten hatten sie inzwischen alle den Auszug von Max aus dem gemeinsamen Haus verkraftet. Er hatte sich mit der Tatsache, dass sie das Baby hatte bekommen wollen, nicht abfinden können. Jetzt endlich war ein neuer Lebensrhythmus eingekehrt, und Nora hatte nach vielen Monaten der inneren Zerrissenheit ihre Ruhe wiedergefunden. Nachdenklich starrten ihre ausdrucksvollen grünbraunen Augen vor sich hin. Sie fragte sich, ob es richtig gewesen war, Tom über seine Vaterschaft zu informieren, oder ob es nicht nur neue Schwierigkeiten auf den Plan rufen würde. Natürlich hatte er ein Recht darauf zu wissen, dass er eine Tochter hatte, aber sie befürchtete ein wenig, erneut ihr seelisches Gleichgewicht zu verlieren, wenn er hier auftauchte. Zu tief waren ihre Gefühle füreinander gewesen, als dass sie es einfach würde wegstecken können, wenn er nach seinem Besuch wieder verschwand. Sosehr sie die Sehnsucht nach ihm in ihrem Herzen bekämpfte, so sehr wusste sie jedoch auch, dass er in Deutschland nicht glücklich werden konnte. Er liebte sein Land, die Freiheit des unermesslich weiten australischen Outback, die Sonnenauf- und die Sonnenuntergänge, die die rote Erde in ein goldenes Licht tauchten – und nicht zuletzt seine Aufgabe als Arzt beim Royal Flying Doctor Service, Australiens fliegendem Ärztedienst. Eine Reportage über eben diese Einrichtung hatte Nora damals dorthin geführt, nach Cameron Downs – zu Tom.

Einige Zeit später suchten Toms Augen unruhig die Menge nach Nora ab. Schließlich entdeckte er sie, und sein Puls ging schneller. Sie hatte sich kaum verändert. Auch sie winkte ihm jetzt zu und wartete, bis er mit seinem Koffer den Zollschalter hinter sich gebracht hatte. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als er auf sie zukam. Blitzartig wurde ihr klar, dass er immer noch die gleiche Wirkung auf sie hatte wie in Australien. In den vielen Monaten, die sie ohne ihn verbracht hatte, war sie der Selbsttäuschung erlegen, dass sie durchaus ohne ihn glücklich werden könnte. Jetzt, in diesen Sekunden, wusste sie, dass sie wohl ohne ihn leben konnte, aber niemals ohne ihn glücklich werden würde. Sekundenlang stand er vor ihr und sah ihr in die Augen. Alles musste darin zu lesen gewesen sein, denn er zog sie jetzt vorsichtig an sich und atmete erleichtert auf. »Nora! Ich habe dich so vermisst.«

Sie schloss kurz die Augen und fühlte immer noch ungläubig seine Nähe. »Ja, ich dich auch, Tom.«

Sie verspürte Nervosität, als er fragend ihr Gesicht musterte und sich dann zu ihr hinunterbeugte, um sie zu küssen. Als seine Lippen ihren Mund trafen, war es, als wären sie nie auseinander gegangen. Innerlich aufgewühlt nahm sie bewusst seine Nähe wahr und konnte sie doch kaum glauben. Er löste sich von ihr und sah sich neugierig um.

»Hast du die Kleine nicht mitgebracht?«

Sie lächelte. »Nein. Ich wollte dich erst einmal allein sehen.« Als sie bemerkte, wie seine gespannte Erwartung abrupt nachließ, nahm sie seine Hand. »Du wirst sie ja gleich sehen. Sie ist bei einer Freundin. Ich wollte sie auch nicht in diesen Lärm und dieses Gewimmel hier am Flughafen stürzen. Der Hamburg Airport ist im Moment eine riesige Baustelle. Wir müssen ein gutes Stück zum Parkhaus laufen. Ich dachte, mit deinem Gepäck und der Kinderkarre wird das zu umständlich. Komm mit, ja?«

Er nickte und hob seinen Koffer vom Wagen.

