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Als der dunkle Mercedes von Max vor dem Haus hielt, Aklopfte Nora das Herz bis zum Hals. Tom bemerkte ihre Aufregung und griff nach ihrer klammen Hand.

»Bleib ruhig, Nora. Und rechne nicht mit Begeisterungsstürmen, ja?«

Sie nickte stumm und erwiderte den Druck seiner Hand. Gespannt sahen sie zu, wie Niklas und Marie aus dem Auto stiegen, ihre Rucksäcke über die Schulter warfen und witzelnd und lachend ihrem Vater zuwinkten, der langsam anfuhr, wendete und dann zweimal kurz hupend an ihnen vorbeizog. Schwatzend und sich gegenseitig schubsend kamen die Kinder den Gartenweg entlang. Nora öffnete die Haustür, umarmte Marie und strich Niklas über den Kopf. Er schätzte mit seinen zwölf Jahren die Bezeigungen mütterlicher Liebe nicht mehr besonders, und Nora respektierte das. Sie musterte die beiden kurz. »Wir haben Besuch.«

Marie spähte neugierig in Richtung Wohnzimmer. Es war Sonntagabend und eher ungewöhnlich, dass sie um diese Zeit jemand besuchte. »Wer ist denn da?«

Nora sah Niklas fest in die Augen, bevor sie Maries Frage beantwortete. »Sophies Vater ist da.«

Marie schaute sie verblüfft an, während Niklas sofort die Stirn runzelte. Nora legte einen Arm um die beiden. »Kommt, sagt hallo.«

Tom hatte Sophie auf dem Arm, als Nora mit den Kindern eintrat. Als er die Tür klappen hörte, wandte er sich um und lächelte. Die beiden wirkten befangen. Er beschloss, den Anfang zu machen, und ging auf sie zu. »Hallo, ich bin Tom. Hi, Niklas, hi, Marie.« Er verstummte hilflos. Zu mehr reichten seine Deutschkenntnisse nicht aus, und so kam ihm Nora zu Hilfe.

»Tom ist extra aus Australien hergekommen. Leider spricht er fast nur Englisch. Aber Niklas, du müsstest ihn eigentlich schon ganz gut verstehen mit deinem Englisch.«

Niklas schien sich von seiner Überraschung erholt zu haben. Trotzig legte er den Kopf ein wenig in den Nacken zurück. Er bemühte sich um einen möglichst desinteressiert lässigen Gesichtsausdruck. »Nein, ich glaube kaum. Außerdem muss ich noch Mathe lernen. Wir schreiben morgen einen Test.« Er drehte sich um und ging ruhig aus dem Zimmer. Nora schluckte und rief ihm hinterher: »Aber es gibt gleich Abendessen.«

»Ich hab keinen Hunger. Papa war mit uns bei McDonald’s.« Enttäuscht sah Nora Tom an, der unmerklich den Kopf schüttelte und beruhigend zwinkerte. Sophie streckte zappelig beide Arme nach ihrer Schwester aus. »Ma-i.« Nora lächelte. Sie liebte die offen gezeigte Begeisterung ihrer Jüngsten für ihre Schwester. »Ja, deine Marie ist wieder da, nicht?«

Schüchtern war Marie näher gekommen und nahm Tom ihre kleine Schwester ab. Während sie mit ihr zur Krabbeldecke ging und mit großen Bauklötzen spielte, wanderte ihr Blick immer wieder neugierig zu Tom. Unsicherheit befiel sie. Sie war es nicht gewohnt, einen Mann an der Seite ihrer Mutter zu sehen. Mittlerweile hatte sie die Trennung ihrer Eltern zwar akzeptiert, insgeheim jedoch hegte sie nach wie vor die Hoffnung, dass sie wieder zusammenkämen. Sie registrierte durchaus die Vertrautheit und Nähe, die zwischen ihrer Mutter und diesem fremden Mann herrschte. Sie wusste zwar, dass Sophie einen anderen Vater hatte als Niklas und sie, aber tatsächlich hatte sie nie einen Gedanken daran verschwendet. Dass der Vater von Sophie nun leibhaftig vor ihr stand, brachte sie durcheinander. Obendrein hatte Niklas sich sofort verdrückt, was ihr ebenfalls Sicherheit nahm. Sie vertiefte sich scheinbar in das Spiel mit Sophie, während Tom und Nora den Abendbrottisch deckten und sich angeregt unterhielten. Marie hörte ihre Mutter zum ersten Mal außerhalb der Ferien Englisch reden und fühlte sich ausgeschlossen. Nach einer Weile stand sie auf und ging zur Tür.

