Читать книгу Die Macht der Zeit - Christin Busch - Страница 10

4. Kapitel

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Wie immer wurde die Rückkehr in den Alltag schwierig. Clara wollte die eben wiedergewonnene Vertrautheit festhalten und an Franks Leben teilhaben; sie hatte umgekehrt aber auch angenommen, dass er sich mehr Zeit für seine Familie nehmen würde. Schließlich sollte dieser Neustart in Kanada sie alle wieder zusammenschweißen und ihnen dabei helfen, den Schock über die Entführung von Lukas endgültig zu verarbeiten. Clara war es manchmal unbegreiflich, wie scheinbar problemlos ihr Mann zur Tagesordnung übergehen konnte.

Frank konnte ihre Erwartungen in gewisser Weise nachvollziehen, wurde aber – sobald er im Büro war – von seinen Terminen überflutet. An den meisten Tagen hatte er keine Sekunde Zeit, um über Privates nachzudenken oder sich auch nur Sorgen zu machen, dass zu Hause irgendetwas schieflaufen könnte. Er hatte den Karriereschritt ins Ausland gewagt, nun musste er sich auch an seinen Erfolgen messen lassen. Von diesem Druck einmal abgesehen, arbeitete er ohnehin sehr gerne, es machte ihm Freude und erfüllte ihn mit tiefer Zufriedenheit, Projekte zu entwickeln, sie ins Rollen zu bringen und schließlich Erfolge einzufahren. In seinem beruflichen Umfeld fühlte er sich gebraucht, gut und sicher. Er brachte das Wissen und die Erfahrung mit, um strategisch erfolgreich vorzugehen, und kam mit seiner unkomplizierten Art bei seinem Team gut an.

Es war schon Mittwoch, und Clara hatte das Haus wieder nicht verlassen. Ihr war bewusst, dass sie sich vermutlich viel schneller in der neuen Umgebung eingelebt hätte, wenn sie häufiger unter die Leute ginge. Aber irgendetwas hielt sie immer öfter davon ab, inzwischen musste sie sich regelrecht dazu zwingen, aus dem Haus zu gehen. Das tägliche Abholen ihres Sohnes von der Schule war zu einer Pflichtübung geworden. Sie hätte nicht erklären können, woran das lag. Sie schlief wenig, war deshalb oft müde und abgespannt, und sie konnte sich auch nicht mehr gut auf die Dinge konzentrieren, die ihr früher Spaß gemacht hatten. Ihre Fröhlichkeit und ihr Selbstbewusstsein waren fast verschwunden, sie hatte das Gefühl, nur noch irgendwie „zu funktionieren“. Früher war sie eigenen Interessen nachgegangen, hatte sich an der Schule von Lukas engagiert, Feste mit organisiert und in ihrer Freizeit viel gelesen. Das vermisste sie im Augenblick am meisten; sie hatte sich früher immer damit ablenken oder aus schlechten Stimmungen reißen können. Wenn sie sich in ein Buch vertiefte, war alles andere um sie verschwunden. Heute gelang ihr das einfach nicht mehr, ihre Gedanken schweiften sofort ab und schienen einem immer gleichen Kreislauf zuzustreben, der sie entmutigte und unendlich müde machte. Sie ärgerte sich selbst über diese Veränderungen, war aber außerstande, ihnen eine positive Wendung zu geben. Sooft sie sich auch sagen mochte, dass Lukas wieder zu Hause in Sicherheit sei und sie drei als Familie in ihren Alltag zurückkehren konnten, die Worte erreichten ihren Verstand, aber nie ihre Seele. Und selbst die kostbaren gemeinsamen Wochenenden konnten diesen Kreis aus Gedanken nur vorübergehend durchbrechen. Viel zu schnell war sie wieder gefangen in nervöser Angst, die sich aller Vernunft widersetzte.