»Dieses Wochenende kannst du bei uns wohnen, bei Sophie und mir. Niklas und Marie sind zwei Tage bei Max.«

Als sie seinen Koffer in ihrem Auto verstaut hatten und kurze Zeit später Fuhlsbüttel hinter sich ließen, sah er interessiert aus dem Fenster. Gleich darauf neckte er sie und legte mit gespieltem Entsetzen beide Hände auf das Handschuhfach. »Huh, du fährst ja auf der falschen Seite!«

Nora grinste. »Hör bloß auf! Euer Linksverkehr war der blanke Horror für mich.«

Nach einer Weile unterdrückte er nur mit Mühe ein Gähnen, und sie musste lachen.

»Man fühlt sich wie gerädert nach über dreiundzwanzig Stunden Flug, nicht?«

Er seufzte und streckte die Beine von sich, so weit es eben ging.

»Ja, aber ich hatte die ganze Zeit etwas, auf das ich mich freuen konnte.«

»Eine äußerst charmante Antwort nach dieser langen Reise, das muss ich sagen. Sophie und ich wissen sie zu schätzen.«

Er lachte leise, bevor er wieder ernst wurde. »Ich bin so froh dich wiederzusehen, Nora.« Er schaute nachdenklich aus dem Fenster. »Ich hatte nicht mehr zu hoffen gewagt, dass du dich noch einmal bei mir meldest … und jetzt? Jetzt haben wir sogar eine gemeinsame Tochter. Ich kann es einfach nicht glauben. Es ist zu verrückt.«

Nora schmunzelte. »Ja, verrückt ist wohl das richtige Wort.« Dann wurde auch sie ernst. »Weißt du, Tom, vielleicht sollte es so sein. Ohne das Baby hätte ich wahrscheinlich nie den Mut gehabt, mit den Kindern noch einmal neu anzufangen. Und dieser Neuanfang war schwer. So schwer, wie ich es insgeheim befürchtet hatte. Manchmal habe ich nicht geglaubt, dass ich es allein schaffe. Die Geburt, das neue Kind, Niklas und Marie, die ihren Vater vermissten und nicht verstanden, warum wir uns eigentlich getrennt hatten.« Sie brach ab und starrte auf die Straße vor sich. »Das Verhältnis zu meinem Sohn hat einen ziemlichen Knacks bekommen. Er hatte relativ schnell begriffen, dass dieses Baby nicht von Max war. Von da an war mein Leben so schwer, das kannst du dir gar nicht vorstellen.«

Tom griff nach ihrer Hand und drückte sie kurz. Nora parkte den Wagen vor einem hübschen kleinen Einfamilienhaus und wandte sich Tom zu. »Wartest du einen Moment? Ich hole nur schnell unsere Tochter. Du willst sie doch sicher das erste Mal allein sehen ohne fremde Leute, oder?«

Er nickte. Obwohl er sich sehr darauf freute, spürte er auch Angst, dass er der Situation nicht gewachsen sein könnte. Dass er nur schwer damit fertig werden könnte, wenn die Kleine schreien und ihn ablehnen würde. Während er Nora nachsah, wie sie hinter der Gartenpforte verschwand, schalt er sich für seine Skepsis. Es wäre völlig normal, wenn das Kind zurückhaltend wäre. Schließlich hatte die Kleine ihren Vater noch nie gesehen. Nachdenklich starrte er vor sich hin und schaute erst wieder auf, als die Gartentür sich leise quietschend öffnete. Nora hatte sich die Wickeltasche umgehängt und trug das kleine Mädchen auf dem Arm. Ihre Augen strahlten vor Stolz und Spannung. Tom lächelte unwillkürlich. Nora öffnete routiniert die Wagentür hinter dem Fahrersitz und setzte Sophie in ihren Kindersitz. Tom hatte sich umgedreht und sah dabei zu, wie sie angeschnallt wurde. Als die Kleine ihn wahrnahm, spuckte sie mit einer Mischung aus Neugierde und Überraschung ihren Schnuller aus und betrachtete ihn offen. Dieser erste Blick in ihr Gesicht traf Tom mitten ins Herz. Große dunkle Augen mit erstaunlich langen Wimpern musterten ihn. Unter einer Stupsnase war ihr herzförmiger, kleiner Mund vor Verwunderung leicht geöffnet. Ihr Blick wanderte nun wieder Sicherheit suchend zu ihrer Mutter.