»Mama, ich hab auch keinen Hunger. Aber ich bin müde und mach mich schon mal im Bad fertig, ja?« Ihr Blick ging verlegen zu Tom. »Gute Nacht.«

Tom zwinkerte ihr freundlich zu. »Gute Nacht, Marie.«

Als sich die Tür schloss, ließ sich Nora auf einen Stuhl am Esstisch fallen. »Na, das ist ja ein Superstart gewesen. Es tut mir Leid.«

Er nahm ihr gegenüber Platz und schüttelte den Kopf. »Also ich finde, es ist nicht übel gelaufen. Was erwartest du denn von deinen Kindern? Dass sie dem Mann, den sie für das Scheitern der Ehe ihrer Eltern verantwortlich machen, um den Hals fallen? Nein. Sie verhalten sich ihrem Vater gegenüber loyal, das ist absolut normal. Lass ihnen Zeit, Nora. Es wäre schrecklich für mich, wenn du sie aus Erziehungsgründen dazu zwingen würdest, freundlich oder nett zu mir zu sein. Vorerst genügt diese vorsichtige Höflichkeit.«

Nora lächelte. Insgeheim hatte sie sich für das abweisende Verhalten ihrer Kinder Tom gegenüber verantwortlich gefühlt. Froh darüber, dass er es offenbar so verständnisvoll aufnahm, stand sie auf und ging zu ihm. Feine Lachfältchen vertieften sich um ihre Augen, als sie ihn ansah. »Es ist kein Wunder, dass ich mich damals gleich in dich verliebt habe.«

Er zog sie leise lachend auf seinen Schoß und küsste sie, bis Sophie eilig herankrabbelte und sich an seinem Knie hochzog.

Nora und Tom hatten am Abend zuvor beschlossen, dass Tom in ein kleines Hotel in der Nähe zog. Sie wollten Niklas und Marie Zeit geben. Außerdem befürchtete Nora, dass die kurz bevorstehende Scheidung von Max mit den bis jetzt einvernehmlich abgesprochenen Sorgerechtsregelungen womöglich in Gefahr geraten könnte, wenn Tom bei ihr bliebe, und sei es auch nur besuchsweise. Am späten Abend brachte Nora Tom mit dem Hund zum Hotel. Entspannt bummelten sie den etwa zehnminütigen Weg entlang und genossen die klare Sternennacht. Die Luft war für die Jahreszeit erstaunlich mild. Aus einem Garten mit großem Teich war ein lautes Froschkonzert zu vernehmen. Als sie an einem etwas verwilderten parkähnlichen Grundstück vorbeikamen, blieb Nora abrupt stehen, und Tom sah sie verblüfft an. Ihre Augen funkelten im Licht der Straßenlaterne, und ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Sie legte einen Finger auf ihre Lippen und bedeutete ihm zu lauschen. Tom hörte es nun auch — ein wohltönendes, melodiöses Gezwitscher, das immer wieder in kleine Schluchzer überging und anschließend mit einigen langgezogenen Tönen in erneuten Gesang wechselte. Nora schmiegte sich an ihn.