Die Veränderung, die sie durchmachte, ließ sie zu einem Menschen werden, der sie nie hatte sein wollen: Sie war ständig angespannt und wurde sofort hektisch, sobald Lukas ein paar Minuten zu spät dran war. Immer musste sie Bescheid wissen, wo er sich verabredet hatte und mit wem er spielte oder gemeinsam Sport machte. Sie fragte ihn auch über die Freunde aus, mit denen er sich treffen wollte, und wog ab, ob diese gut für ihn waren. Die heute gängige Beschreibung der sogenannten Helikopter-Eltern, die ihre Kinder ständig umkreisten, förderten und mit Aufmerksamkeit überschütteten, traf in gewisser Weise nun auch auf Clara zu; sie trieb Lukas zwar nicht unbedingt zu Höchstleistungen in der Schule an oder versuchte, über ihn ihre ureigenen Wünsche zu realisieren, aber sie überwachte ihn zwanghaft und nahm ihm so jede Art von der Freiheit, die anderen Jungen in seinem Alter zugestanden wurde. Nach einem an sich guten Start in der kanadischen Schule hatten sich inzwischen mehrere Jungen von ihm abgewandt, und einige fingen sogar an, ihn als „Mama-Kind“ zu verspotten. Doch davon bemerkte Clara nichts.

Frank reckte sich und trat an das Fenster seines Büros. Alles lief bestens. Sie waren mit den Ausarbeitungen für die Präsentation gut vorangekommen, und die Überstunden der letzten Zeit schienen sich zu lohnen. Wenn er auch diesen Auftrag für die Firma hereinholen könnte, wären sie zunächst aus dem Schneider. Er fuhr sich durchs Haar und schmunzelte in sich hinein. Victor würde zufrieden sein. Er wandte sich um und sah seine japanische Assistentin Misako an der Tür stehen. Ihr Blick ruhte seltsam intensiv auf ihm, und fast ertappt schaute sie nun auf die Unterlagen in ihrer Hand.

Frank bemühte sich, die peinliche kleine Pause zu überbrücken. „Na, Misako? Gibt’s Probleme?“

Ihre dunklen Augen sahen auf, und sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich wollte nur den ersten Ausdruck vorlegen.“

Überrascht kam er auf sie zu. „Der ist schon fertig? Wie lange sind Sie denn gestern noch geblieben?“

Er nahm die Unterlagen entgegen. Dabei berührten sich ihre Hände, und es gab einen leichten elektrischen Schlag. Beide zuckten zusammen, um gleich darauf ein wenig verlegen zu lachen. Nun wich er ihrem Blick aus und ging zum Schreibtisch. „Ich sehe es mir gleich mal an.“

Sie wandte sich zum Gehen. „Gut, dann mache ich mich an die Tabellen.“

Irritiert blickte er ihr nach. Sie trug ein dunkles Nadelstreifenkostüm mit einem engen, knapp knielangen Rock. Ihre Kleidung hatte nichts Provozierendes an sich, dennoch nahm er zum ersten Mal den attraktiven Widerspruch wahr, den ihre mädchenhaft zierliche Erscheinung in Verbindung mit ihrem verhalten-fordernden Blick einerseits und ihrer sachlichen Kühle andererseits darstellte. Verwirrt versuchte er, sich auf die vor ihm liegenden Unterlagen zu konzentrieren, was ihm nicht sofort gelang.

