Читать книгу Wind der Traumzeit - Christin Busch - Страница 14

10

Оглавление

Niklas blieb weiterhin stur und bockig. Ihm missfiel die Vorstellung, die Scheidung seiner Eltern so einfach hinzunehmen und obendrein widerspruchslos den neuen Mann an der Seite seiner Mutter zu akzeptieren und sich ans andere Ende der Welt verfrachten zu lassen.

Insgeheim fand er Australien nicht uninteressant. Als noch alles in Ordnung gewesen war, hatte er oft an der Begeisterung seiner Mutter für dieses Land teilgehabt. Auch die Institution des Flying Doctor Service, des größten Luftrettungsdienstes auf der Erde, faszinierte ihn, denn er träumte davon, einmal Pilot zu werden. Aber eher hätte er sich die Zunge abgebissen, als das vor diesem Tom zuzugeben.

Niklas hatte sich für seinen Vater entschieden und beabsichtigte, nicht nach Australien auszuwandern. Seine unnachgiebige Haltung stürzte Marie in schwere Konflikte. Vom Tag ihrer Geburt an war sie ein »Mama-Kind« gewesen. Durch ein tiefes, unauflösliches Band mit ihrer Mutter verbunden, quälte sie die Vorstellung, von ihr getrennt zu leben. Aber Marie hing auch sehr an ihrem großen Bruder, der ihr unmissverständlich klar gemacht hatte, dass er nicht nach Australien wolle. Marie litt unsagbar unter den familiären Querelen. Ihre Eltern, zwischen denen nie laute oder böse Worte gefallen waren, stritten nur noch. Ihr Vater hatte Anwälte eingeschaltet, die ihrer Mutter böse Briefe schrieben. Immer wenn so ein Brief in der Post gewesen war, bemerkte Marie, wie ihre Mutter blass wurde. Oft hatte sie gehört, wie sie dann in der Küche oder im Schlafzimmer geweint hatte, wenn sie sich unbeobachtet glaubte.

Marie verlor ihr Interesse am Reiten, an der Schule und an den Treffen mit ihren Freundinnen. Sie hatte kaum mehr Appetit, wurde blass und magerte ab. Sie verstand nicht, warum sich alles ändern musste, begriff nicht, warum ihr Vater mit einem Mal so böse auf ihre Mutter war. Sie wusste nur, dass es mit Tom zusammenhing, dem sowohl ihr Vater als auch ihr Bruder die Schuld an allem gab. Aber Marie konnte Tom nicht hassen. Er war Sophies Vater, und in ihrem Herzen spürte sie, dass auch ihre kleine Schwester ein Recht auf ihren Vater hatte. Darüber hinaus mochte sie Tom. Er war immer freundlich zu ihr, ohne sich in irgendeiner Weise aufzudrängen oder »einzuschleimen«, wie es Niklas genannt hätte. Aus der fröhlichen, selbstsicheren Marie wurde ein zutiefst verunsichertes, ernstes Mädchen, das beim geringsten Anlass in Tränen ausbrach.

Zunächst hatte Niklas sie wegen ihrer meist neutralen Haltung Tom gegenüber attackiert und gehänselt, später jedoch hatte er erkannt, wie sehr sie unter der Situation litt. Seine kleine Schwester hatte sich selbst verloren — auf der Suche nach einem festen Halt zwischen Mutter, Vater und Bruder. Sie war psychisch nicht in der Lage, sich klar für einen zu entscheiden, weil sie dann sofort von dem Kummer zerfressen wurde, sich gleichzeitig gegen eine andere geliebte Person entschieden zu haben.

Niklas saß an seinem Schreibtisch und dachte nach. Der PC surrte leise und erinnerte ihn daran, dass er eigentlich mit der Internet-Recherche für sein Biologiereferat beschäftigt sein sollte. Als Marie sich eben einen Radiergummi von ihm geliehen hatte, war ihm erneut aufgefallen, wie sehr sich seine früher so fröhliche kleine Schwester verändert hatte. Seine Gedanken kreisten wieder um das Thema, das ihn nun schon seit Wochen beschäftigte. Er wollte nicht fort von hier. Aber er wollte auch nicht mehr diese bösen Auseinandersetzungen zwischen seinen Eltern miterleben, die eigentlich nur alle unglücklich machten und in reine Machtkämpfe ausarteten, nach dem Motto: »Ich kriege die Kinder!« – »Nein, du kriegst sie nicht!« Obwohl Niklas sich auf die Seite seines Vaters gestellt hatte, missfiel ihm dessen offensichtliche Freude daran, seine Mutter per Anwalt zur Verzweiflung zu treiben beziehungsweise sie zu einer Entscheidung zwischen Tom und ihren Kindern zwingen zu wollen. Seufzend wandte er sich seinem PC zu.