»Weißt du noch? In den Blue Mountains hab ich dir von der Nachtigall erzählt. Das ist sie. Nie hätte ich geglaubt, dass wir sie einmal zusammen hören werden.«

Tom schloss sie fest in seine Arme. Als sie sich küssten, ruckte Kuno so ungeduldig an der Leine, dass sie ins Straucheln gerieten. Nora lachte und machte ihn los.

»Na lauf schon, du Stimmungsmörder.«

Die Hoffnung auf ein friedliches Miteinander musste Nora schon in den nächsten Tagen aufgeben. Niklas verschwand meistens kommentarlos in seinem Zimmer, wenn Tom auftauchte, und Marie schwieg verstört vor sich hin, bis sich ihr die erste Gelegenheit bot, sich unauffällig zurückzuziehen. Schließlich war es sogar zu einem heftigen Streit zwischen Nora und ihrem Sohn gekommen.

Niklas hatte danach die Tür wütend hinter sich zugeworfen und war laut die Treppe hinaufgestapft. Ein weiteres Türknallen oben verriet ihr, dass er in sein Zimmer gegangen war. Einige Sekunden starrte sie ihm sprachlos nach. Natürlich hatte es schon öfter Auseinandersetzungen zwischen ihnen gegeben – was ja nicht weiter erstaunlich war, da Niklas mitten in der Pubertät steckte. Voller Grauen erinnerte sich Nora daran, wie schlimm er reagiert hatte, als sie mit Sophie schwanger gewesen war und sie und Max sich getrennt hatten. Damals hatte sie geglaubt, sie würde ihn verlieren. Und doch hatte er sich nach einiger Zeit wieder gefangen und war umgänglicher geworden. Als Sophie auf die Welt kam, war er stets der große Bruder gewesen. Doch jetzt plötzlich ging von ihm eine solche Wut, ja beinahe schon so etwas wie Hass aus, dass es Nora innerlich erschütterte. Sie zögerte einige Sekunden, dann folgte sie ihm langsam nach oben. Vor seiner Zimmertür blieb sie stehen und klopfte kurz an, bevor sie die Klinke hinunterdrückte. Niklas hatte sich aufs Bett geworfen und funkelte sie böse an. Provozierend langsam griff er nach dem Kopfhörer seines tragbaren CD-Spielers und streifte sie über. Gleich darauf vernahm Nora das Hämmern der Bässe und seufzte unwillkürlich. Ihr war klar, dass es schwierig werden würde. Betont ruhig ging sie zu seinem Bett und setzte sich ans Fußende.

Ihr Sohn starrte stur an die Decke und bewegte den Kopf im Takt der Musik. Er zeigte deutlich, dass ihn nichts anderes interessierte.

Nora wartete eine Weile. Dann stand sie auf, griff nach dem Gerät und schaltete es aus.

Niklas ließ ein alterstypisches »Eey!« hören, doch bevor er es wieder hatte einschalten können, hatte Nora den Stecker des Kopfhörers abgezogen und setzte sich mit dem Gerät auf dem Schoß wieder ans Fußende. Sie beobachtete ihn kurz und sprach leise.

»Nicky, ich möchte mit dir reden.« Als er den Mund aufmachte, unterbrach sie ihn bestimmt. »Und ich möchte, dass wir beide dabei ruhig bleiben.« Sie schluckte ihre Enttäuschung über seinen Auftritt hinunter. »Du kannst mir so ziemlich alles sagen, aber nicht in dem Ton, den du eben angeschlagen hast. Hörst du?«

Er verdrehte gequält die Augen und sah gelangweilt an die Decke. Nora widerstand der Versuchung einfach zu gehen und ebenfalls laut die Tür hinter sich zuzuknallen. Mein Gott, manchmal konnte sie nicht fassen, was für ein bockiger Teenager aus ihrem früher so niedlich-friedlichem Babysohn geworden war. Sie ignorierte seine Miene und ließ ihren Blick durch sein Zimmer wandern.