Clara lief unruhig zwischen Küche und Esszimmer hin und her. Zum vierten Mal in den letzten fünfzehn Minuten sah sie auf die Uhr. Lukas hatte sie angerufen und ihr vor einer Stunde mitgeteilt, dass er mit Matts Mutter Helen nach Hause käme. Das wäre gar kein Problem, und so müsste sie, Clara, nicht auch noch losfahren. Aber wo blieb er jetzt nur? Er konnte doch unmöglich noch spielen gegangen sein! Das würde er nicht tun, ohne ihr Bescheid zu sagen! Claras Nervosität stieg. Und wenn etwas geschehen war? Sie blickte aus dem Küchenfenster auf die stille Vorortstraße. Nichts. Sie wanderte ins Wohnzimmer und sah aus dem riesigen Panoramafenster auf den See. Manchmal mochte sie diese ganze beeindruckende Natur nicht mehr sehen, alles schien äußerlich so heil und ruhig, aber sie wusste, wie sehr dieser Schein trügen konnte. Unruhig bearbeiteten ihre Nägel die zerfetzte Haut an ihren Nagelbetten. Wieder einmal bemerkte sie davon nichts. Als sie ein weiteres Mal auf die Uhr sah, hielt sie es nicht mehr aus. Sie lief in den Flur, griff nach dem Schlüsselbund und verließ das Haus. Auf dem Weg zu Matts Eltern strich sie sich ihre Haare zurück, atmete ein paarmal tief durch und versuchte, ruhiger zu werden.

Lukas hörte mit offenem Mund Matts Großvater Tony zu, der einmal mehr eine Geschichte seiner Vorfahren zum Besten gab. Der Junge freute sich immer sehr, wenn der alte Herr, der Witwer war und offenbar viel Zeit hatte, zu Besuch war. Seine Erzählungen aus der Zeit der frankokanadischen Einwanderer, die monatelang mit Rindenkanus in die Wildnis vordrangen und Tauschhandel mit den Indianern und Trappern betrieben, faszinierten ihn umso mehr, als dass die jüngsten dieser „Voyageurs“ oft nur wenig älter gewesen waren als Matt. Die Freiheit und die Abenteuer, die diese Jungen hatten erleben können, mussten unbeschreiblich gewesen sein. Matts Großvater erzählte so lebendig, dass Lukas ihm für sein Leben gern auch über eine lange Zeit zuhörte.

Tony Dupuis beugte sich zu den Jungen vor. „Also, Lukas, wo waren wir letztes Mal stehen geblieben?“

Lukas antwortete wie aus der Pistole geschossen: „Beim Winter und den vereisten Flüssen.“

„Richtig! Alle Voyageurs im Winterlager wurden schon unruhig, denn der Frühling ließ sich in jenem Jahr besonders viel Zeit. Bevor aber nicht das Eis auf den Flüssen aufbrach, kamen sie nicht voran. Alle gingen ihren Aufgaben nach. Einige kümmerten sich im Pelzlager um die Pelze, die regelmäßig gelüftet und gewendet werden mussten. Diese Pelze stellten schließlich das Kapital der Männer dar; sozusagen ihr Einkommen. Von ihrem Verkaufserlös konnten sie sich Vorräte, Waffen, Munition oder Kochgeschirr leisten. Andere fertigten für die Unterkünfte ihres Forts Möbel an, einfache Holzbänke und –tische, oder sie gingen auf die Jagd oder zum Eisfischen, wieder andere sorgten für ausreichend Feuerholz, denn jedes kleine Blockhaus innerhalb des Forts wurde mit einem Kamin beheizt.“ Tony rollte mit den Augen. „Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie kalt es da oben im Winter manchmal wurde, minus dreißig Grad und mehr. Die Kälte war mitunter so schneidend, dass ein aufmerksamer Fortleiter, also einer, der sich eben auskannte, jegliche körperliche Arbeit im Freien untersagte, denn die eisige Luft war an bestimmten Tagen durchaus in der Lage, die Lungen der Männer so zu zerstören, dass sie später Blut husteten und elendig sterben mussten.“ Tony machte eine Pause und zog an seiner Pfeife, während die Jungen ihn gespannt ansahen.