Noras Hände zitterten bereits, bevor sie den Briefkasten wieder verschlössen hatte. Ein Blick auf den Briefumschlag hatte genügt, und sie wusste, dass das Schreiben von Max’ Anwälten kam. Sie klemmte sich die Fernsehzeitung und die Werbezettel unter den Arm und ging mit der Post in die Küche. Tom war mit Sophie spazieren gefahren, Marie spielte mit Kuno im Garten, und Niklas saß oben in seinem Zimmer über den Hausaufgaben. Sie konnte den Brief also in Ruhe lesen und musste sich vor niemandem zusammennehmen.

Ihr Herz schlug rasend schnell, als sie sich an den Küchentisch setzte und das Schreiben aus dem Umschlag zog. Sie zwang sich dazu, noch einmal tief durchzuatmen, dennoch gelang es ihr nicht, ihr Unbehagen zu verdrängen. Zu viele solcher Schreiben hatten sie in den letzten Wochen erreicht und sie zermürbt. Sie hatte den unterkühlten Fachjargon der Anwälte fürchten gelernt. Scherten die sich überhaupt darum, was sie bei den betroffenen Leuten anrichteten? Ging es denn nur darum, einen Fall zu gewinnen oder zu verlieren? Langsam senkte sie den Kopf und begann zu lesen. Wieder und wieder las sie den Brief und bemerkte gar nicht, dass ihr die Tränen in die Augen geschossen waren. Mühsam sickerte der Sinn der glatten Formulierungen in ihr Bewusstsein. Max hatte nunmehr das alleinige Sorgerecht für Niklas und Marie beantragt. Er wollte ihr die Kinder wegnehmen. Die Begründungen für diesen Antrag trafen sie sehr. Zutiefst verzweifelt legte sie die Unterarme auf den Tisch, vergrub ihr Gesicht darin und weinte stumm. Nur das haltlose Zucken ihrer Schultern verriet, dass sie wirklich nicht mehr weiterwusste.

Niklas stand wie versteinert in der Diele und starrte durch die angelehnte Küchentür seine Mutter an. In der Hand hielt er den Locher, den er sich gerade aus dem Arbeitszimmer geholt hatte, um die frisch ausgedruckten Seiten für sein Biologiereferat lochen und abheften zu können. Im ersten Moment war er versucht, zu ihr zu laufen, um sie zu trösten. Doch dann zögerte er. Vielleicht wäre es ihr unangenehm, dass er sie so entdeckt hatte? Sein Blick fiel auf den Brief, der vor ihr auf dem Tisch lag. Auch er erkannte den Briefkopf und das Firmenzeichen der Anwaltskanzlei, die seinen Vater vertrat. Solche Briefe waren in letzter Zeit häufig in der Post gewesen. Entschlossen wandte er sich um und ging leise die Treppe wieder hinauf.

Drei Stunden später saß Niklas auf der Betoneinfassung eines Wasserspiels, das im Innenhof des großen Verlagshauses vor sich hin plätscherte. Die Frühlingssonne hatte sich gehalten und setzte glitzernde, tanzende Lichtpunkte auf die sprudelnde Wasseroberfläche. Er sah zum wiederholten Mal auf die Uhr. Sein Vater war – wie meistens – zu spät dran. Immerhin hatte er sich nach dem Anruf seines Sohns sofort bereit erklärt, ihn am Nachmittag zu treffen. Nach weiteren zehn Minuten kam Max Bergmann eilig durch die große Drehtür, sah sich suchend um und entdeckte Niklas schließlich. Mit einem Trenchcoat über dem Arm und seinem Aktenkoffer in der Hand ging er auf ihn zu.