»Also, warum bist du so sauer? Auf wen bist du wütend? Auf mich? Dann sag mir bitte, was ich dir getan habe.«

Niklas schwang seine langen Beine an ihr vorbei und stand auf. Es schien ihm schwer zu fallen, seine Mutter anzusehen. Also ging er zum Fenster. Die Rollläden waren wegen der tief stehenden Sonne halb heruntergelassen, und wohl mehr, um überhaupt etwas zu tun, betätigte er den elektrischen Motor, der sie nach oben fahren ließ. Augenblicklich wurde es heller im Zimmer. Er stützte sich mit den Händen auf der Fensterbank ab und sah scheinbar interessiert nach draußen. Ohne sich umzudrehen, fing er unvermittelt an zu sprechen.

»Ich mag es nicht, dass du hier deinen Lover anschleppst. Was bezweckst du eigentlich damit? Willst du, dass er unser neuer Vater wird?« Jetzt drehte er sich zu ihr um und sah sie böse an. »Da kannst du lange warten. Ich habe bereits einen Vater. Und Marie auch. Wir wollen keinen anderen.«

Im Grunde konnten diese Worte Nora nicht wirklich überraschen, und dennoch hatte sie nach all der Zeit gehofft, dass sich die familiären Wogen nach der Trennung von Max ein wenig beruhigt hätten. Sie seufzte und drehte den CD-Spieler in ihren Händen.

»Weißt du, Niklas, ich will Tom nicht als neuen Vater für euch. Euer Vater ist und bleibt Max.« Sie zögerte kurz. »Und wir haben uns wirklich einmal sehr geliebt, sonst hätten wir euch beide nicht bekommen.« Sie überhörte sein verächtliches Schnauben und fuhr fort. »Das wird uns auch für immer verbinden, dass wir zwei wunderbare, absolute Wunschkinder bekommen haben. Aber im Leben gibt es keine Garantie für die Ewigkeit, auch nicht in der Ehe. Wir haben zu wenig Zeit miteinander verbracht und uns wahrscheinlich deshalb auseinander entwickelt. Und wenn ich ganz ehrlich bin, habe ich das bis zum Schluss immer versucht zu ignorieren. Selbst nachdem ich mich in Tom verliebt hatte, wollte ich das nicht wahrhaben.« Sie sah ihrem Sohn geradewegs in die Augen. »Ich brauche mich nicht vor dir zu rechtfertigen, das weißt du. Aber ich würde mir so sehr wünschen, dass du mich ein wenig verstehst. Ich verlange ja gar nicht von dir, dass du begeistert bist – das wäre wohl auch zu viel des Guten –, aber kannst du nicht akzeptieren, dass es Tom in meinem Leben gibt? Davon einmal abgesehen, hat auch Sophie ein Recht auf ihren Vater, wie Marie und du auf Max.«

Niklas konnte sich nur mit Mühe beherrschen, als er sich erneut zu seiner Mutter umwandte.

»Das ist nicht mein Problem, sondern deins. Du allein hast alles kaputtgemacht. Es ist deine Schuld, dass Papa nicht mehr hier bei uns wohnt. Und weißt du was? Ich an seiner Stelle wäre auch abgehauen!« Er holte tief Luft und sah Nora fest ins Gesicht. »Ich will hier nicht mehr bleiben, wenn dein Typ hier ein und aus geht! Ich will zu Papa ziehen. Und das ist mein Ernst.«