Lukas legte sich auf den Bauch und stützte das Kinn auf die Hände. „Waren auch Frauen und Kinder in solchen Forts? Und gab es dort eine Schule?“

Tony lächelte. „Nein, eine Schule gab es da nicht, und Frauen und Kinder waren an solchen Orten eher selten. Vielleicht die Familie des Fortleiters.“

Lukas runzelte die Stirn. „Warum gab es denn so wenige Frauen da?“

„Nun, die Voyageurs waren immer Männer. Jeder von ihnen musste während der langen Reisen im Kanu in der Lage sein, die Frachtballen – ich meine die wasserfest eingewickelten Waren – während der Überführungen, also der Wege von Fluss zu Fluss, der sogenannten Portagen, zu tragen.“ Tony strich Lukas über den Kopf. „Weißt du, Lukas, die Flüsse dienten zwar damals als Verkehrslinien, waren aber längst nicht so wie heute unsere Straßen. An einigen Punkten mussten die Männer also das Wasser verlassen, eine bestimmte Strecke – bergauf oder bergab durch die Wälder oder Berge – bis zum nächsten Fluss zu Fuß hinter sich bringen. Dabei musste jeder Mann mindestens zwei Frachtballen schleppen, von denen schon ein einzelner vierzig Kilo wog.“

„Oh, wow!“ Lukas machte große Augen, und Tony nickte bestätigend.

„Hmm. Und das bei jedem Wetter: in strömendem Regen, bei glühender Hitze mit angriffslustigen Mückenschwärmen oder bei Sturm. Nur Schnee oder Eis konnten die Voyageurs aufhalten.“

Matt sah seinen Großvater nachdenklich an. „Aber wieso waren die denn so wahnsinnig lange unterwegs, Grandpa? Ich meine zwar, es ist schon klar, dass es damals alles etwas länger dauerte, aber so lange? Monatelang? So lange, dass sie die Hin- und Rückreise nie im gleichen Jahr schafften?“

Tony schüttelte missbilligend den Kopf. „Matt, ihr könnt das nicht mit der heutigen Ausrüstung einer Forschungsexpedition à la ‚Jurassic Park’ vergleichen. Und selbst mit besserer Ausstattung bleibt die Entfernung dieselbe. Die damalige Pelzroute zwischen Montreal bis zum Fort Chipewyan am Lake Athabasca ist fast fünftausend Kilometer lang. Auf ihr mussten etwa einhundertzwanzig Überführungen gemeistert werden. Diese Strecken über Land, auf denen das große Kanu und die Frachtballen geschleppt werden mussten, gingen über Pfade, die oft erst in die Wildnis geschlagen werden mussten, durch Sümpfe, Schlamm oder Sand. Die schwerbepackten Männer hatten auf Baumwurzeln, Steine oder Felsen zu achten, denn wer sich so weitab von jeglicher Zivilisation die Knochen brach oder schwer verletzte, hatte schlichtweg verloren, denn bei Entzündungen konnten die einfachsten Verletzungen tödlich enden.“

„Hallo, Helen.“ Clara knetete nervös ihre Hände. „Ist Lukas noch bei Ihnen?“ Fahrig wanderte ihr Blick von Helen in die hinter ihr liegende Diele. „Er wollte um vier zu Hause sein. Ich mache mir Sorgen.“

Helen lächelte freundlich. „Hallo, Clara. Alles ist gut, kein Grund zur Sorge! Die Jungen sind hinten im Garten. Als sie den Wagen meines Schwiegervaters gesehen haben, waren beide nicht mehr zu halten. Matts Großvater erzählt ihnen wohl eine seiner Geschichten.“ Sie trat beiseite. „Kommen Sie doch herein.“ Sie sah auf die Uhr. „Zwanzig nach vier. Die Jungs haben bestimmt die Zeit vergessen. Mögen Sie einen Tee?“

Clara war innerlich aufgebracht. Wieder einmal hatte Lukas sich nicht an die vereinbarte Zeit gehalten! Sie hatte keine Lust auf nachbarschaftliches Geplauder, war sich aber bewusst, dass es unhöflich gewesen wäre, abzulehnen. Also zwang sie sich zu einem Lächeln. „Gerne. Ich möchte aber nicht stören.“

Helen bemerkte die Anspannung ihrer Nachbarin, überging sie aber und zwinkerte freundlich. „Ich bin gerade beim Bügeln. Da ist mir jede Ablenkung willkommen.“ Sie schaltete das Bügeleisen aus und ging in die Küche.