»Entschuldige, es hat etwas länger gedauert.« Er nestelte die Autoschlüssel aus der Hosentasche, während sie zum Parkhaus gingen. »Schon gut, Papa. Das Wetter ist ja okay. Es hat mir nichts ausgemacht zu warten.«

Max warf ihm einen prüfenden Seitenblick zu. »Willst du mir nicht sagen, was du auf dem Herzen hast, hm?«

Niklas betrachtete im Gehen beiläufig seine offenen Turnschuhe. Ein wenig graute ihm vor dem Gespräch, aber er dachte wieder an seine Mutter und auch an Marie, und so riss er sich zusammen. Er wollte nicht feige sein. »Ich möchte gern in Ruhe mit dir sprechen, Papa.«

Max nickte. Ihn beschlich zwar ein beklemmendes Gefühl, aber er beschloss, sich dies nicht anmerken zu lassen. Er richtete den Schlüssel auf den Wagen, drückte einen Knopf, und sofort signalisierte ihm das Auto mit einem sonoren Surren, dass die Zentralverriegelung gelöst war. Max öffnete die Tür hinter der Fahrerseite, warf seinen Aktenkoffer mit dem Mantel auf die Rückbank und ließ sich dann hinter dem Steuer nieder. »Okay. Wo wollen wir hin? Möchtest du ein Eis essen gehen, oder wollen wir in der Wohnung zusammensitzen und eine Pizza kommen lassen?«

Niklas überlegte nicht lange. »Dann doch gern die Pizza bei dir, ja?«

Max ließ den Motor an. »Einverstanden.«

Zu Hause auf der Dachterrasse lehnte Max sich auf seinem Stuhl zurück und schlug die Beine übereinander. »Also, Nicky, was ist los?«

Niklas war aus seinen Turnschuhen geschlüpft und saß im Schneidersitz auf dem weichen Polster des Stuhls. Ein wenig verlegen sah er auf. »Weißt du, Papa, ich möchte einmal in Ruhe mit dir über uns alle und über Mama und Australien sprechen …« Er hob abwehrend die Hand, als Max sich sofort vorbeugte und etwas sagen wollte. »Lass mich ausreden. Ich weiß, du meinst, dass das eine Sache zwischen dir und Mama ist. Aber das ist nicht so. Es geht Marie und mich sehr wohl etwas an, denn es betrifft vor allem unser Leben. Wir sind nicht mehr so klein und dumm, dass ihr nach Belieben um uns streiten oder über uns entscheiden könnt.« Er machte eine Pause und war froh, dass sein Vater jetzt schwieg und abwartete. Als er fortfuhr, hatte er einen trotzigen Zug um den Mund. »Ich weiß, ihr liebt uns beide und wollt nur das Beste, aber so, wie es jetzt ist, ist es einfach nur beschissen. Du versuchst mit deinen Rechtsanwälten Mama fertig zu machen und sie aus dem Rennen zu werfen. Jedes Mal, wenn ein neuer Brief von deinen Superanwälten kommt, sitzt sie heimlich in der Küche und heult sich die Augen aus dem Kopf. Marie kann sich nicht entscheiden und ist total durcheinander. Kannst du dir vorstellen, dass sie nicht einmal mehr zum Reiten will? Sie isst kaum noch und wird immer blasser und dünner. Man braucht sie nur einmal schräg anzugucken, dann bricht sie in Tränen aus.« Niklas stockte. Eine Mischung aus Empörung und Verzweiflung war in sein Gesicht geschrieben, als er schließlich in seine Turnschuhe schlüpfte, aufstand und seinem Vater den Rücken zukehrte.