Nora traten Tränen in die Augen. Das konnte doch einfach nicht wahr sein. Immer wenn sie wieder an ein Glück mit Tom glaubte, drohte ihr bisheriges Leben auseinander zu brechen. Jetzt war ihre Ehe gescheitert, die Trennung von Max vollzogen und die Scheidung nur mehr eine Formsache, da stand sie plötzlich vor der Gefahr, ihre Kinder doch noch zu verlieren. Sie wandte den Blick ab und senkte den Kopf. Kalte Angst stieg in ihr auf. Die Vorstellung, auch nur eines ihrer drei Kinder nicht mehr bei sich zu haben, ließ sie innerlich verzweifeln. Lang aufgeschossen stand ihr ältestes Kind vor ihr. Trotzig hielt Niklas die Lippen zusammengepresst. Ein leichtes Beben um den Mund verriet noch kindliche Anspannung, doch die Entschlossenheit in seinem Blick ließ bereits den jungen Erwachsenen erkennen, der er in absehbarer Zeit sein würde. Unter der ersten Sonnenbräune des Frühjahrs schimmerten schon einige Sommersprossen auf dem Nasenrücken und den Wangenknochen, und plötzlich erinnerte sich Nora an sein Gesicht mit eben diesen Sommersprossen und einer riesigen Zahnlücke am Tag seiner Einschulung. Jetzt besuchte er schon das Gymnasium, und seine Haare waren mit Gel gestylt … Mühsam riss sie sich zusammen und stand auf. Sie hatte erkannt, dass es keinen Zweck mehr hatte, heute auf ein vernünftiges Gespräch mit Niklas zu hoffen. Wortlos legte sie den CD-Spieler auf sein Bett und verließ das Zimmer.

Als sie die Treppe nach unten ging, ertönte der Türgong. Kuno flitzte bellend aus der Küche herbei. Nora hielt ihn am Halsband fest und öffnete die Tür. Tom lächelte ihr entgegen und gab ihr einen Kuss. Der Hund wedelte kurz und lief dann an ihm vorbei in den Garten.

Tom zwinkerte ihr zu. »Siehst du, er liebt mich schon. Ich erkenne es daran, dass er mich nicht mehr fressen will. Das ist ein gutes Zeichen.«

Nora zwang sich zu einem Lächeln und zog ihn an der Hand mit sich ins Wohnzimmer, wo sie Sophie aus dem Laufstall hob und zärtlich an sich drückte. Sie spürte auf einmal schmerzlich, wie kurz die Zeit war, in der einem ein Kind ganz allein »gehörte« und in der man bedingungslos geliebt wurde, einfach weil man Mutter war. Ihre Lippen strichen über das Köpfchen und berührten das weiche Haar. Was würde Sophie ihr wohl in elf Jahren vorwerfen? Sie versuchte sich zusammenzureißen und ging scheinbar geschäftig mit der Kleinen hin und her, um hier und da etwas aufzuheben oder wegzulegen. Tom ließ sie in Ruhe. Er hatte ihre Anspannung wahrgenommen und wollte sie nicht drängen. Er war hinter sie getreten und schäkerte mit Sophie. Als sie ihn anlächelte, streckte er die Arme aus.

»Gibst du sie mir, Nora?«

Nora sah verwirrt aus. Als sie seine Geste bemerkte, reichte sie ihm die Kleine und machte sich an der Wickeltasche zu schaffen. Entnervt schaute sie an die Decke, als von oben laute Musik ertönte und die Bässe hämmerten. Tom war ihrem Blick gefolgt – und wusste plötzlich Bescheid.

Nora schüttelte den Kopf und sah ihn an. »Hast du Lust, mit uns beiden einen Spaziergang zu machen?«

Tom nickte und hob seine Tochter bis unter die Zimmerdecke. »Nichts würde ich lieber tun, als mit den Damen meines Herzens auszugehen.« Er grinste und wurde dann ernst. »Was ist mit Marie? Will sie vielleicht mitkommen?«

Nora nahm Sophies Anorak von der Garderobe und zog das Mützchen aus dem Ärmel. »Nein, sie ist bei ihrer Freundin. Die Eltern haben einen Bauernhof mit Pferden. Ich darf sie dort immer erst so spät wie irgend möglich abholen, sonst ist sie sauer.« Tom lachte. »Na, dann kommt, ihr beiden.«