Ein großes Wohnzimmerfenster gab den Blick in den Garten frei, und Clara sah Matt und Lukas unter einem alten Baum im Gras sitzen, während ein weißhaariger Mann mit gestutztem Vollbart von einer Holzbank aus zu ihnen sprach. Er gestikulierte wild mit den Armen und Händen und schien die beiden Jungen auch mit seiner lebhaften Mimik zu fesseln. Weiter hinten auf dem Rasen spielte Matts Schwester Rose mit einer Freundin. Die beiden versuchten, den kleinen Hund der Freundin dafür zu begeistern, in einem niedrigen Puppenwagen sitzen zu bleiben. Clara nahm diesen entspannten Gesamteindruck eines friedlichen Nachmittags zur Kenntnis und wurde sich erst recht ihrer eigenen Verkrampfung bewusst. Unruhig zupften ihre Fingernägel wieder einmal an den Ecken der Nagelbetten. Als Helen mit dem Tee hereinkam, versenkte Clara rasch ihre Hände in den Hosentaschen.

Helen stellte Tassen und die Kanne auf dem Couchtisch ab. Wieder fiel ihr auf, wie nervös Clara war. Sie überlegte, woran das liegen konnte, entschied sich aber zunächst dafür, sich einfach nichts anmerken zu lassen. „Kommen Sie, wir nutzen die Zeit, in der die Kinder so friedlich beschäftigt sind, und genießen unseren Tee.“

Clara nahm ihr gegenüber in einem Sessel Platz. Sie trank einen Schluck Tee und wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie wollte aber nicht unhöflich oder verstockt wirken, und so gab sie sich einen Ruck und bemerkte: „Lukas ist sehr gern bei Ihnen. Hoffentlich wird er Ihnen nicht zu viel.“

„Oh, nein, wir haben ihn auch gerne hier! Matt und Rose sind ganz begeistert, dass Sie mit ihm hierhergezogen sind. Es gibt nicht viele Kinder in dieser Gegend. Die meisten Leute haben hier doch schon erwachsene Kinder.“ Sie stellte ihre Tasse wieder ab und sah Clara freundlich an. „Haben Sie sich denn schon eingelebt? Sicher ist so ein großer Wechsel von einem Kontinent zum anderen nicht sehr einfach.“

Clara schluckte. Ihr Blick ging unwillkürlich zu Lukas in den Garten, der gerade aus vollem Halse lachte. Frank war natürlich noch im Büro, und im Grunde kam es ihr sehr deutlich so vor, als ob sie die Einzige in der Familie wäre, für die dieser Wechsel nicht einfach war. „Nun, Sie sehen ja, wie gut Lukas klarkommt. Natürlich fehlen ihm seine Großeltern und seine alten Freunde manchmal, aber alles in allem fühlt er sich sehr wohl. Auch in der neuen Schule kommt er gut klar.“

Helen nickte bestätigend. „Das ist schön.“ Sie beugte sich ein wenig vor, ihr Blick spiegelte aufrichtiges Interesse. „Und wie geht es Ihnen? Fühlen Sie sich hier auch wohl?“ Als sie Claras erschreckten Gesichtsausdruck sah, milderte sie ihre deutliche Frage ab. „Ich meine, finden Sie sich zurecht? Wissen Sie, wo Sie was kaufen und finden können? Oder kann ich Ihnen vielleicht irgendwelche Tipps geben?“

Clara schüttelte den Kopf. „Das ist nett von Ihnen, aber es ist alles bestens.“ Sie stand auf und ging zum Fenster. „Sie haben einen schönen Garten, Helen.“ Sie deutete in Richtung eines Ahornbaumes. „Ist das dahinten ein Kräutergarten?“