Nora hatte sie lächelnd beobachtet. Ihre Stimme klang dunkel und warm, als sie ihrer Tochter eine Haarsträhne aus den Augen strich, die sich vorwitzig unter ihrer Mütze hervorkringelte. »Schau mal, Sophie, wir beide haben Besuch bekommen. Das ist Tom, dein Papa.«

Die Kleine hörte aufmerksam zu, während ihre Augen hin und her wanderten. Sie schien zu begreifen, dass dies ein denkwürdiger Moment war, und Nora wiederholte mehrmals fröhlich ihre Worte. Schließlich strahlte Sophie Tom an und fuchtelte aufgeregt mit den Händen.

Nora lachte glücklich. »Na, wenn das kein guter Anfang ist.« Tom war sichtlich bewegt, löste seinen Blick von der Kleinen und sah zu Nora. »Es ist ein unglaubliches Gefühl, eine so süße Tochter zu haben.« Er wandte sich wieder um und betrachtete das Kind, das nun hingebungsvoll das Band weich kaute, mit dem der Schnuller an der Jacke befestigt war. Er war nachdenklich geworden. »Ich habe so viel verpasst, Nora. Ich hätte sie gerne früher kennen gelernt – von Anfang an. Es ist … nicht richtig, dass sie ihren Vater noch nie gesehen hat …«

Nora ahnte, dass ihn diese Erkenntnis verletzte, und sie nagte einen Moment lang schuldbewusst an ihrer Unterlippe. Obwohl sie geradeaus auf die Fahrbahn sah, wusste sie genau, welcher Ausdruck jetzt in seinen Augen lag. In der stillen Seitenstraße, in der sie gerade waren, setzte sie den Blinker, fuhr rechts ran und hielt den Wagen an. Nachdem sie den Motor ausgemacht hatte, drehte sie sich zu Tom und legte unsicher eine Hand auf sein Knie. »Bitte, Tom, mach mir deshalb keine Vorwürfe, ja? Ich wusste damals nicht, wo mir der Kopf stand, was richtig oder falsch war, was ich tun sollte … Max hätte mir vermutlich verziehen, wenn ich das Baby nicht bekommen hätte. Mehr oder weniger hing alles nur von mir ab. Meine Entscheidung für das Kind machte unsere Ehe tatsächlich kaputt. Ich litt unsagbar darunter, dass meine heile Familie auseinander brach, dass meine Kinder unglücklich waren. Und das einzig und allein durch meine Schuld. Ich … ich hätte Niklas und Marie in dieser Zeit keinen ›neuen‹ Mann an meiner Seite zumuten können. Ich wollte sie nicht auch verlieren. Und Max hätte bestimmt nicht zugestimmt, dass sie bei mir bleiben, wenn du aufgetaucht wärst.« Ihre Augen wanderten unsicher über sein Gesicht. »Kannst du das nicht verstehen, Tom? Wenigstens ein bisschen?«

Tom riss sich zusammen und nickte. »Doch, irgendwie schon. Es tut mir auch Leid, was hier alles los war – durch meine Schuld. Aber du warst der wichtigste Mensch in meinem Leben, und du solltest wissen, dass ich die Verantwortung für die Kleine sehr gerne eher übernommen hätte und auch in Zukunft eine Rolle spielen möchte.«

Sie beugte sich zu ihm und schaute ihm in die Augen. In diesem Moment war sie glücklich und traurig zugleich. »Ich weiß, Tom. Aber wie um alles in der Welt wollen wir das hinkriegen? Mit dieser Entfernung zwischen unseren Leben?«

Ihr Blick hielt ihn fest, als er ihr Gesicht in seine Hände nahm und sie zärtlich ansah, »Ich weiß, dass wir es schaffen können, glaub mir einfach, mein Herz.«