Einige Zeit später schob Tom die Sportkarre, während Nora den Hund an der Leine führte. Sie atmete tief durch. Es war einer der ersten wärmeren Frühlingstage. Der Himmel leuchtete trotz des fortgeschrittenen Nachmittags immer noch strahlend blau, und das erste zaghafte Grün kündigte das Frühjahr an. Nora ließ den Blick über die Alster wandern und merkte, wie die Anspannung etwas nachließ. Tom sah sie von der Seite an und nahm ihre freie Hand. »Du hattest wieder Ärger mit Niklas, was?«

Sie schloss kurz die Augen und nickte. »Ja, und dieses Mal war es schlimmer als je zuvor.« Sie musste schlucken, weil sie fühlte, dass sie kurz davor war, vor Tom die Fassung zu verlieren. Zu sehr hatte sie das, was Niklas gesagt hatte, verletzt. Im Grunde hatte er ihr mehr oder weniger zu verstehen gegeben, dass sie als Mutter versagt hatte. Er wollte nicht mehr bei ihr bleiben. Nora bemühte sich, gegen das enge Gefühl im Hals anzukämpfen.

Tom hatte ihr Gesicht beobachtet und war stehen geblieben. Ihr Kummer war offensichtlich.

»He! Komm her. So furchtbar kann es doch gar nicht gewesen sein.« Er zog sie an sich und hielt sie fest.

Nora verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter. Nirgendwo auf der Welt fühlte sie sich sicherer als bei ihm. Leise und stockend sagte sie: »Er will nicht bei mir bleiben. Niklas will zu Max ziehen.«

Tom drückte sie an sich und schloss kurz die Augen. Ihr Haar berührte seine Wange, dann löste sie sich von ihm, um ihn ansehen zu können. Mit den Handrücken fuhr sie sich über die Augen. »Max und ich hatten uns auf ein gemeinsames Sorgerecht geeinigt, aber die Kinder sollten bei mir wohnen, damit sich so wenig wie möglich für sie ändert.« Sie biss sich kurz auf die Unterlippe. »Und jetzt wirft mir Niklas vor, ich würde dich als neuen Vater anschleppen. Da wolle er lieber zu Max ziehen. Er könne seinen Vater verstehen, denn er wäre ebenfalls abgehauen.« Sie schluckte erneut und wandte Tom den Rücken zu. Er schlang beide Arme um sie. Seine Lippen waren so dicht an ihrem Ohr, dass sie seinen warmen Atem spürte. »Er war wütend, Nora. Bestimmt hat er es nicht so gemeint. Niklas hat es im Moment nicht leicht. Er ist kein Kind mehr, aber auch noch nicht erwachsen. Auf der einen Seite will er selbst bestimmen, auf der anderen darf er das noch nicht. Das alles verunsichert ihn. Es wäre unnormal, wenn sich ein Junge seines Alters nicht an seinem Vater orientieren würde, und das sowohl im Positiven wie im Negativen. Entweder will er genauso werden wie er oder aber er will auf keinen Fall so werden wie er. Wie dem auch sei, Max ist die Identifikationsfigur von Niklas. Damit müssen wir leben.«

Nora hatte ihm schweigend zugehört. Ihre Augen brannten noch immer. »Er hat es ernst gemeint. Das habe ich deutlich gespürt.« Sie wandte sich zu Tom um und sah ihm in die Augen. »Aber, er erpresst mich doch. Er verlangt, dass ich auf dich verzichte, und das, obwohl du doch nur zu Besuch bist. Das ist nicht fair.«

Tom nickte. »Ja, aber er empfindet es auch nicht als fair, dass seine Eltern auseinander gegangen sind. Auch wenn er das nicht zugibt, aber da liegt der eigentliche Grund für sein Theater.«

Sie schwiegen eine Weile und gingen langsam weiter. Sophie war in der Karre eingenickt. Nora registrierte es und seufzte, denn es bedeutete, dass die Kleine heute Abend nicht ins Bett zu bekommen wäre.