Helen war ebenfalls aufgestanden. „Ja. Interessieren Sie sich dafür? Wir können ihn gern einmal ansehen.“

Clara war froh über die Wendung, sie fühlte sich im Haus eingeengt, also nickte sie zustimmend. „Gerne.“

Als Lukas sie entdeckte, ging sein erster Blick unwillkürlich zu seiner Armbanduhr, und er setzte ein schuldbewusstes Gesicht auf. „Mama … tut mir leid, ich hab gar nicht auf die Zeit geachtet.“

Helen winkte den Kindern zu. „Ihr könnt noch einen Moment weiterspielen. Ich zeige Lukas’ Mom noch den Kräutergarten.“

Clara lächelte Lukas an und entspannte sich ein wenig. Sie entdeckte einige wohlbekannte Kräuter, daneben aber auch viele, die sie noch nie gesehen hatte, und so erkundigte sie sich danach.

Helen plauderte unbefangen. „Viele der Küchenkräuter kennen Sie ja, die anderen dort drüben finden allerdings in der indianischen Heilkunst Verwendung. Meine Großmutter wusste eine Menge auf diesem Gebiet und hat mir viele Dinge beigebracht.“ Helen wurde nachdenklich. „Sie hat immer befürchtet, dass die indianischen Lehren einmal untergehen werden. Als ich Jack geheiratet habe, fühlte sie sich einmal mehr in ihren Ängsten um den Untergang ihres Volkes bestätigt.“ Helen sah in die Ferne. „Nicht dass ihr mein Mann nicht sympathisch gewesen wäre, aber sie glaubte, er würde nicht zulassen, dass seine Kinder einmal an der indianischen Kultur teilhaben könnten.“ Sie lächelte Clara zu. „Aber sowohl mein Mann als auch ich meinen, dass man seine Wurzeln kennen sollte.“

Clara gefiel, was sie hörte. „Das kann ich verstehen. Und? Bekommen Sie das hin?“ Sie machte eine allumfassende Handbewegung vom Haus über den Rasen zum Kräutergarten. „Ich meine diesen Spagat zwischen der modernen kanadisch-nordamerikanischen und der alten indianischen Kultur?“

Helen ließ sich auf einer kleinen Holzbank am Rande der Kräutersammlung nieder, und Clara setzte sich neben sie. Helen hatte ein wenig von dem bereits zum zweiten Mal blühenden Lavendel gepflückt und zupfte daran herum. „Mal gelingt es leichter, dann wieder gibt es Phasen, wo es unmöglich erscheint. Matt kommt jetzt in ein schwieriges Alter. Er hinterfragt alles und jedes und orientiert sich sehr an der breiten Masse seiner gleichaltrigen Klassenkameraden.“ Helen seufzte. „Die Jungs in dem Alter stehen natürlich mehr auf die neuesten PC-Ego-Shooter-Spiele und Rap als auf alte Familientraditionen und das Eins-sein-mit-der-Natur …“

Clara lächelte verständnisvoll. Zum ersten Mal seit Wochen hatte sie ihre eigenen Probleme vergessen. „Das kann ich mir vorstellen, aber es gefällt mir, dass Sie trotzdem versuchen, beides zu vermitteln.“ Sie verzog spöttisch die Augenbrauen. „Und: Traditionen hin oder her, die PC-Ballerspiele stehen bei den Eltern in keiner Kultur sehr weit oben.“

Helen lachte und streckte ihr die Lavendelzweige entgegen. „Hoffentlich.“

Sie stand auf. „Kommen Sie, ich zeige Ihnen auch noch meinen Vorrat an getrockneten Kräutern.“

Die beiden Frauen waren so in ihr Gespräch vertieft, dass sie gar nicht bemerkten, wie die Zeit verging. Irritiert sah Clara auf, als plötzlich ein Mann neben der Holzbank erschien, auf der Helen diverse Kräuter in unterschiedlichen Trocknungsphasen ausgebreitet hatte und ihr erklärte.