»So, wie es jetzt läuft, Papa, ist es einfach Megascheiße!«

Max schwieg sekundenlang, dann erhob er sich und ging zu Niklas. Zögernd legte er ihm eine Hand auf die Schulter. »Ich glaub dir, Nicky. Und du hast ja Recht, es muss sich etwas ändern. Aber … ich kann doch nicht einfach hier in Hamburg sitzen und zusehen, wie deine Mutter mit euch ans andere Ende der Welt verschwindet. Kannst du das denn nicht verstehen?«

Niklas nickte. »Doch, das kann ich natürlich verstehen. Aber ihr habt euch nicht einmal die Mühe gemacht, Marie oder mich zu fragen, was wir davon halten.« Er sah seinem Vater fest in die Augen. »Ich will gar nicht nach Australien. Ich will hier bleiben, Papa. Aber ich glaube, Marie würde lieber bei Mama und Sophie bleiben. Sie zerfleischt sich innerlich, weil sie weder dich noch mich verletzen will.«

Niklas’ Mundwinkel zuckten ein wenig, als er den Blick wieder der Stadt zuwandte. Max lehnte sich gegen die Betonbrüstung der Dachterrasse und sah seinen Sohn an. Erstaunt darüber, wie erwachsen der Junge schon war, kämpften Liebe und Vernunft einen harten Kampf in seinem Inneren. Sein Herz sagte ihm, dass Niklas Recht hatte. Es musste sich etwas ändern. Müde rieb er sich sekundenlang die Schläfen, bevor er aufschaute und lächelte.

»Du bist wahrscheinlich zehnmal vernünftiger als deine Eltern. Ich werde in Ruhe mit deiner Mutter reden, das verspreche ich dir. Okay?«

Niklas atmete erleichtert auf. »Okay, Papa.«

Max knuffte ihn in die Seite. »Jetzt fahre ich dich rasch nach Hause, du hast ja morgen Schule.«

Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit begleitete er seinen Sohn bis zur Haustür. Nora öffnete und wurde sofort kreidebleich, als sie ihn sah.

Erstaunt musste er zur Kenntnis nehmen, dass es ihm keine Freude bereitete, für sie zu einem Schreckgespenst geworden zu sein. Sie machte einen fahrigen Eindruck und hatte dunkle Ränder unter den Augen.

Nachdem Niklas nach oben verschwunden war, stand sie zögernd im Flur und sah Max unsicher an. Sie hatte nicht einmal mehr die Kraft, ihn wegen des neuen Anwaltschreibens zur Rede zu stellen. Es erschien ihr so sinnlos. Müde schaute sie ihn an. »Möchtest du hereinkommen?«

Max schüttelte den Kopf. Die Aussicht, im Wohnzimmer womöglich auf diesen Tom zu treffen, hätte seine Entscheidung sicher wieder zum Kippen gebracht. »Ich möchte in Ruhe mit dir reden. Hast du etwas Zeit?«

In Nora stiegen beklemmende Gefühle auf. Die Angst, dass er ihr womöglich einen letzten entscheidenden Schlag versetzen wollte, schnürte ihr fast die Kehle zu. Sie durfte die Kinder nicht verlieren. Aber was hatte sie seiner überlegenen Gelassenheit entgegenzusetzen? Verzweiflung? Hastig fuhr sie sich durchs Haar. »Warte mal. Ich bin gleich wieder da.« Sie verschwand im Wohnzimmer und kam kurz darauf in die Diele zurück, wo sie nach einem hellen Parka und ihrer Umhängetasche griff. Dann folgte sie Max zu seinem Wagen. Schweigend fuhren sie eine Weile. Es war, als hätte jeder von beiden Angst, den ersten Schritt zu tun.

Max musterte sie kurz von der Seite. »Hast du Hunger?«

Nora schüttelte den Kopf. Sie hätte jetzt keinen Bissen hinuntergebracht.

»Wollen wir dann ein Stück spazieren gehen?«

Nora atmete auf und nickte. Frische Luft war vermutlich das Einzige, was ihr aus ihrer Beklemmung helfen konnte.

Max parkte in einer ruhigen Nebenstraße, und sie schlenderten in der Dämmerung über einen beleuchteten Weg am Ufer der Alster entlang. Schließlich blieb Max stehen und sah Nora an.

»Niklas hat mich heute im Verlag abgeholt, weil er mit mir sprechen wollte. Er hat mir die Augen geöffnet, wie sinnlos unsere Auseinandersetzungen sind. Im Grunde helfen sie niemandem. Sie machen nur die Erinnerung an unsere guten Zeiten kaputt …«

Nora hatte das Kinn vorgereckt und sah auf den Fluss. Sie wollte abwarten, was Max zu sagen hatte. Insgeheim wusste sie, dass er Recht hatte, ihr war aber auch klar, dass es für sie beide keine zufriedenstellende Lösung aus diesem Dilemma geben würde. Sie machte ein paar Schritte auf eine Bank zu und ließ sich dort nieder.