Tom räusperte sich. »Hast du dir schon einmal überlegt, wie es mit uns weitergehen soll?«

Nora sah ihn unsicher an. Wollte er sie jetzt auf seinen Abschied vorbereiten? »Wie meinst du das? Willst du schon zurück nach Australien?«

»Nein, noch nicht. Aber irgendwann schon.« Er betrachtete die schlafende Sophie. »Ich … ich möchte nicht mehr auf euch verzichten, Nora. Ich will miterleben, wie meine Tochter aufwächst. Und ich will dich endlich an meiner Seite haben.«

Nora starrte ihn sprachlos an.

Tom nutzte diese Pause rasch, um weiterzureden. »Bitte, Darling, denk doch einmal darüber nach. Wir lieben uns. Wir haben ein gemeinsames Kind. Und du hast auch mein Land geliebt. Wir könnten dort zusammen glücklich werden, das weiß ich.«

Nora atmete heftig aus. »Mein Gott, Tom! Nach all der Zeit fängst du wieder von vorne an. Mein Leben und das Leben meiner Kinder findet hier statt. Hier haben sie ihren Lebensmittelpunkt, ihre Freunde, ihre Freizeitbeschäftigungen … Sie sind hier fest verwurzelt. Nach dem Theater, das Niklas so schon deinetwegen veranstaltet, wage ich nicht, mir seine Reaktion auf einen solchen Vorschlag auszumalen.«

Tom schüttelte heftig den Kopf. »Diesmal ist doch alles anders, Nora. In einer Woche wirst du von Max geschieden. Du bist dann frei, und wir könnten ganz von vorn beginnen. Siehst du denn nicht diese Chance?«

Nora fühlte sich beklommen. Wieder einmal fürchtete sie um ihre Familie. Wieder einmal hatte sie Angst, die Kinder zu verlieren, ihnen zu viel zuzumuten, sie durcheinander zu bringen. »Ach Tom, du malst dir da etwas in den schönsten Farben aus. Glaubst du im Ernst, Max würde trotz der Scheidung zusehen, wie seine Kinder nach Australien verschwinden? Hast du eine Ahnung, was der Begriff ›gemeinsames Sorgerecht‹ bedeutet?« Tom schluckte enttäuscht. »Du willst diese Möglichkeit ja nicht einmal in Betracht ziehen.« Sein Blick wurde hart. »Aber ich soll auf meine Tochter verzichten, hm? Damit euer Leben so bleibt, wie es ist. Mir ist es zuzumuten, dass sie so weit von mir entfernt aufwächst, ja? Ich werde das aber ebenfalls nicht einfach hinnehmen.«

Er ließ die Karre los und wandte ihr abrupt den Rücken zu. Nora war durcheinander. Sie hatte Tom noch nie so aufgebracht erlebt. Angst stieg in ihr auf. Bestand hier jetzt auf einmal – rein rechtlich gesehen – die Möglichkeit, dass er um Sophie kämpfte? Konnte er ihr die Kleine wegnehmen? Verdammt, warum bloß hatte sie ihm geschrieben? Gleich darauf ärgerte sie sich über die Antwort in ihrem Kopf: Weil sie ihn liebte. Weil sie ihn schmerzlich vermisst hatte. Sie liebte ihn so sehr, dass sie gar nicht bemerkt hatte, wie ihr Leben nur noch einfach so dahingeplätschert war. Und dennoch – immer wenn sie die Liebe zu ihm auslebte, immer wenn sie mit ihm zusammen war, geriet ihr Leben aus den Fugen. Alles, aber auch alles war in Unordnung. Sie spürte erneut Angst und Verzweiflung in sich aufsteigen. Was sie auch tat, sie konnte es nie allen Recht machen. Sie hatte das Gefühl, von einem Fehler in den nächsten zu stolpern. Verdammt, sie war doch kein Teenager mehr, sie war eine erwachsene Frau mit drei Kindern. Warum bloß glaubten alle, sie könnten über sie bestimmen? Innerlich verzweifelt, aber durchaus entschlossen nahm sie die Leine von Kuno kürzer und packte die Griffe von Sophies Karre. Sie ließ Tom stehen und ging schnellen Schrittes davon. Sie würde sich nicht erpressen lassen. Von niemandem.