Überrascht sprang Helen auf und lachte. „Oh, hallo, Schatz. Du bist ja schon da.“

Der Mann grinste und gab ihr einen Begrüßungskuss.

Helen deutete auf Clara. „Jack, seid ihr euch schon begegnet? Das ist Clara Jensen, unsere neue Nachbarin, sie ist die Mutter von Lukas.“

Er zwinkerte freundlich, während er Clara die Hand gab. „Hallo, Clara. Von Weitem gesehen haben wir uns ja schon. Schön, dass wir uns endlich kennenlernen.“

„Hallo, Jack, ich freue mich auch.“ Clara erwiderte sein Lächeln und versuchte, eine plötzlich aufsteigende Verlegenheit zu überspielen. Jack Dupuis war ein ausgesprochen gut aussehender Mann. Etwa Mitte vierzig, mit ehemals dunklem Haar, das mittlerweile von einem deutlichen silbergrauen Anteil durchzogen war. Unter dunklen Brauen lagen wache, leuchtend grüne Augen. Eine schmale gerade Nase passte gut in sein kantiges Gesicht, nur der weiche, fast sensibel wirkende Mund war schwer mit dem asketisch-harten Äußeren und dem Dreitagebart, den er trug, zu vereinbaren.

Clara sah auf die Uhr. „Oh, schon so spät! Lukas und ich müssen rüber, wir wollten noch ein Päckchen für meine Eltern zusammenpacken.“

Die drei wandten sich dem Garten zu und beobachteten einen Moment lang die spielenden Kinder mit ihrem Großvater. Jack hatte einen Arm um Helens Schultern gelegt, und Clara, die seitlich hinter den beiden stand, betrachtete das Paar verstohlen. Erst jetzt wurde ihr richtig bewusst, dass auch Helen ausgesprochen attraktiv war. Ihr schwarzes glänzendes Haar war zu einer Art Mozartzopf geflochten, der ihr auf dem Rücken bis zwischen die Schulterblätter reichte. Ihr Gesicht mit den großen dunkelbraunen Augen verriet über die breiten Wangenknochen zwar eine gewisse Exotik, aber Clara hätte zweifellos nicht sofort ihre indianischen Wurzeln erkannt. Ihre Haut war sehr hell und zart, und ihre Augen strahlten vor Glück, während sie ihre Familie beobachtete. Clara empfand innerlich einen winzigen Stich, der ihr bewusst machte, dass ihr eigenes Familienglück seit der Entführung nicht mehr in einer so fröhlich-unbeschwerten Form existierte. Sie schluckte und rief dann nach Lukas. Der Junge sprang auf und kam auf sie zugelaufen. „Mama, Matts Großvater kann so toll Geschichten erzählen, das glaubst du nicht!“

Er bemerkte erst jetzt Matts Vater. „Oh, hallo, Jack.“ Die beiden begrüßten sich fast schon kumpelhaft-vertraut, und Clara drängte zum Aufbruch, sie mochte den familiären Feierabend ihrer Nachbarn nicht länger verzögern.

„Lukas, wir müssen nach Hause. Papa wird bestimmt auch bald kommen.“

Lukas zog ein Gesicht. „Ach, der kommt eh immer so spät.“

Sie gingen über den Rasen zum Haus zurück und trafen auf den Großvater von Matt und Rose. Helen stellte ihn vor. „Clara, das ist mein Schwiegervater, Tony Dupuis.“ Sie lächelte. „Er ist derjenige, der die Jungen stundenlang mit den Erzählungen seiner Vorfahren fesselt. Bei den Indianern hätte er sicherlich als bedeutender Geschichtenerzähler Karriere gemacht.“

Der alte Mann lachte, und um seine strahlend grünen Augen bildete sich ein Kranz feiner Fältchen. „Helen übertreibt maßlos. Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Clara. Mir ist Lukas schon jetzt richtig ans Herz gewachsen.“

Die Macht der Zeit

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