Ihre Lippen trafen sich, und Tom schloss die Augen. Zu lange hatte er nur davon träumen können, sie wiederzusehen, sie erneut in den Armen zu halten und zu spüren. Genau genommen hatte er schon jede Hoffnung darauf aufgegeben und war nur noch in seinem Beruf, in seiner Aufgabe aufgegangen. Nora schlug das Herz bis zum Hals. Es war, als wollte es mit Tom wegfliegen. All ihre Gefühle für ihn waren plötzlich wieder da, und sie ahnte, dass sie es kaum noch einmal würde ertragen können, ohne ihn zu leben. Mit verzweifelter Leidenschaft erwiderte sie seinen Kuss. Jetzt und hier war er da. Und er hatte diese lange Reise nur gemacht, um sie und seine Tochter zu sehen.

Sophie begann zu quengeln und streckte sich bockig in ihrem Autositz. Offensichtlich wurde es ihr zu warm, denn sie zerrte an ihrer Mütze, die schon halb über einem Auge saß, was sie obendrein wütend zu machen schien. Nora lachte, wandte sich um und löste die Mützenbänder unter dem Kinn der Kleinen, die trotzdem weiterquengelte. Nora ließ den Motor wieder an und warf Tom einen verschmitzten Seitenblick zu. »Ich sage dir, mit uns dreien wird das wildromantisch. Deine Tochter wird uns schon zeigen, wo es langgeht.«

Er grinste, drehte sich zu dem Kind um, bückte sich, um ein Babyspielzeug aufzuheben, das hinuntergefallen war, und gab es der Kleinen. Als er mit ihr schäkerte, lächelte sie ihn plötzlich mit mehreren blitzend weißen Zähnchen an, und er schmolz förmlich dahin.

Nora hatte das Kind immer wieder im Rückspiegel beobachtet und lächelte nun. »Wetten, dass sie dich schon heute Abend um den kleinen Finger wickeln wird?«

Tom wandte den Blick nicht von Sophie ab. »Na wenn schon. Wir haben ja auch einiges nachzuholen, nicht wahr?«

Kurz daraufbog Nora in eine Einbahnstraße ab und parkte den Wagen vor einer Doppelgarage.

Tom sah sich neugierig um. »Sind wir da? Hier wohnt ihr?«

Nora zog den Schlüssel aus dem Zündschloss und nickte. Sie stieg aus, öffnete die Tür hinter sich und nahm das Kind aus dem Sitz. Tom war ebenfalls ausgestiegen und schaute sich ein wenig unsicher um. Es war eine ruhige Wohngegend mit hübschen Einfamilien- und Reihenhäusern. Liebevoll gepflegte Gärten umgaben die Häuser. Er folgte Nora über den bogenförmig gepflasterten Weg zur Haustür, hinter der jetzt dröhnendes Gebell ertönte. Nora zögerte einen Moment. »Ach Mensch, Kuno hätte ich fast vergessen. Nimmst du mal die Kleine? Ich bringe den Hund besser erst in die Küche. Seit ich mit den Kindern allein bin und Sophie geboren wurde, hat er sich hier zum Mann im Haus aufgeschwungen und beschützt uns, was das Zeug hält.«

Tom hörte kaum, was sie sagte. Er war damit beschäftigt, seine Tochter zu halten, und genoss dieses Gefühl, sein Kind zum ersten Mal auf den Armen zu tragen. Er nahm den zarten Babyduft wahr und spürte die weichen Löckchen, die seine Wange streiften, als sie den Kopf bewegte, um mit den Augen aufmerksam den großen Hund zu verfolgen, der von Nora am Halsband in die Küche gezogen wurde und bellend dagegen protestierte, so schnell abgeschoben zu werden. Sophie streckte ein Ärmchen aus. »Da! Tuno!«

Tom lächelte und drückte sie sacht an sich.

Nora kam zurück. »So, jetzt kannst du dich erst einmal in Ruhe umsehen.« Sie übernahm die Kleine, setzte sie auf einem Schränkchen in der Diele ab und begann ihr die Jacke und die winzigen Schuhe aus- und dicke Antirutschsocken anzuziehen. Tom hatte sich an der Haustür nach seinem Koffer gebückt und stellte ihn in der Diele ab. Er zog sich die Jacke aus und folgte Nora ins Wohnzimmer. Sophie krabbelte zu einer großen Decke vor den bodentiefen Fenstern, die auf die Terrasse hinausführten, und beschäftigte sich mit einer Kiste, in der sich Spielzeug befand.