Doch sie kam nicht weit, denn Tom holte sie sofort ein und hielt sie am Ärmel fest.

»Bitte, Nora.«

Sie wollte nicht in seine Augen sehen. Sie wusste, dass sie darin alles lesen konnte. Und sie wusste auch, dass sie seinem Blick nichts entgegenzusetzen hatte. Sie blieb stehen und schaute erneut auf die Alster.

Toms Stimme klang eindringlich. »Darling, lass uns nicht streiten. Ich suche doch nur nach einer Lösung für uns. Kannst du denn meine Gefühle überhaupt nicht verstehen? Du redest von einer optimalen Lösung für Niklas und Marie und Max. Aber was ist mit mir? Mit uns? Und mit Sophie?«

Nora fühlte sich hilflos und überfordert. Sie wusste, dass ihre Liebe zu Tom sie wehrlos machte. Diese Liebe stand aber in unmittelbarem Zusammenhang zu allen Konflikten und Schwierigkeiten, die sich mit ihren Kindern ergaben. Der Wunsch, es allen Beteiligten recht zu machen, führte sie an ihre Grenzen.

Immer hatte sie in solchen Fällen zurückgestanden und verzichtet. Das würde bedeuten, dass sie zum zweiten Mal auf Tom verzichtete. Wie würde ihr Leben aussehen, wenn er nach Australien zurückkehrte? Allein der Gedanke daran löste eine tiefe Angst vor diesem Verlust in ihr aus. Sie dachte an Sophie. Sie war noch so klein, und die Entfernung nach Australien war so groß, dass sie auch bei viel gutem Willen mehr oder weniger ohne ihren Vater aufwachsen würde. Nora fuhr sich über die Schläfen. Aber da waren auch Niklas und Marie, und da war Max, der viele Jahre zu ihrem Leben gehört hatte. Was um Himmels willen sollte sie nur tun? Verzweiflung lag in ihrem Blick, als sie aufschaute und direkt in Toms Augen sah. Sie wollte ehrlich sein, aber sie wollte auch zu ihren Gefühlen stehen. Sie war gerade fünfunddreißig Jahre alt. Ihr wurde plötzlich mit erschreckender Grausamkeit klar, dass sie es bis an ihr Ende bedauern würde, wenn sie auf Tom verzichtete, auf die Liebe ihres Lebens. Sie lehnte den Kopf gegen seine Brust.

»Ich will ja bei dir bleiben. Nichts wünsche ich mir mehr. Aber ich hab solche Angst, meine Kinder zu verlieren. Mich erschreckt die Vorstellung, unser Leben hier aufzugeben. Ich fürchte mich vor den Reaktionen meiner Freunde, Nachbarn, meiner Familie … Wie würde sich das alles auf das Sorgerecht für Niklas und Marie auswirken? Kannst du dir auch nur annähernd vorstellen, wie ich mich bei alldem fühle, Tom?«

Sein Herz schlug schneller. Er spürte, dass sie ihn dieses Mal nicht einfach zurücklassen würde. Und er schwor sich, um sie zu kämpfen. Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie vorsichtig.

»Das kann ich, mein Herz. Ich muss dich nur ansehen. Alles, was du fühlst, kann ich in deinen Augen lesen. Und ich weiß, dass du das umgekehrt genauso kannst. Nora, das mit uns, das ist etwas ganz Besonderes. Gib es nicht auf. Wir können es schaffen, glaub mir. Ich verspreche dir, dass ich alles tun werde, was in meiner Macht steht, damit du glücklich wirst.«

Wind der Traumzeit

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