Max folgte ihr und setzte sich neben sie. Nach kurzem Schweigen fuhr er fort. »Im Grunde ist es doch so – du willst die Kinder mit nach Australien nehmen, und ich will sie hier in Hamburg behalten. Wir haben aber noch nie daran gedacht, mit Marie oder Niklas zu sprechen, sie zu fragen, was sie wollen.« Er sah sie ernst an. »Wir tun ihnen weh, Nora, wenn wir einfach über ihre Köpfe hinweg um sie streiten oder über sie entscheiden …«

Nora schluckte unwillkürlich. Sie wusste, dass das, was Max vorbrachte, vernünftig war, aber sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass ihre Kinder Nein sagen würden, wenn sie sie fragte, ob sie mit ihr nach Australien gehen würden. Unter keinen Umständen wollte sie ihnen dazu die Gelegenheit geben. Sie liebte sie mit jeder Faser ihres Herzens, aber sie wollte auch unbedingt, dass sie bei ihr blieben. Sie schwieg weiterhin. Ihre Kehle brannte, und vor Angst brachte sie kein Wort heraus.

Max hatte sie beobachtet und lehnte sich zurück. »Nora, sie sind keine Babys mehr. Heute Nachmittag war ich zunächst völlig sprachlos, wie viele Gedanken sich unser Sohn über alles gemacht hat. Niklas erzählte mir, wie sehr Marie unter unserer Auseinandersetzung leidet. Er ist davon überzeugt, dass sie gerne bei dir bleiben möchte, doch sie plagen auch Schuldgefühle mir gegenüber.« Max sah, wie Nora die Zähne zusammenbiss. »Nora, Nicky will nicht nach Australien. Er möchte hier bei mir in Hamburg bleiben.« Er schwieg sekundenlang, bevor er hinzufugte: »Er wird bald dreizehn. Er verdient ein Mitspracherecht.«

Nora versuchte den Kloß in ihrem Hals hinunterzuschlucken. Aufsteigende Wut half ihr dabei. Ihre Augen sprühten Funken. »Du versuchst mir also allen Ernstes hier klar zu machen, dass wir einfach unsere beiden Kinder unter uns aufteilen sollten, ja? Wie praktisch, dass wir zwei haben. Eins für mich und eins für dich. Ich bekomme Marie, und du behältst Niklas.« Sie schaute verbittert auf. »Ist das deine Wunschlösung, Max? Dass wir die Kinder, die von Maries Geburt an zusammen waren, auseinander reißen? Sie wie Hausrat unter uns aufteilen? Nur weil du es nicht ertragen kannst, dass ich ein neues Leben anfange?«

Max senkte den Kopf und schloss die Augen. Eine Weile sprach keiner von ihnen. Nora atmete so heftig, als hätte sie einen Dauerlauf hinter sich. Sie hatte in der letzten Zeit kaum geschlafen. Ihre Gedanken hatten sich ständig wie ein Karussell in ihrem Kopf gedreht. Sie war erschöpft und verzweifelt. Wieder einmal war sie an dem Punkt angelangt, an dem sie fühlte, dass es keine Zukunft für ihre Liebe zu Tom gab. Sie schluckte. Vielleicht war das hier die Strafe dafür, dass sie Max betrogen hatte. Dass sie einer Liebe nachgegeben hatte, gegen die sie einfach wehrlos gewesen war. Die Schuldgefühle ihren Kindern gegenüber hatten sie inzwischen derart zermürbt, dass sie ständig müde aussah. Ein bitterer Zug um ihren Mund war dabei, sich einzugraben. Sie schluckte heftig gegen die Verzweiflung an, die sie erneut zu überrollen drohte.