Tom zog sich die Schuhe aus und setzte sich im Schneidersitz zu ihr auf den Boden. Wie selbstverständlich begann er ihr verschiedene Spielzeuge zu reichen. Nora beobachtete die beiden glücklich und stellte zwei Gläser auf den Couchtisch. Dann lief sie in den Keller und kam mit einer Flasche Sekt zurück. Tom stand auf, nahm ihr die Flasche ab und öffnete sie. Als der Korken sich mit einem lauten Knall löste, wandte sich Sophie mit kugelrunden Augen um. Doch als Tom und Nora lachten, strahlte sie ebenfalls, vergaß ihr Spielzeug und krabbelte auf die beiden zu. Nora schob die Gläser außer Reichweite, gab ihr eine Babytrinktasse mit Tee und nahm sie auf den Schoß.

Als sie später beide das Kinderzimmer verließen und nach unten gingen, spürte Nora zum ersten Mal, seit Tom angekommen war, so etwas wie Befangenheit. Trotz ungläubiger Freude, ihn nach so langer Zeit wiederzusehen, war es auch ein merkwürdiges Gefühl, ihn hier zu haben – hier in ihrem ureigensten Zuhause, dem Haus, das sie gemeinsam mit Max geplant und gebaut hatte. Tom war an ihr vorbei zur Terrassentür gegangen und sah eine Weile nach draußen in den von mehreren Lampen beleuchteten Garten. Als könnte er ihre Gedanken lesen, wandte er sich nach einigen Sekunden um und zögerte. »Nora? Ich … ich kann auch in einem Hotel schlafen.«

Sie sah erschrocken auf und schüttelte den Kopf.

Er ging zu ihr und setzte sich neben sie. »Irgendwie habe ich hier das Gefühl, in dein Leben einzubrechen. Ja, ein wenig ist es sogar so, dass ich meine, hier nichts verloren zu haben.«

Nora hatte plötzlich Angst, ihn schon wieder zu verlieren. War doch zu viel Zeit vergangen? Hatte sie zu lange gezögert, ihm zu schreiben? Sie suchte seinen Blick. »Ich bin hier! Und deine Tochter ist hier. Sind wir nicht Gründe genug, dass du bleiben solltest?« Sie verstummte kurz, bevor sie mit leiser Stimme fragte: »Oder willst du lieber gehen, Tom?«

Sekundenlang sahen sie sich offen in die Augen, und ohne weitere Worte darüber verlieren zu müssen, wich alle Unsicherheit dem Gefühl ihrer tiefen Liebe und Verbundenheit, die ein Band bildete, das sie immer wieder zusammenführen würde, egal, wie weit sie auch auseinander gingen, und egal, was noch geschehen würde. Tom hatte schon damals gespürt, dass sie füreinander bestimmt waren. Nora erkannte es jetzt mit einer beinahe erschreckenden Deutlichkeit. Sie sehnte sich mit einer so schmerzlichen Intensität danach, in seinen Armen zu liegen, dass sie es nicht mehr länger ausgehalten hätte, wenn er sie jetzt nicht endlich voll zärtlicher Bestimmtheit an sich gezogen und geküsst hätte. Alles um sie herum schien zu verblassen, als sie seine Hände fühlte, die sanft und doch fordernd über ihren Körper glitten, während seine Lippen sich nicht von ihrem Mund lösen konnten. Auch Tom lebte es aus, dieses Gefühl verzweifelter Sehnsucht, das ihn nicht mehr verlassen hatte, seit er dem Flugzeug in Sydney nachgesehen hatte, das Nora von ihm fortgebracht hatte. Dem ersten heftigen Schmerz des Verlustes war im Laufe der Zeit eine dumpfe Resignation gefolgt, die sich bitter um sein Herz gelegt und es ein wenig betäubt hatte. Nora, die Liebe seines Lebens, jetzt – nach all den Monaten – wiederzuspüren, den Duft ihrer Haut zu atmen, brachte die Erinnerung in einer Deutlichkeit zurück, die ihn die Zeitspanne von eineinhalb Jahren vergessen ließ.

Auf der Couch an Tom geschmiegt, genoss Nora es, seinen Herzschlag zu fühlen. Sie hatte ihren Kopf auf seine Brust gelegt und wünschte sich, ewig so dort liegen bleiben zu können. Toms Finger strichen sacht über ihren Rücken und blieben am Hals in einer zierlichen goldenen Kette hängen. Unwillkürlich ertastete er den Anhänger und warf einen Blick auf das kleine goldene Känguru. Er lächelte zufrieden. »Du trägst es noch.« Sie hob den Kopf, um ihn anzusehen, und erwiderte sein Lächeln. »Ich habe deine Kette immer getragen. Sie hat mir das Gefühl gegeben, etwas von dir bei mir zu haben. Ich hatte sie sogar um den Hals, als Sophie geboren wurde.«

Er zog ihren Kopf zu sich herunter und küsste sie wieder. Seine Stimme klang rau. »Ich liebe dich immer noch so, mein Herz.« Seine Augen blickten ernst. »Ich wäre gern bei dir gewesen. War es eine schwere Geburt?«

Sie stützte ihre Unterarme auf seiner Brust ab und sah ihn herausfordernd an. »Nein, Dr. Morrison. Es lief alles ziemlich glatt. Wir haben es beide gut überstanden, und Ihre Tochter hatte dreimal die ausgesprochen positiven Apgar-Zahlen 9, 10, 10. Für die interessiert sich doch jeder Arzt, oder?«

Er kniff sie in die Taille und lachte, als sie zusammenzuckte. »Du bist unmöglich. Ich vergehe vor Sorge bei dem Gedanken an dich und die Geburt unserer Tochter, und du machst dich lustig. Sophie ist schließlich mein einziges Kind. Ich will alles wissen, was mit ihr zu tun hat.«

Am nächsten Tag verspürte Nora den Wunsch, Tom mehr von ihrer Heimatstadt zu zeigen. Sie verdrängte die Gedanken an die aufmerksamen Blicke der Nachbarn, die jetzt am Wochenende in den Gärten arbeiteten und das Kommen und Gehen von ihr und Tom mit der Kleinen mit unverhohlener Neugier verfolgten. Nora hatte ein Tagesticket für die S-Bahn gekauft und fuhr mit Tom kreuz und quer durch Hamburg, um ihm die schönsten Ecken zu zeigen. Am Spätnachmittag bummelten sie über die Landungsbrücken und machten schließlich auch noch eine Hafenrundfahrt. Neugierig sah Tom sich um, als das Schiff ablegte. Große Werftanlagen wurden gerade von Scheinwerfern angestrahlt, riesige Containerschiffe schienen sich in ihrer Größe gegenseitig überbieten zu wollen, und die Lichter der Kräne blinkten im Abenddunst, während auf der gegenüberliegenden Seite am Eibufer noble Wohnhäuser an ihnen vorüberzogen. Zwei Stunden später ließen sie den Abend gemeinsam ausklingen. Sophie hatte zwar ein wenig gequengelt und sich verwirrt umgesehen, als sie aus der Karre gehoben und umgezogen worden war. Schließlich war sie jedoch in ihrem eigenen Bett wieder eingeschlafen. Nora war sehr froh darüber gewesen, denn sie wusste, dass dieser Abend erst einmal der letzte war, den sie mit Tom allein verbringen konnte. Morgen waren Niklas und Marie wieder zu Hause. Sie genoss Toms Nähe. Immer noch kam es ihr unglaublich vor, hier neben ihm zu sitzen. Er hob ihr Kinn an und sah ihr lange in die Augen. Nora erwiderte seinen Blick, den sie so sehr vermisst hatte. Dann fühlte sie seine Lippen und vergaß jeden Gedanken an die kommenden Tage.

Wind der Traumzeit

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