Max las in ihrem Gesicht. Er wusste, dass er dieses Mal nicht einfach aufstehen oder sie anherrschen würde, dass das Ganze dann eben von den Anwälten geregelt werden müsste. Erschreckend deutlich nahm er wahr, dass Nora am Ende war. Sie hatte sich vorgebeugt, die Hände vors Gesicht geschlagen, und weinte fast lautlos, aber das Zucken ihrer Schultern verriet ihm den Grad ihrer Verzweiflung. Betreten legte er einen Arm um sie und lehnte sie an sich. Auch Max war bewusst, dass sie sich an einem Scheidepunkt ihres Lebens befanden. Die Vorstellung, seine kleine Tochter nach Australien verschwinden zu lassen, quälte ihn ebenfalls. Seine Stimme klang belegt.

»He, Nora, du weißt, dass ich sie nicht unter uns aufteilen will. Aber wir können ihnen doch auch nicht einfach unsere Wünsche und Vorstellungen vom Leben aufzwingen. Wir dürfen sie auf ihrem Weg unterstützen, ihnen Halt geben, aber wenn sie so vernünftig sind wie unser Sohn, so liebenswert wie unsere Tochter, dann müssen wir ihnen auch eigene Entscheidungen zubilligen.« Er merkte selbst, wie nahe ihm das Ganze ging, denn auch er musste schlucken, ehe er fortfahren konnte.

»Glaub nicht, dass es für mich einen Triumph bedeutet, dass Niklas hier bleiben will. Du kannst dir kaum vorstellen, wie sehr es mich quält, Marie gehen zu lassen. Aber sie wäre unglücklich ohne dich – und ohne ihre kleine Schwester. Deshalb werde ich zustimmen, dass sie mit dir geht. Ich werde jeden möglichen Kontakt zu ihr halten, sie mit Niklas besuchen und ihr vor allem die Angst nehmen, dass sie mich verletzt, weil sie lieber bei dir bleiben will.« Er brach ab und fuhr sich nun selbst über die Augen.

Nora hob den Kopf. Ihr Gesicht war vom Weinen nass und ihre Wimperntusche verlaufen. Sie wusste plötzlich, dass Max es ernst meinte und dass er Recht hatte. Sie versuchte sich die Tränen mit den Handrücken abzuwischen, aber immer noch folgten neue. Sie fühlte, dass der Knoten, der sich um ihr Herz geschlungen hatte, dabei war, sich zu lockern. Dass dies vermutlich der Preis war, den sie für ihre Liebe zu Tom bezahlen musste. Aber sie hatte keine Ahnung, wie sie sich ein Leben ohne ihren Sohn vorstellen sollte und ob der Schmerz darüber je verblassen würde. Sie sah Max an.

Es war offensichtlich, dass er ebenfalls Probleme mit der Situation hatte. Selten zuvor hatte sie ihn so betroffen erlebt. Nora nahm zitternd einen tiefen Atemzug. Ihre Stimme klang noch unsicher. »Ich weiß nicht, ob ich das schaffe, Max. Seit sie auf der Welt sind, habe ich mich um sie gekümmert. Mir ist, als müsste ich meinen rechten Arm hier lassen.«

Max lehnte sich wieder zurück. »Ich weiß, mir geht es ähnlich. Mehr denn je ist mir klar geworden, dass ich oft zu wenig Zeit für euch hatte, aber seit wir uns getrennt haben, weiß ich, wie wichtig ihr mir seid … ich meine, was für tolle Kinder Niklas und Marie sind.«

Nora sah überrascht auf. Diese Seite an Max war ihr neu. Verheult wanderten ihre Augen dann wieder über den Fluss, dessen dunkle Wellen leise an das Ufer schwappten. Im Gegensatz zu den frühlingshaften Temperaturen des Tages war es jetzt sehr kühl geworden, und die Luftfeuchtigkeit schien die Böschung förmlich emporzukriechen wie ein Tier, das sich vorsichtig auf die Lauer legte. Nora fröstelte. Erneut atmete sie zitternd ein und aus. »Ich muss darüber nachdenken.« Sie fühlte sich krank vor Kummer. »Obwohl mir schon jetzt klar ist, dass du wahrscheinlich Recht hast, Max.« Ihre Mundwinkel zuckten. »Aber, es tut so schrecklich weh.«

Er nahm ihre Hand und drückte sie. »Ich weiß, Nora.«

Wind der Traumzeit

Подняться наверх